August 2011

01. August 2011
Kurz vor Ende des Tages besuchen mich zwei türkische Mitbürgerinnen. Eine von beiden spricht nicht wirklich deutsch, lebt aber schon etwa 20 Jahre in Deutschland. Ihren Lebenslauf erstellen wir, ohne wirkliche Angaben. Sie erscheint wie jemand aus einer völlig anderen Welt. Sie hat ein paar wenige Daten auf einen Zettel geschrieben, kann aber offensichtlich nicht richtig schreiben. Lediglich fünf Jahre Schule kann sie vorweisen. Der Rest ihres Lebens setzt sich aus drei Hilfstätigkeiten und Arbeitslosigkeit zusammen. Wenn das kein vollkommen hoffnungsloser Fall ist, wer dann? Was ist nur in diesem Land alles verkehrt gelaufen?


02. August 2011
Vor mir sitzt ein junger Mann, der im Oberkiefer nur auf der rechten Seite Zähne hat. Gestern saß jemand vor mir, der nur auf der linken Seite Zähne hat. Ich überlege, ob man aus den beiden nicht eine Person mit vollständigem Gebiss herstellen kann. Oder ob die beiden sich die Zähne nicht irgendwie teilen können. Im wöchentlichen Wechsel oder so. Leider fällt mir keine Lösung ein und so verwerfe ich den Gedanken nach einer Weile wieder. Der Besucher bekommt seine Bewerbungsunterlagen, macht sich auf den Weg und ich lese “Das Versprechen”.
Am Nachmittag findet die erste Teamsitzung statt. Ich lege meine Tasche auf den Tisch. Eine Ameise klettert heraus. Ich frage mich, was die in meiner Tasche zu suchen hatte und wo sie jetzt hin will. Scheinbar weiß sie es auch nicht, denn sie läuft ziellos auf dem Tisch herum. Das irritiert mich etwas, weil ich nicht gleichzeitig die Ameise beobachten und der Teamsitzung meine Aufmerksamkeit schenken kann. Ich befördere die Ameise auf den Boden und verliere sie nach kurzer Zeit aus den Augen. Die Mitarbeiterin aus Bergkamen passt irgendwie nicht zu ihrem Körper. Sie ist viel zu wenig agil, körperlich und geistig, um ihrem Körper gerecht zu werden. Außerdem trägt sie einen Oberlippenflaum. Das gefällt mir alles nicht. Ich stufe sie auf meiner Liste um zweiundzwanzig Plätze nach hinten.
Ab dem 01. September soll ich einen Mitarbeiter bekommen. Das Ganze nennt sich Bürgerarbeit, irgendeine neumodische Erfindung von weisen Menschen, die nur Scheiße im Kopf haben. Dieser Bürger bekommt ganz tolle Aufgaben und soll sich um die Onlinebewerbungen kümmern. Das heißt, dass ich, nachdem ich Bewerbungen für jemanden geschrieben habe, diese auf einen USB-Stick kopiere, an den Bürgerarbeiter übergebe und er sie dann als Mail verschickt. Das ist wirklich sinnvoll und eine unglaubliche Erleichterung für mich. So muss ich gar nicht mehr aufstehen. Seine zweite Aufgabe wird es sein Arbeitslosentreffs zu organisieren. Wöchentlich. Ich kann nur hoffen, dass diese Treffen nicht in meinem Büro stattfinden. Die dritte Aufgabe dieses Bürgerarbeiters wird die Förderung des Ehrenamtes sein. Ich bin schon sehr gespannt, wie er das machen wird. Ich frage, ob ich mir den Bürger selber aussuchen darf. Darf ich nicht. Teamsitzung vorbei.


03. August 2011
Im Büro erledige ich den Papierkrieg. Sortieren, abheften, abhaken. Mein nächstes Seminar ist am 09. September 2011. Titel: Die AWO – Dein Arbeitgeber. Dort wird mir vermittelt, wie sozial mein Arbeitgeber ist. Wie sozial er ist, sehe ich an meinem üppigen Gehalt, da brauche ich nicht noch extra ein Seminar belegen. Und eine Unterweisung nach BGV A1 (lutsige Abkürzung) kommt auch bald auf mich zu. Darauf freue ich mich ebenfalls schon sehr.
Die erste Besucherin des Tages ist völlig verschnupft und ich bin angewidert. Warum bleibt sie mit ihrer Triefnase nicht zu Hause? Ich versuche, möglichst großen Abstand zu halten und gebe ihr selbstverständlich nicht die Hand. Direkt nachdem sie das Büro wieder verlassen hat, tränke ich meine Hände in Desinfektionslösung. Danach verteile ich die Desinfektionslösung auf den Türgriffen und gehe mir ausgiebig die Hände waschen. Widerlich.
Der nächste Besucher ist witzig. Er denkt, dass ich ihm bei der Berufssuche helfe, weil die vom Jobcenter ihm gesagt und geschrieben haben, dass ich das hier mache. Ich erkläre ihm, dass für die Berufsfindung die Jobcenter zuständig sind. Er soll sich von denen in eine Maßnahme stecken lassen und wenn er weiß, als was er sich bewerben will, soll er wiederkommen. Ich bin keine Berufsberatung, überlege aber ernsthaft, ob ich das nach dieser Karriere nicht machen sollte. Allerdings nur mit gesunden und unverseuchten Menschen.


Blut und BMI
Im Zuge einer ausführlichen Blutuntersuchung, um eine Ursache für meine miese Stimmung zu finden, werde ich auch gewogen. Auf einer sehr interessanten Waage. Am Ende gibt die Waage folgende Informationen: BMI: 19,6 (Untergewicht). Fett 10,2%. Wasser 64,4%. Muskeln: 45,0%. Angeblich drei Top-Werte. Mir gefällt der Muskelwert nicht. 45% sind eindeutig zu wenig. Für mein Untergewicht höre ich mir nächsten Mittwoch einen Vortrag über Ernährung an. Laut meiner Ärztin ist es verdammt schwer zuzunehmen und erfordert eine Menge Disziplin. Außerdem kostet die Teilnahme an so einem Ernährungskurs 330€. Das ist mehr als ein Drittel meines monatlichen Einkommens und somit unbezahlbar. Ist schon echt Scheiße, wenn man unterbezahlt und untergewichtig ist.


04. August 2011
Gelegentlich nutze ich die Zeit, um die Menschen, die sich von mir Bewerbungen schreiben lassen, im Internet zu suchen. Die Frau, die heute um 10.00 Uhr einen Termin hat, finde ich recht schnell im Internet. Sie ist 24 Jahre alt und schreibt folgendes als ihr Lieblingszitat: Lebe deinen Tag ob währe er der letzte!!!” Das finde ich sehr schön. In Ihrem Lebenslauf, den sie tatsächlich so abschickt, steht “Seit 1996 – Einreise nach Deutschland.” Ich frage mich, wann sie endlich mit der Einreise aufhört und hier ankommt. Und so jemand hat die Fachoberschulreife mit Qualifikation. Was für eine Qualifikation soll das sein? Die Qualifikation unendlich lange einzureisen? Was ist das nur für eine kranke Welt? Ich kann es kaum erwarten, sie hier zu begrüßen. Doch leider erscheint sie nicht zu ihrem Termin. Vermutlich reist sie gerade nach Deutschland ein und kann deshalb nicht.


05. August 2011
Am Ende der fünften Woche habe ich 2 kg abgenommen. Das wäre nicht schlecht, wenn ich abnehmen wollte. Will ich aber nicht. Für mich bedeuten diese 2 kg weniger, dass ich weiter untergewichtig bin. Noch ein Kilo, dann sehe ich wieder aus wie ein Totenkopfäffchen. Logischerweise bin ich daran nicht interessiert. Doch was kann ich dagegen tun? Wenn ich alle fünf Wochen zwei Kilo verliere, wie sehe ich dann Ende des Jahres aus? Vermutlich muss ich dann von einem Pfleger ins Büro gebracht oder gar künstlich ernährt werden. Keine schöne Vorstellung.


08. August 2011
Regelmäßig bringen Frauen ihre Kinder mit ins Büro. Ich ignoriere die Kinder so gut ich kann, denn ich kann mit diesen kleinen Menschen nichts anfangen. Der sechsjährige Junge, der heute mit seiner Mutter zu mir gekommen ist, lässt sich allerdings nicht wirklich ignorieren. Er schafft es sogar, mich dazu zu bringen, mit ihm zu reden. Währenddessen redet gleichzeitig seine Mutter auf mich ein. Sie ist etwas wütend auf einige Mitarbeiter des Jobcenters und lässt ihrer Wut hier ihren Lauf. Ich kann mich nicht für Frauen begeistern, die so viel reden. Dabei hat die Frau nicht einmal die schlechtesten Anlagen. Sie ist 35 Jahre, schlank und hat insgesamt eine ansprechende Figur. Dummerweise hat sie keinen Geschmack, was ihre Kleidung angeht. 3/4- Hosen in Pink sind einfach geschmacklos. Und der Rest sieht auch eher nach Kik als nach schick aus. Um ihren Redefluss zu unterbrechen, lege ich ihr die Einverständniserklärung zur Speicherung ihrer Daten vor. Will sie nicht unterschreiben. Ich soll ihre Daten löschen. Ich sage ihr, dass sie dann nicht wiederkommen darf, weil ich keine Lust habe, jedes Mal alles neu zu schreiben. Und siehe da, die Ansage funktioniert und sie unterschreibt artig. Als sie wenig später aufsteht, um das Büro zu verlassen, will ich schon durchatmen. Doch dazu kommt es nicht, weil sie noch den Rest ihres Frustes loswerden muss. Während sie schimpft, denke ich darüber nach, ob man ihren Körper nicht an eine Frau, die weniger nervt, montieren kann. Glücklicherweise merke ich schnell, dass solche Gedanken absurd sind und denke stattdessen darüber nach, wie sie auf die Idee gekommen ist, sich so zu kleiden. Erst als sie die Tür hinter sich schließt und dabei sagt, dass wir uns bald wiedersehen, kann ich aufhören mir Gedanken über all die Sachen zu machen. Ein Wiedersehen finde ich übrigens unnötig.
Weil danach nix mehr passiert, überlege ich, was ich tun kann. Mir fällt der Kuchen im Kühlschrank ein. Und so öffne ich den Kühlschrank und schneide mir ein Stück vom geschenkten Marmorkuchen ab. Dieses Stück Kuchen verspeise ich genüsslich in meinem Büro. Doch weil man nicht auf einem Bein stehen kann, lasse ich mir anschließend ein zweites Stück Kuchen schmecken. Das hab ich mir verdient.


09. August 2011
Der Dienstag ist ein typischer Sommertag. Die Temperatur ist konsequent im Bereich von 18°. Im Büro ist es etwas frisch und ich muss immer wieder meine Jacke anziehen. Zwei Termine habe ich heute. Den ersten um 09.30 Uhr. Nach etwa zehn Minuten ist der Termin erledigt. Bis zum nächsten Termin um 15.00 Uhr werde ich alleine in meinem Büro verweilen. Ich lese “Die neue Medizin der Emotionen”, ziehe meine Jacke aus und wieder an und lege mich auf einen der Schreibtische, weil ich glaube, dass es bei meinen Verspannungen hilft. Zwischendurch gönne ich mir ein Stück Kuchen. Soziale Kontakte pflege ich erneut keine, gehe nicht auf die andere Seite des Gebäudekomplexes, um dort mit den Kollegen zu sprechen, sondern gucke lediglich ab und zu aus dem Fenster, um die beiden Frauen im Büro gegenüber zu beobachten. Von meinem Fenster aus betrachtet machen die beiden einen attraktiven Eindruck. Dunkle Haare, gute Figur. Ich setze sie, ohne sie wirklich gesehen zu haben, auf meine Liste. Auf die Plätze 32 und 33. Damit sind sie in diesem Leben kein Thema mehr. Ich bin zufrieden und widme mich wieder meinem Buch.


10. August 2011
Am Mittwoch habe ich exakt eine Besucherin. 22 Jahre, schlank mit entzückendem Hintern. Das knackige Hinterteil ist herrlich anzuschauen. Die Frau interessiert mich aber als Gesamtkunstwerk nicht, weshalb ich auf Small Talk verzichte.
Acht Stunden größtenteils alleine in einem Büro zu sitzen, können verdammt langweilig und ermüdend sein. Gegen 15.00 Uhr nehme ich mir einen Besucherstuhl und stelle ihn mitten ins Büro. Wenige Sekunden später sitze ich auf dem Stuhl und starre Richtung Tür. Dann schlafe ich kurz ein. Als ich wieder zu mir komme, gehe ich zum hinteren Schreibtisch, setze mich, lege meinen Kopf auf den Schreibtisch und döse bis kurz vor Arbeitsende vor mich hin.


Blutwerte und Ernährung
Am Mittwoch ist das Wetter ausgesprochen gut. Doch anstatt mit Manni gemütlich in einem Biergarten zu sitzen, gehe ich zu der Veranstaltung über Ernährung.
Bevor die Veranstaltung beginnt, bekomme ich die Auswertung meiner Blutwerte. Ein Wert ist zu hoch. Zu viel Bilirubin. Liegt daran, dass bei mir vor vielen Jahren Morbus Meulengracht festgestellt wurde. Ist wohl ungefährlich. Drei andere Werte sind zu niedrig. Vitamin D, Transferrin und Lymphozyten automatisch. Leider wird mir nicht mitgeteilt, was Transferrin und Lymphozyten automatisch zu bedeuten haben. Vielleicht liegt es ja an meinem Alter, dass diese Werte zu niedrig sind. Oder auch an der Umweltverschmutzung. Mein zu niedriger Vitamin D-Wert wird ab sofort mit Tabletten in Ordnung gebracht. Sehr schön.
Die Info-Veranstaltung ist gut besucht. Alte und junge Menschen, dicke und dünne. Doch schnell wird klar, dass ich meine Zeit besser woanders verbracht hätte, denn hier geht es eigentlich nur um die dicken Menschen. Kein Wort darüber, wie man mit der Ernährung zunehmen kann. Alles dreht sich ums abnehmen. Am Ende der Veranstaltung wird der Preis für eine Teilnahme am Ernährungsprogramm genannt. Dazu gibt es ein paar Buchtipps. Den Preis kenne ich schon und die empfohlenen Bücher interessieren mich nicht wirklich. Die ersten Damen verlassen nun die Veranstaltung. Sie wollen nichts mehr hören, was ich gut verstehen kann. Ein paar der Besucher stellen einige Fragen, die mich aber auch nicht weiterbringen. Noch immer will ich nicht abnehmen, weil ich das in letzter Zeit schon zur Genüge getan habe. Als der Spuk kurze Zeit später vorbei ist, schnappe ich mir zwei Werbegeschenke, einen Block und einen Kugelschreiber, um nicht völlig umsonst hier gewesen zu sein. Auf dem Weg nach Hause fällt mein Telefon runter und geht kaputt. Passt perfekt zu diesem Abend.


Zwei Tage ohne Mobiltelefon
Nachdem ich in den letzten zwölf Jahren immer ein Mobiltelefon hatte, muss ich nun ohne auskommen, was in der Tat ungewohnt ist. Zunächst einmal schreibe ich allen Leuten, mit denen ich regelmäßig per SMS kommuniziere, eine Mail, dass ich per Mobiltelefon nicht mehr zu erreichen bin. Nur die Hälfte der Empfänger reagiert auf meine Mail. Alle anderen schreiben, zumindest gehe ich davon aus, weiter fleißig SMS oder wundern sich, dass sie nix mehr von mir hören. Meine Versuche, telefonisch Kontakt aufzunehmen scheitern größtenteils, weil ich die Telefonnummern der anderen nicht im Kopf, sondern auf meinem Mobiltelefon gespeichert habe. Erschreckend, wie abhängig ich mich von diesem Teil gemacht habe.
Obwohl es nicht wirklich sein kann, höre ich es ständig irgendwo klingeln. Beim Fernsehen, beim Musikhören, ständig denke ich, dass ich eine SMS bekomme oder angerufen werde. Phantomklingeln ist eine üble Sache. Ob es da Therapien gibt? Eine weitere Abhängigkeit fällt mir bei einem Spaziergang auf. Normalerweise würde ich jetzt irgendwem schreiben, dass ich bei dem schönen Wetter spazieren gehe. Völlig unnötige Mitteilungen, aber ich mache es tatsächlich so. Ich schreibe regelmäßig solch banale SMS. Unglaublich. Ich weiß nicht, ob ich mir deshalb Sorgen machen sollte, oder ob es völlig normal ist, dass Menschen, in diesem Fall ich, so etwas tun. Da ich aber kein Mobiltelefon habe, muss ich den Impuls, diese immens wichtigen Nachrichten zu verschicken, unterdrücken. Bringt ja nix.

Als mir der Loerz nach zwei Tagen ein Mobiltelefon leiht, kann ich endlich wieder geistreiche und unfassbar informative Nachrichten verschicken. Und so manches Klingeln, was ich vernehme, ist ab sofort wieder real und für mich bestimmt. Ach, ist das herrlich, wenn man ein Mobiltelefon hat.


11. August 2011
Am Nachmittag ruft mich der Ehrengast an und fragt, wann er von Bergkamen nach Hamm fahren muss, um pünktlich um 11.00 Uhr zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Ich kann ihm lediglich sagen, dass er etwa 90 Minuten unterwegs sein wird. Dann soll ich mit Hilfe einer Hausnummer die Straße herausfinden. Ich sage ihm, dass das nicht geht. Als nächstes fragt er, ob ich mit Hilfe der Telefonnummer die Straße herausfinden kann. Ich sage ihm, er soll einfach dort anrufen und nach der Straße fragen. Was geht nur in seinem wirren Köpfchen vor? Kurze Zeit später ruft er wieder an, sagt mir den Straßennamen und möchte, dass ich ihm die Busverbindung raussuche. Wir einigen uns darauf, dass er morgen wieder anrufen darf und ich ihm dann sage, wann er los muss. Das entwickelt sich hier langsam zu einem Betreuungsjob. Der Ehrengast ist wirklich ein ganz besonderer Fall. Ich verstehe nicht, dass er ohne Betreuer durch die Welt laufen darf. Er kommt ständig und vermutlich sogar gerne her, um sich irgendwelche Briefe schreiben zu lassen, weil er überall Probleme hat und alle belästigen muss. Bei seinem ersten Besuch dachte ich noch, dass er ein Besucher wie viele ist. Da habe ich mich wohl geirrt. Der Ehrengast ist nämlich ein ganz besonderer Gast.


12. August 2011
Die letzte Besucherin am Freitag hat viel zu erzählen. In fast eineinhalb Stunden schaffen wir es deshalb nicht, ihre Bewerbungsunterlagen komplett zu erstellen. Dafür zeigt sie mir Hundefotos, erklärt mir ein paar Verhaltensregeln gegenüber Hunden und teilt mir mit, dass sie am Dienstag wiederkommt. Vielleicht mit Hund, weil ich diesen Wunsch geäußert habe. Hunde sind mir nämlich lieber als Kinder, weil ich Kinder einfach nicht verstehe.


Nachruf
Du kamst im August 2008 zu mir. Seitdem haben wir jeden Tag und jede Nacht zusammen verbracht. Nur selten waren wir getrennt. Du hast mich fast überall hin begleitet. Du hast Dich nie beklagt, wenn ich Dich zwischendurch immer mal fallen ließ. Du hast jeden Sturz einfach weggesteckt. Du warst nie krank, hattest nie frei und warst ziemlich unkompliziert. Genau nach meinem Geschmack. Du warst nicht unbedingt modern, aber solide und zuverlässig. Ich dachte, wir würden noch viele Jahre gemeinsam überstehen. Doch ich übersah, dass es so nicht weitergehen kann. Irgendwann wurden Dir die vielen Stürze zu viel. Sie hinterließen plötzlich doch Spuren. Anfang des Jahres gab es dann die erste größere Wunde. Das war optisch zwar alles andere als schön, doch ich habe es ignoriert und Dich weiter regelmäßig zu Boden geworfen. Am Mittwoch hattest Du endgültig genug. Du hast Dich von diesem, dem letzten, Sturz einfach nicht mehr erholt. Deine Funktionen blieben eingeschränkt. So eingeschränkt, dass Du nicht mehr Deinen Zweck erfüllen konntest. Nach drei Jahren hatte ich es geschafft. Du warst zerstört. Optisch kaum zu erkennen, starbst Du an Deinen inneren Verletzungen. Und so musste ich Abschied nehmen. Ich riss Dir das Herz heraus, schaute Dich ein letztes Mal an und legte Dich dann sanft in den Mülleimer, Deine letzte Ruhestätte in meiner Nähe. Von dort kamst Du in den großen Mülleimer auf dem Hof. Und von dort tratst Du Deine letzte große Reise an. Leb wohl Nokia 3110. Du warst ein guter Freund. Ich hatte Dich nie verdient.


15. August 2011
Die Frau, die schon seit 1996 in die BRD einreist, schafft es heute tatsächlich in mein Büro. Vielleicht macht sie gerade einen Einreisestopp. Ich schreibe ihr ein paar Bewerbungen, welche sie sofort kritisch überprüft. Sie ist schon eine komische Person, die tatsächlich älter aussieht als sie aussehen sollte.


16. August 2011
Am Dienstag ruft mich eine Frau an und sagt, dass sie letzte Woche bei Herrn Schulz war und einen Termin möchte. Da es hier keinen Herrn Schulz gibt, sage ich ihr, dass sie bei mir falsch ist. Kann sie gar nicht glauben. Sie wiederholt, dass sie letzte Woche schon hier war und sagt, dass sie die kleine Dicke mit den roten Haaren, die so viel gequatscht hat, ist. Obwohl ich noch immer nicht weiß, wer sie ist, sage ich ihr, dass ich mich an sie erinnere. Warum sie mich für Herrn Schulz hält, bleibt unbeantwortet. Als ich nach dem Anruf ihre gespeicherten Bewerbungsunterlagen ansehe, erinnere ich mich an sie. Sie ist die 45 jährige Quasseltante mit dem Zungenpiercing. Bin schon gespannt, was sie am Donnerstag alles zu erzählen hat.
Nachdem in der letzten Woche sehr wenig hier los war, sieht es in dieser Woche anders aus. Doch trotz des recht regen Publikumsverkehrs ist es ein entspanntes arbeiten. Was aber nicht bedeutet, dass ich vor Freude hüpfe oder einen Freudentanz vollführe. Gegen Mittag verspeise ich die Reste des Marmorkuchens. Es wird Zeit, dass mir mal wieder jemand einen Kuchen oder andere Leckereien mitbringt.


17. August 2011
Der Ehrengast, der ständig zum Anwalt rennt und angeblich vom Anwalt den Auftrag hat, böse Briefe zu schreiben, ruft an, um mir mitzuteilen, dass er etwas später kommen wird. Bei der Gelegenheit erklärt er mir auch gleich, was ich heute für ihn zu tun habe. Erneut möchte er Vodafone anschreiben. Man hat ihm zwar telefonisch eine Gutschrift zugesichert, doch weil Vodafone schlecht ist und er viele Leute kennt, die nur Ärger mit Vodafone haben, möchte er nochmal Druck machen. Außerdem müssen wir, also ich für ihn, noch einen Brief an E-Plus schreiben. Bin schon gespannt, was die ihm Böses angetan haben und was sein Anwalt für ein weiteres Vorgehen empfiehlt. Dass er zu spät kommt, liegt übrigens an der VKU. Die Scheiß-Blagen, wie er sie nennt, machen alles falsch. Er hingegen ist natürlich vollkommen schuldlos. Alles andere hätte mich auch gewundert. Wer weiß, vielleicht schafft er es heute auch gar nicht herzukommen. Dann müssen wir, also ich, demnächst, wann auch immer das sein wird, einen Brief an die Blagen der VKU schreiben. Denn so geht das ja nicht. Eigentlich will ich ihm ja sagen, dass ich für solche Sachen nicht zuständig bin, aber einen gewissen, wenn auch etwas kranken, Unterhaltungswert hat der Typ schon.
Als er später bei mir ist, schildert er sein Problem des Tages. Es fällt mir nicht leicht, seinen Ausführungen zu folgen, weil er ziemlich undeutlich und wirr reden kann. Wenn ich alles richtig verstehe, haben Leute von E-Plus ihm für irgendetwas 65 Cent berechnet. Das gefällt ihm nicht. Und so schreiben wir, also ich für ihn, dass er gerne wüsste, wofür diese 65 Cent denn fällig sind. Danach möchte er einen Brief an Vodafone schreiben, weil er schriftlich haben möchte, dass er, wie ihm gestern telefonisch versichert wurde, eine Gutschrift in Höhe von 7,63€ bekommt. Ich sage ihm, dass wir das heute nicht machen und er auf die nächste Rechnung warten soll. Wenn da keine Gutschrift verzeichnet ist, schreiben wir. Tatsächlich gibt er sich damit zufrieden und geht. Möge er in Frieden ruhen.


18. August 2011
Der erste Termin des Tages wird abgesagt. Die Frau, die ständig einreist, kann nicht kommen. Vermutlich versucht sie erneut einzureisen. Ich stelle mir ihr Leben ziemlich schwierig vor und möchte definitiv nicht mit ihr tauschen. Dafür ruft der Ehrengast wieder an. Er möchte wissen, ob ich mich noch an das Datum des ersten Besuches, den er mir abgestattet hat, erinnere. Nein, das habe ich verdrängt. Kaum hat er aufgelegt, ruft er erneut an und möchte, dass ich ihm die Telefonnummer einer Bäckerei raussuche. Vermutlich sieht er in mir seinen ganz persönlichen Betreuer. Ich suche ihm die Nummer heraus und drei Minuten später ruft er wieder an, um mir zu sagen, dass er sofort an die Filiale in Bergkamen weitergeleitet wurde. Ich fürchte schon, dass wir jetzt einen Beschwerdebrief verfassen müssen, doch das müssen wir nicht. Er will mir nur mitteilen, dass der Anruf sofort weitergeleitet wird. Eine wirklich nette Geste. Auch wenn sie mir so gar nichts bringt.
Am Nachmittag fällt ein weiterer Termin aus. So nutze ich die freie Zeit und lese “Der Papalagi” als plötzlich und unerwartet die Tür in Zeitlupe geöffnet wird. Der Ehrengast schaut spontan herein und möchte eine Bewerbungsmappe. Ich überreiche ihm eine und er verlässt das Büro. Nur wenige Sekunden später ist er wieder da und fragt, ob ich einen großen Briefumschlag für ihn habe. Habe ich nicht. Und so verabschiedet er sich ein weiteres Mal. Ob ich zu freundlich zu dem Ehrengast bin? Ich weiß es nicht.

Nur einmal zwischen zwei Friseurbesuchen habe ich die perfekte Frisur. Alles passt zusammen und ich bin zufrieden. Dieser Zustand hält nie sehr lange, maximal einen Tag an. Heute ist so ein Tag. Doch anstatt vor Spiegeln zu stolzieren, den Menschen meine Frisur zu zeigen oder wenigstens ein paar Fotos zu machen, sitze ich bis 17.00 Uhr im Büro. So bleibt die perfekte Frisur von der Außenwelt fast völlig unbemerkt. Das ist schade. Sehr schade.


19. August 2011
Heute ist der letzte Tag vor meinem Urlaub. Hach, wie ist das schön.


Fässchen
Als ich am vereinbarten Treffpunkt erscheine, wartet sie schon auf mich. Sie sieht nicht aus wie auf den Fotos, die ich von ihr kenne. Sie sieht aus wie ein Fass mit Armen, Beinen und einem Kopf. Sie trägt braune Schuhe. An ihren Beinen, die im Gegensatz zum Mittelteil, recht normal proportioniert sind, eine enge Hose. Darüber eine dünne, kurzärmelige Bluse. Trotz des Schocks, den ihr Anblick bei mir auslöst, begrüße ich sie freundlich. Mir kommt es so vor, als wäre sie von meinem Anblick recht angetan. Wäre ich, wenn ich sie wäre, auch. Mir ist es peinlich mit ihr durch Lünen zu gehen. Aber vielleicht ist sie ja wenigstens unterhaltsam. Diese Hoffnung zerschlägt sich allerdings schnell. Schon nach wenigen Sätzen höre ich ihr nicht mehr zu und frage mich, wieso ich immer wieder an solche Kunstwerke des menschlichen Handwerks gerate.

Kennengelernt habe ich Sie auf der gleichen Plattform wie Sophie. Wir schrieben uns gelegentlich und sie machte einen recht netten Eindruck. Auf den Bildern konnte ich erkennen, dass sie nicht schlank ist, aber das, was hier nun neben mir hergeht, sieht schon etwas anders aus. Als sie mich vor ein paar Stunden fragte, ob wir heute nichts zusammen unternehmen wollen, erschien mir ein nettes Treffen möglich, jetzt weiß ich, dass mich das Treffen langweilen wird.

Wir gehen ins Extrablatt. Ich wähle einen Tisch ganz am Rand und setze mich mit dem Rücken zu den anderen Gästen. Ich will nicht, dass man mich erkennt. Sie erzählt Dinge, die mich wenig interessieren. Ihr Humor ist schön schlicht. Sie ist schlicht. Schlicht und ergreifend uninteressant. Während sie irgendwas erzählt, betrachte ich sie. Ich habe noch nie so große Brüste gesehen. Ihre Oberarme sind auch schön fleischig, ihre Finger gefallen mir ebenfalls nicht. Ihr Gesicht ist okay. Passt nicht unbedingt zu dem Rest. Wird aber bestimmt mit zunehmendem Alter immer besser zu dem Körper passen. Sie ist ja erst 28. Da ist noch viel möglich.

Sie sagt: “Wir müssen aber nicht immer über mich und meine Bekannten reden. Du kannst auch mal etwas erzählen.” – “Nein. Ich höre lieber zu. Erzähl weiter. Ich lasse mich gerne unterhalten.” Was mich irritiert ist die Art, wie sie mich anguckt. Und als sie später erzählt, dass sie nur beim kuscheln ruhig ist, sage ich dem Kellner, das wir zahlen möchten. Getrennt.

Auf dem Parkplatz stehen wir noch eine Weile dumm rum. Sie erzählt, dass sie Schwierigkeiten hat BHs in der richtigen Größe zu bekommen. Sie hat Körbchengröße 90J. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Und warum erzählt sie mir das? Sie ist 1,75m und guckt mich an als würden wir uns gleich küssen. Und dann? Dann würden wir im Bett landen. Wir beide fänden den Sex Scheiße, aber ich wäre befriedigt. Ich mag es, befriedigt zu sein. Also sage ich ihr, dass ich jetzt gehe und verabschiede mich von ihr. Alles andere wäre albern.


29. August 2011
Kaum hat der Urlaub begonnen, ist er auch schon wieder vorbei. Im Büro sind sieben Nachrichten auf dem AB. Fünfmal unverständliches Gemurmel und zweimal fast ebenso unverständliches Gemurmel vom Ehrengast. Seine erste Mitteilung ist ein kleiner Roman. Er möchte am Montag, den 29.08.2011, einen oder zwei Briefe schreiben lassen. Das Ganze soll dreißig Minuten oder zehn Minuten dauern. Er weiß nicht, wie lange, deshalb zehn oder dreißig Minuten. Er sagt, dass er entweder um 10.00 Uhr, vermutlich aber zwischen 10.00 Uhr und 15.00 Uhr kommen wird. Da kann er sich noch nicht wirklich festlegen. Er weist erneut darauf hin, dass es ein oder zwei Briefe werden. Und falls er es am Montag doch nicht schafft, dann kommt er am Dienstag. Zwischen 10.00 Uhr und 15.00 Uhr. Wie schön, dass er so flexibel ist. Noch schöner, dass er heute nicht erscheint.


30. August 2011
Erneut spricht der Ehrengast auf den Anrufbeantworter und teilt mit, dass er zwei Briefe schreiben lassen möchte, nicht nur einen. Er weiß nicht, wie lange das dauert und wann er herkommt. Ich soll ihn anrufen, wenn ich keine Zeit habe. Ich rufe ihn natürlich nicht an. Wenn er Glück hat, habe ich Zeit. Und wenn nicht, muss er halt warten. Ich bin schließlich nicht wirklich sein persönlicher Sekretär. Auch wenn er das sicher denkt. Draußen wütet der Sommer mit unglaublichen vierzehn Grad. Ich friere und überlege, ob ich meine Jacke anziehe. Irgendwas stimmt hier absolut nicht.


31. August 2011
Der Anrufbeantworter im Büro hat eine Nachricht vom Ehrengast für mich. Er kommt heute ab 10.00 Uhr. Zwei Dinge müssen erledigt werden. Minutenlang spricht er auf den Anrufbeantworter und gibt sogar seine zweite Mobilnummer durch. Ich will das alles nicht hören und lösche die Nachricht. Der erste Gast des Tages ist der Mann mit dem Stufenheckpolo, der schon bald den besten Gourmetführer Deutschlands schreiben wird. Heute möchte er nur eine Bewerbung als Servicemitarbeiter verschicken. Das geht fix. Nach dem Gourmetführer frage ich ihn nicht.
Um 14.00 Uhr öffnet jemand die Tür in Zeitlupe. Wer kann das wohl sein? Der Ehrengast. Wie immer trägt er die Kaputze seiner Kaputzenkjacke auf seinem Kopf. Es gibt Filme, in denen Typen, die so aussehen, plötzlich eine Axt oder eine Kettensäge aus der Tasche ziehen und alles in ihrer Nähe niedermetzeln. Hoffentlich ist er nur optisch so ein Mensch.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert