Dezember 2010

Aktivtag
Mittwoch ist Aktivtag und das bedeutet, dass wir frei haben, um Dinge zu tun, die getan werden müssen. Und so tue ich nichts, weil ich meine, dass nichts getan werden muss.

Der Rest der siebten Woche
Nach über zwanzig Jahren fahre ich wieder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel. Und es ist viel schlimmer als ich es mir vorgestellt habe. Schon die blöde Warterei, bevor es losgeht, ist eine einzige Zumutung. Dazu schneit es, ich friere und der Bus kommt fünf Minuten zu spät. So kann man mich nicht überzeugen. Als ich in den für mich viel zu vollen Bus einsteige, habe ich großes Glück und bekomme den letzten freien Sitzplatz, den die vielen Schüler, die sich dummerweise im Bus aufhalten, wohl übersehen haben, weil direkt davor eine ältere Frau steht und die Reisenden mit einer Umfrage belästigt. Wirklich glücklich macht mich der Sitzplatz allerdings nicht, denn die Leute, die dicht gedrängt vor meinem Sitzplatz stehen, riechen doch etwas unangenehm. Muffig, faulig, teilweise gar nach Scheiße und übelstem Mundgeruch. So bin ich kurz davor, mich zu übergeben, was den Ekelfaktor nur leicht erhöhen würde. Nun frage ich mich, ob das immer so widerlich ist, wenn man Bus fährt oder ob es nur heute für mich so ist? Da würde ich lieber bei dieser eisigen Kälte eine Stunde sinnlos durch die Gegend wandern. Für 2,30€ erwarte ich jedenfalls mehr als eine Fahrt in einem Viehtransporter und frage mich, warum die Schüler nicht in gesonderten Bussen transportiert werden? Zu allem Überfluss finde ich es auch verdammt kalt in diesem Bus. Bin ich verweichlicht oder empfinden die anderen ebenso? Fragen werde ich selbstverständlich niemanden, weil ich keinen Kontakt zu diesen Lebewesen haben will. Jetzt weiß ich wieder, warum ich seit über 20 Jahren nicht mehr Bus gefahren bin und mir graut schon jetzt vor der Rückfahrt, die dann hoffentlich die letzte Reise in einem Linienbus in meinem Leben sein wird. Was ich ebenfalls hasse ist die Tatsache, dass die Bushaltestelle viel zu weit von meinem Zielort entfernt ist und ich deshalb noch fast zehn Minuten durch den Schnee wandern muss. Das ist völlig inakzeptabel.
Heute sind wir wieder in der VHS. Und zwar in der Küche. Den Unterricht leitet heute eine Ökotrophologin, welche möchte, dass wir etwas backen. Aber ganz ohne Zucker und ganz gesund. Ich bin mehr als perplex, als sie uns das mitteilt und kann gar nicht glauben, dass es ihr ernst ist. Doch es ist ihr ernst und wir bekommen drei Rezepte. Müsliriegel, Waffeln und Plätzchen.
Ich gehe als einziger Mann in die Frauengruppe, um Müsli zu backen. Erfreulicherweise ist die Küche der VHS gut geheizt und so ist heute der erste Tag an dem die Temperatur genau richtig ist. Was Backen allerdings mit Jobfindung zu tun hat, verstehe ich nicht. Aber ich verstehe so vieles nicht, da kommt es darauf auch nicht mehr an. Nachdem wir unser Müsli hergestellt haben, können wir Pause machen. Allerdings im Vorraum der Küche, welcher schön kalt ist und uns mehr als nötig an unsere relativ unbeheizten Klassenräume erinnert. Nach mehr als einer Stunde sind die anderen Gruppen endlich fertig und wir können unsere Leckereien probieren. Die Müsliriegel schmecken nach Karton. Die Plätzchen sehen aus wie Frikadellen und schmecken so furchtbar, dass ich mein Plätzchen direkt nach dem Probieren in den Müll werfe. Zum Schluss gibt es die Vollkornwaffeln. Diese wurden mit Zitronenscheiben geschmacklich veredelt und sind unfassbar widerlich, weshalb meine Waffel ebenfalls im Müll landet. Backen auf die gesunde Art und ohne Zucker ist entweder Scheiße oder wir haben irgendwas falsch gemacht. Nachdem alles gespült ist, dürfen wir zurück in unsere Miefbude. Dort erwarten uns der Dozent, die Dozentin und all die üblen Gerüche, die uns schon fast ans Herz gewachsen sind. Auf dem Stundenplan steht Sport und Bewegung. Das bedeutet, dass wir über Sportarten reden und typische Männer- und Frauensportarten aufzählen. Während wir das tun, frage ich mich, ob die ARGE weiß, was wir hier tun. Und wenn sie es weiß, dann wüsste ich gerne, wie sie diese Art der Steuergeldverschwendung rechtfertigt. Ob die Dozentin weiß, was wir hier tun, kann ich auch nicht einschätzen. Ich weiß nicht einmal, ob sie weiß, was sie hier tut. Sie ist auf jeden Fall voll bei der Sache und es scheint, als würde wenigstens sie Spaß an dem Unsinn haben. Und wenn sie mal wieder unsicher ist, hält sie inne und fragt „Ist das so?“, starrt vor sich hin und man kann förmlich spüren, wie es in ihrem Hirn arbeitet. Manchmal, wenn sie besonders verwirrt ist, sagt sie „Nein. Ist das wirklich so?“, und ich frage mich, was sich unter ihrer Kurzhaarfrisur wohl gerade abspielt. Ist sie wirklich so oder wurde ihr dieses Verhalten während ihrer Ausbildung zur Diplomsozialpädagogin antrainiert? Und weiß sie, warum sie so ist oder ist es ihr völlig egal? Da ich nie eine Antwort auf diese Fragen bekommen werde, freue ich mich auf 16.00 Uhr. Denn um 16.00 Uhr werden wir alle erlöst. Zumindest vorübergehend. Dummerweise nur, dass ich noch noch mit dem Bus nach Hause fahren muss, denn die Rückfahrt ist ähnlich frustrierend und einzig die Tatsache, dass sich niemand neben mich setzt, weil meine Tasche auf dem Platz neben mir liegt und ich alle Passagiere böse angucke, sorgt für ein wenig Freude. Der Bus braucht für die Strecke etwa doppelt so lange wie ich, wenn ich mit dem Auto fahre. Dazu kommt noch die Wartezeit, weil Busse ja nur zu bestimmten Zeiten fahren. So viel Abhängigkeit, um eine völlig unprickelnde und überteuerte Busfahrt zu unternehmen, ist meiner Meinung nach eine Zumutung. In Zukunft bleibe ich bei dem Wetter, genau wie mein Auto, zu Hause. Alles andere wäre albern und würde mich nur deprimieren.

Am Freitag besuchen uns zwei Arbeitsvermittlerinnen, um uns irgendwas zu erzählen. Wirklich interessant finde ich weder die Vermittlerinnen noch deren Vortrag. Vielleicht würde ich für Geld mit einer der beiden schlafen, bin mir aber nicht sicher. Außerdem hat der erste Satz der beiden sie sofort unsympathisch gemacht. „Hier ist es aber schön warm.“ Ja, genau. Und ihr habt einen an der Waffel. Während des Vortrags kommuniziere ich nonverbal mit der Hübschen. Auch heute lächeln wir uns häufig an oder schütteln den Kopf, wenn uns der Blödsinn der beiden Vermittlerinnen dazu verleitet. Und je öfter wir das tun, desto interessanter finde ich sie. Zum Ende des Vortrags weisen die beiden Vermittlerinnen nochmal darauf hin, dass es bei uns so schön warm ist. Außerdem sagen sie, dass die Maßnahme ja schon ein Erfolg ist, weil nach Sunny nun auch die Lesbe, die keine ist, einen Job bekommen hat. Dabei ist das definitiv nur Zufall, aber das interessiert keinen. Die Maßnahme ist erfolgreich und wird vermutlich mit anderen Opfern, ich meine Arbeitslosen, eine Fortsetzung finden. Die beiden Vermittlerinnen sind jedenfalls glücklich und zufrieden. Jetzt würde ich nicht einmal mehr für Geld mit einer der beiden schlafen. Als die beiden endlich weg sind, übernimmt der Dozent den Unterricht und ich glaube, dass ich mittlerweile sogar mit der Hübschen flirte. Sie bekommt das vermutlich nicht mit, aber ich denke, dass ich flirte. Warum sonst sollte ich sie ständig angrinsen und mit ihr reden? Und auch wenn ich es nicht zugeben mag, würde ich sie mir gerne mal gönnen. Je länger der Tag andauert, desto mehr Zweifel habe ich, dass sie nicht merkt, dass ich mit ihr flirte, denn sie ist heute anders als sonst. Viel offener, viel aufmerksamer und viel interessanter. Sehr merkwürdig. Als wir in den EDV-Raum wechseln, setzt sie sich nicht, wie sonst immer, in die letzte Reihe, sondern folgt mir in die dritte Reihe und fragt, wo wir uns hinsetzen. Ob sie mich vielleicht doch ein wenig interessant findet? Wenig später stelle ich ihr ein paar Fragen über ihr Leben und erfahre, dass sie weder eine Ausbildung noch einen Führerschein hat. Von Gerd Baltus, der unser Gespräch kurzzeitig stört, erfahre ich, dass sie einen Freund hat. Das finde ich irgendwie gut, denn so muss ich mir keine Gedanken machen, ob der Flirt, von dem sie vermutlich nichts merkt, bei ihr dazu führt, dass sie sich in mich verliebt, denn das würde sowieso zu nichts führen. Nachdem Gerd Baltus uns nicht mehr stört, plaudern wir weiter. Für mich völlig unerwartet holt sie ihr Portemonnaie raus und zeigt mir ein Foto ihrer Tochter. Ich bin dermaßen irritiert, dass ich nur sagen kann, dass sie die gleichen Haare wie ihre Mutter hat. Darf man fremden Männern überhaupt solche privaten Fotos zeigen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich plötzlich Lust habe sie zu vernaschen. Nur gut, dass in zwei Wochen alles vorbei ist. Aber schön, dass wir uns heute so gut verstanden haben. Unterricht findet übrigens keiner im EDV-Raum statt, weil kaum ein PC ins Internet kommt und man mit den meisten PCs nicht drucken kann. Der ganze Unterricht bleibt weiter ein einziges Chaos.

Achte Woche
Der Montag findet im kleinen Kreis statt, da nur neun Teilnehmer den Weg in die Bauruine gefunden haben. Ich sitze neben der Hübschen, die auch heute wieder sehr kommunikativ ist und dafür sorgt, dass ich einen recht angenehmen Tag habe. Dazu versorgt sie mich mit Bonbons und bietet mir sogar ein Stück ihrer frisch geschälten Mandarine an. Unsere Kommunikation ist recht vertraut und sie erzählt mir viel über sich. Ich erzähle wenig über mich und hätte nie gedacht, dass wir zwei Mal so nett miteinander kommunizieren würden. Im Unterricht arbeiten wir auch zusammen. Sie muss Gründe gegen Britt – Der Talk um eins vortragen und ich muss Gründe dafür zusammentragen. Diese müssen wir dann in einem Rollenspiel der Klasse vortragen. Wie nah uns das an den Arbeitsmarkt heranbringt können wir noch gar nicht abschätzen. Wir vermuten aber, dass es uns direkt auf einen Arbeitsplatz katapultieren wird, wenn wir unsere Aufgabe gut meistern. Nachdem alle ihre Rollenspiele gespielt haben, wird es Zeit in die VHS umzuziehen. Dort wartet Dozentin 2 mit L/WP auf uns. Und so füllen wir wieder einen Erlebnisbogen aus und schreiben zwei Ätzend-Berichte. Diesmal geht es um ätzende Kollegen und um ätzende Kunden. Auch dies bringt uns unglaublich weit nach vorne. Dank der netten Gesellschaft der Hübschen geht der Tag dennoch recht schnell vorbei.

Am Dienstag sind wir zunächst zwölf Teilnehmer. Neben mir sitzt die Architektin. Die Hübsche sitzt leider auf der anderen Seite des Klassenraums. Das kann kein guter Tag werden. Um einen leichten Einstieg in den Tag zu bekommen, liest uns der Dozent die Geschichte Ein Tisch ist ein Tisch von Peter Bichsel vor. Danach sollen wir die Geschichte aus unserer Erinnerung nachschreiben. Ich fasse die Geschichte in drei Sätzen zusammen und bin natürlich als erster fertig. Nachdem auch der letzte seine Geschichte zu Papier gebracht hat, diskutieren wir ein wenig über den alten Mann, um den sich die Geschichte dreht. Wozu wir das machen, erfahren wir nicht. Bevor wir die nächste Aufgabe bekommen, erhält die Architektin einen Anruf. Ihr gestriges Vorstellungsgespräch irgendwo in Niedersachsen hat zum Erfolg geführt und ab morgen muss sie dort arbeiten und verlässt uns deshalb jetzt. So schnell kann es gehen. Nun sind schon drei Frauen nicht mehr arbeitslos und die Maßnahme wird mehr und mehr zu einer Erfolgsgeschichte. Meine Hoffnung, dass sich die Hübsche nun auf den freien Platz neben mir setzt, bleibt unerfüllt. Dafür ist unsere nächste Aufgabe zum Thema Entscheidungsmanagement schön doof, weshalb ich sie auch nur halbherzig mache. Danach machen wir ein 9-Punkte-Spiel und zum Abschluss des Tages soll nochmal jeder ein Referat halten. Thema wie gestern. Und so darf ich erzählen, warum Britt – Der Talk um eins auf keinen Fall abgesetzt werden darf. Schön doof und herrlich sinnlos.

Da wir am Mittwoch wie immer frei haben, bleiben der Hübschen nur noch sechs Unterrichtstage, um mich mal einzuladen. Ob sie es schaffen wird? Ich habe da echte Zweifel.

Am Donnerstag bin ich dermaßen deprimiert, dass ich zu Hause bleibe.

Am Freitag sitzen wir den ganzen Tag im EDV-Raum und machen ein paar Excel Tabellen. Alleine fürs Eingeben der Daten brauchen wir mehrere Stunden. Über den Sinn dieser Aktion denke ich einfach nicht nach. Die Hübsche ist leider nicht da und ich fürchte, die Hübsche und ich werden uns nicht näherkommen.

Der Schneemann
Der normale Durchschnittsbürger neigt ja dazu, sonntags kurz vor Mitternacht zu schlafen. Ich hingegen neige dazu, mir Freunde zu erschaffen. Und so erschaffe ich passend zu diesen Temperaturen einen kleinen Schneemann, der fortan vor meinem Schlafzimmerfenster wohnt. Ich glaube, dass es ihm vor meinem Fenster sehr gut gefällt, weil er auch ohne Gesicht glücklich und zufrieden aussieht.

Selbst bei Tag betrachtet sieht mein Schneemann glücklich und zufrieden aus.

Sollte ich irgendwann nachts wieder nicht schlafen können und der Winter weiter Schnee und Kälte mit sich bringen, werde ich sicher noch den einen oder anderen Freund aus Schnee entstehen lassen. Es ist so schön, Ziele im Leben zu haben.

Neunte Woche
Der Beginn der letzten Woche dieser fantastischen Maßnahme bringt uns ein letztes Mal ganz weit nach vorne. Nachdem die Dozentin fragt, ob wir noch irgendwelche Wünsche für die Woche haben und auf ihre Frage keine Antwort bekommt, muss sie improvisieren, weil sie nichts vorbeireitet hat. Da es nicht das erste Mal ist, dass sie unvorbereitet ist, überrascht es mich nicht. Und so spielen wir Stille Post und fühlen uns ein wenig in den Kindergarten zurückversetzt. Die Dozentin hat dabei ihren Spaß und es ist wahrlich erstaunlich, dass jemand für so eine Leistung auch noch bezahlt wird. Andererseits würde ich ihren Job liebend gerne machen. Nach der äußerst unterhaltsamen und lehrreichen Stillen Post starten wir die nächste Spontanaktion. Sechs Teilnehmer gehen in den EDV-Raum, um dort Bewerbungen zu schreiben und sechs Teilnehmer bleiben in dem tollen Klassenraum zurück. Ich gehöre zu denen, die bleiben und erlebe einen weiteren Höhepunkt dieser Maßnahme, denn nun sollen wir uns alle etwas vorlesen. Ich habe die Ehre das Märchen von Hänsel und Gretel vorzulesen. Um mir zu schmeicheln, sagt man mir hinterher, dass ich eine gute Märchenvorlesestimme habe. Da werde ich mich am besten nach dem Kurs als Märchenvorleser bewerben. Die Blonde mit dem Oberlippenflaum verabschiedet sich gegen Mittag bis Freitag von uns. Sie kann den Rest der Woche leider nicht mehr hier sein, weil sie sich einen kleinen Hund gekauft hat, der nicht so lange alleine bleiben kann. Unglaublich. Hätte ich gewusst, dass man so einfach aus dem Kurs rauskommt, hätte ich mir auch einen Hund gekauft. Bei der nächsten Maßnahme ist das jedenfalls eine Option.
Am Nachmittag haben wir ein letztes Mal L/WP. Es ist ergiebig wie eh und je und gibt uns den entscheidenden Kick für eine großartige Zukunft. Zumindest sollte es so sein. Ist es aber nicht. Es ist lediglich der Tag, der uns von dieser Scheiße und Dozentin 2 erlöst. Wie sehr werde ich wohl ihre türkisfarbene Jack Wolfskin Winterjacke, ihre bunt zusammengewürfelten Outfits und ihre fröhliche Naivität vermissen? Vermutlich gar nicht.

Am Dienstag bin ich etwas unpünktlich und erscheine erst gegen 09.00 Uhr zum Unterricht. Schon im Flur höre ich Synapsen Joe. Er hat wohl gerade wieder einen Kurzschluss im Gehirn und hält einen Vortrag. Als ich den verfilzten Klassenraum betrete, erfahre ich, zu welchem Thema sich Synapsen Joe geäußert hat. Religion und das Leben nach dem Tod. Fassungslos setze ich mich auf meinen Platz und schweige. Bringt ja nichts. Möglicherweise ist das hier schon das Leben nach dem Tod. Wenig später stellt die Dozentin fest, dass der Tacker kaputt ist. Ich schlage daraufhin vor diesen wegzuwerfen, was die Dozentin aber ablehnt. Stattdessen versucht sie das Teil zu reparieren. Weil es nicht klappt, fordere ich sie erneut auf das Teil wegzuwerfen. Doch sie weigert sich. „Nein. Der hat gestern doch noch funktioniert.“ – „Und wenn jemand stirbt? Heben Sie den dann auch auf, weil er gestern noch gelebt hat?“ Nachdem alle genug gelacht haben, setzen wir den Unterricht, oder wie auch immer man es nennen mag, fort. Was die Dozentin neben ihrer Begeisterungsfähigkeit für Tacker und die Dinge, die wir im Unterricht so tun, ganz besonders auszeichnet sind ihre Lieblingsfragen, wenn irgendwer irgendetwas sagt oder es unter ihrer Kurzhaarfrisur zu arbeiten beginnt. „Ist das so?“ oder „Was machen wir denn da?“ Es ist unglaublich, wie sie diese simplen Sätze jedes Mal aufs Neue betont und welche Mimik sie dabei produziert. Sie wirkt dabei wie eine Parodie ihrer selbst. Und das täglich. Ich bin sicher, dass sie das während ihres Studiums gelernt hat. Sätze langsam sagen, um Zeit zu gewinnen.
In der Mittagspause werde ich von Synapsen Joe angesprochen und bin etwas irritiert, fragt er mich doch ob ich Herr F. bin und gibt mir dann, nachdem ich bestätigt habe Herr F. zu sein, einen Teil der Zeitung vom Samstag. Genauer gesagt einen Teil der Stellenanzeigen und weist mich darauf hin, dass er eine Stellenanzeige für einen Automobilkaufmann gefunden hat und da ich ein solcher bin, diese extra für mich aufgehoben und mitgebracht hat. Das ist jetzt echt zu viel für mich. Er nennt mich Herr F. und möchte mir bei der Suche nach einem Job behilflich sein. Wortlos nehme ich die Stellenanzeige entgegen und muss mich erst mal sammeln. Nach dem sammeln, was etwa vier bis fünf Minuten dauert, lese ich mir die Stellenanzeige durch. Gesucht wird ein zertifizierter Automobilkaufmann. Das bin ich nicht. So bringe ich Synapsen Joe seine Zeitung zurück, bedanke mich für sein Engagement und erkläre ihm, dass ich nicht zertifiziert bin und der Job deshalb nichts für mich ist. Danach muss ich über die ganze Freundlichkeit des Synapsen Joe nachdenken. Er scheint ein netter Kerl zu sein. Komisch.
Den Abschluss des Tages bildet ein abschließendes Gespräch mit der Dozentin. In diesem Gespräch erfahre ich, ob die Maßnahme für mich ein Erfolg oder Misserfolg war. Doch bevor es so weit ist, sagt die Dozentin mir, dass ich auf sie autistisch wirke. Ihre Vermutung, ich könnte unter Autismus leiden, gefällt mir irgendwie. Und sie muss es wissen, denn sie ist nicht nur ausgebildete Diplom-Sozialpädagogin, sie hat auch schon ein Kind betreut, welches an Asperger-Autismus leidet. Meine Maßnahmeziele habe ich jedenfalls erreicht und kann beruhigt durchatmen. Abschließend bekomme ich noch den Auftrag mich auch weiterhin zu bewerben. Ein positives Feedback zur Maßnahme, ein Auftrag und eine Diagnose. Das ist viel mehr als ich mir jemals erhofft habe. Das muss ich erst mal verarbeiten.

Am Mittwoch findet der letzte Aktivtag statt. Also darf ich zu Hause bleiben.

Am Donnerstag fahren wir zur DASA. Wozu wir diesen Ausflug machen ist schnell erklärt. Die beiden Hauptdozenten haben es in den letzten Wochen nicht auf die Reihe gekriegt den Papierkam zu erledigen, weshalb sie unseren Ausflug nutzen müssen, um das Versäumte nachzuholen. Insgesamt haben sie in den letzten Wochen nicht wirklich viel auf die Reihe gekriegt, was aber auch damit zusammenhängen kann, dass sie nach dem Kurs wieder arbeitslos sind. Sowas trägt möglicherweise nicht unbedingt zur Motivation bei.
Um 08.31 Uhr soll unser Zug Richtung Dortmund fahren. Um 08.00 Uhr treffen wir uns deshalb am Bahnhof. Die Dozentin hat noch keine Fahrkarten besorgt und scheinbar auch keine Ahnung, wie das geht. Trotzdem macht sie sich zuversichtlich an die Arbeit. Um 08.20 Uhr sehen wir sie telefonierend an uns vorbeilaufen. Wenige Momente später läuft sie erneut telefonierend ans uns vorbei. Diesmal in die andere Richtung. Ich vermute, dass sie ihren Telefonjoker angerufen hat, weil sie nicht in der Lage ist die Karten für uns zu besorgen. Pünktlich um 08.31 Uhr taucht sie wieder bei uns auf. „So, wir nehmen den nächsten Zug, weil es ja jetzt schon zu spät ist und der Zug gerade abfährt.“ Jetzt reicht es mir. „Das ist typisch für diese Maßnahme und die miserable Organisation.“ – „Dazu muss ich jetzt nichts sagen.“ – „Brauchen Sie auch nicht. Sie können ja nicht einmal Fahrkarten rechtzeitig besorgen. “Das passt perfekt zur kompletten Organisation hier.“ – „Sie müssen flexibler sein.“ – „Sie müssen nur ihre Aufgaben richtig erledigen. Sie hatten eine Woche Zeit und wussten, dass der Zug um 08.31 Uhr fährt, und kriegen es nicht einmal hin, Fahrkarten zu besorgen. Das ist lächerlich.“ – „Seien sie doch nicht so unflexibel.“ – „Ich bin nicht unflexibel, sie sind unfähig. Es kann ja wohl nicht so schwer sein, Fahrkarten zu besorgen. Aber hier passt einfach alles zusammen. Zu blöd irgendwas zu organisieren …“ Dann drehe ich mich weg, bevor ich noch beleidigend werde.
Um 08.50 Uhr steigen wir in den nächsten Zug und fahren zur DASA, wo uns Dozentin 2 in ihrer türkisfarbenen Jack Wolfskin Winterjacke schon aus beträchtlicher Entfernung ins Auge sticht. Jetzt erkenne ich endlich den Sinn dieser Jacke. Sie ist hergestellt worden, damit man die Besitzerin schon von weitem erkennt. Nur gut, dass es nicht viele Leute gibt, die eine solche türkisfarbene Jacke tragen. Sonst wäre der Entdeckungseffekt dahin. Kaum haben wir uns um Dozentin 2 versammelt, sagt sie einen Satz, der mich verzweifeln lässt. „So, sie geben jetzt ihre Jacken an der Garderobe ab und dann gehen wir in die Ausstellung.“ Wir machen was? Ich glaube nicht, dass irgendwer für mich entscheidet, ob ich meine Jacke abgebe oder nicht. Erstaunlicherweise kommen alle, einige allerdings unter leichtem Protest, ihrer Aufforderung nach. Nur die Erbse weigert sich ebenfalls ihre Jacke abzugeben. Und so betreten lediglich Erbse und ich die Ausstellung mit unseren Jacken. Geht doch.
Mit der Architektin, der Dicken mit den rotgefärbten Haaren und der Schüchternen, mache ich mich auf den Weg durch die Ausstellung. Die Schüchterne trägt ein eng anliegendes Shirt, welches ihre durchaus ansprechende Figur perfekt zur Geltung bringt. So habe ich mehr Augen für ihren Körper als für die Ausstellung, was meiner Meinung nach durchaus Sinn macht. Mit der Dicken mit den rotgefärbten Haaren kann man sich, wie ich schon in den letzten Tagen feststellen musste, recht gut unterhalten. Vielleicht sollte ich meine Vorurteile den Menschen gegenüber überdenken. Die Dicke mit den rotgefärbten Haaren hat übrigens damals, als ich meine Umschulung zum Automobilkaufmann gemacht habe, ebenfalls eine Umschulung beim gleichen Bildungsträger gemacht und erzählt mir nun, dass Dozent Werner Lorant, bzw. seine Kopie, dort immer von mir erzählt hat. Der Herr F. hat dies gemacht, der Herr F. hat das gemacht. Scheinbar habe ich einen unglaublichen Eindruck auf Werner Lorant, bzw. seine Kopie, gemacht. Wieso sollte er sonst in irgendwelchen Klassen von mir erzählen? Vielleicht bin ich ja doch eine beeindruckende Persönlichkeit. An meinen Vorurteilen sollte ich dennoch arbeiten, weil ich jetzt ein schlechtes Gewissen habe. Ich bin echt froh, dass ich die dicke Frau mit den rotgefärbten Haaren neulich nicht mit der Kraft meiner Gedanken zum Platzen gebracht habe.
Um 11.00 Uhr sind wir fertig mit der Ausstellung. Doch leider können wir noch nicht gehen, weil Dozentin 2 uns gesagt hat, dass wir uns um 12.00 Uhr wieder am Eingang treffen. Und da wir 5-er Fahrkarten haben, aber nur zu viert sind, müssen wir eine weitere Stunde mit Warten verbringen. Das ist echt behindert.

Der letzte Schultag findet überraschend ohne mich statt. Mein Körper streikt und macht es mir unmöglich, an der Abschiedsveranstaltung teilzunehmen. Um kurz nach 08.00 Uhr rufe ich die Dozentin an, um ihr mitzuteilen, dass es mir unmöglich ist, heute zu erscheinen. Sie findet es total schade und wünscht mir alles, alles Gute. Das wünsche ich ihr auch. Bevor wir uns durchs Telefon umarmen, frage ich sie, was mit meinem USB-Stick ist, denn auf dem sind ja meine neuen Bewerbungsunterlagen und die hätte ich schon gerne. Sie scheint, wie ich es von ihr gewohnt bin, ratlos und ich frage, ob es möglich ist, mir den Stick zu schicken. Sie hält es für unmöglich, was die Qualität dieser Maßnahme ein letztes Mal unterstreicht. Also sage ich ihr, dass sie Klaus meinen Stick geben soll, damit er ihn mir irgendwann überreichen kann. Von der Idee ist sie total begeistert und sagt, dass sie das auf jeden Fall machen wird. Wir verabschieden uns überschwänglich, ich lege mich zurück ins Bett und nehme schlafend Abschied von dieser Maßnahme.

Bilder vom Selbstvermittlungscoaching
Bild vom SelbstvermittlungscoachingZunächst ein Blick von außen hinauf zu dem luxuriös ausgebauten Klassenraum, der sich hinter einer langweilig anmutenden Fassade hinter den drei oberen Fenstern versteckt.

 

Der Hof und der Eingangsbereich. Sachliche Eleganz, die zu überzeugen wusste.

 

Hinter dem sehr schön gestalteten, modischen Flur mit dem dezenten Wegweiser f¸ührte eine Treppe hinauf zum Klassenraum.

 

Immer den Wegweisern nach bis ans Ende der Treppe.

 

Am Ende der fast steilen Treppe erreichte man die Tür hinter welcher sich der Klassenraum befand.

 

Hinter der Tür befand sich der luxuriös eingerichtete Klassenraum, der kaum schöner hätte sein können.

 

Hier verbachten wir viel Zeit und fühlten uns nur selten wohl. Ich sogar gar nicht.

 

Eine Deckenlampe, die in etwa 1,75m Höhe hing, unterstrich die hochwertige Ausstattung. Es war immer ein Wahnsinnsspaß, wenn jemand unachtsam direkt gegen die Lampe prallte.

 

Sogar an einen Notausgang wurde gedacht, damit wir im Falle einer Massenpanik hätten fliehen können.

 

Der Platz der Dozenten war ebenfalls sehr harmonisch gestaltet und verströmte einen Hauch von professionellem Luxus.

 

Der Platz der Dozenten aus einer anderen Perspektive. Er lag übrigens direkt neben dem versehentlich zugestellten Notausgang.

 

Eine Deckenkonstruktion, die uns täglich aufs Neue wunderte, rundete das harmonische Flair nach oben hin ab.

 

Ein moderne Zusatzheizung und ein gepflegter Teppich luden zum verweilen ein. Ein Ort zum Wohlfühlen und Träumen.

 

Exklusiv angeordneter Staub auf den Ablagefächern der Tische, sorgte für einen Hauch von Nostalgie.

 

Warntafeln wiesen darauf hin, dass wir uns in einem gepflegten Ambiente befanden und dafür Sorge zu tragen hatten, dass es immer schön und gemütlich blieb. Leider hatten wir weder Blumen noch Aschenbecher, aber das tat der Schönheit des Schildes keinen Abbruch.

 

Auch in der gepflegten Küche gab es einen dezentes Hinweisschild.

 

Hätten wir die Luxusküche benutzt, hätten wir sicherlich getan, was auf dem Hinweisschild stand. Leider war die Küche zu elegant für uns, weshalb wir sie meist mieden.

 

Die Mülleimer waren von besonderer Qualität und unglaublich gut gepflegt. Es war uns stets eine Freude sie benutzen zu dürfen. Gerne hätten wir die komplette Maßnahme darin entsorgt. Durften wir aber nicht.

Nach dem Selbstvermittlungscoaching
Als ich ein paar Tage später Klaus anrufe und ihn frage, ob er meinen USB-Stick von der Dozentin bekommen hat, weiß er von nichts. Stattdessen sagt er mir, dass der Dozent am letzten Tag selbst um 13.00 Uhr noch gerätselt hat, wo ich denn bleibe und warum ich mich nicht melde. Da war die Dozentin wohl etwas überfordert mit der Übergabe des USB-Sticks und der Weitergabe der Information, dass ich gar nicht mehr erscheinen werde. Die Unfähigkeit hat auch am letzten Tag noch einmal gnadenlos zugeschlagen und ich stehe ohne neue Bewerbungsunterlagen und ohne USB-Stick da. Damit waren die neun Wochen für mich vollkommen für die Katz. Mein Fahrgeld der letzten Tage habe ich selbstverständlich auch nicht bekommen. Und sogar auf ein Teilnahmezertifikat wurde, allerdings bei allen, verzichtet. Solche Maßnahmen braucht echt kein Mensch.

Mein erster Kuchen
Inspiriert durch das Selbstvermittlungscoaching, entschließe ich mich dazu, einen Kuchen zu backen. Da ich weder Ahnung noch Utensilien habe, besorge ich mir zuerst zwei Backbücher, suche mir dann einen einfachen Kuchen raus und kaufe bzw. besorge danach alles, was man benötigt, um einen guten Kuchen zu backen.
Der Kuchen für den ich mich entscheide ist ein Englischer Früchtekuchen. Dieser erscheint mir recht einfach in der Herstellung. Bei den Zutaten weiche ich etwas vom Plan ab und verzichte auf den eingelegten Ingwer und das Nelkenpulver. Stattdessen verwende ich Mandarinen, Sonnenblumenkerne und einen EL Amaretto. Als alles wie beschrieben zusammengefügt ist, schiebe ich den Kuchen in den Ofen und warte. Finde ich den Geruch anfangs noch entzückend, geht er mir nach dreißig Minuten nur noch auf die Nerven. Ich will nicht, dass meine Wohnung so riecht. Nach achtzig Minuten ist der Kuchen fertig. Optisch sogar etwas zu fertig. Er sieht zumindest leicht angebrannt aus. Und ich bin enttäuscht, weil ich nämlich großen Wert auf Optik lege.
Mein erster Kuchen
Geschmacklich finde ich den Kuchen auch nicht wirklich überzeugend. Viel zu süß. Da bekommt man ja einen Zuckerschock. Den werde ich wohl verschenken müssen. Sobald ich den Kuchen los bin, werde ich etwas anderes backen. Und vielleicht gelingt mir ja irgendwann auch mal ein Kuchen optisch und geschmacklich. Und wenn nicht, dann suche ich mir einfach ein neues Hobby oder nehme an einer weiteren Maßnahme vom Jobcenter teil.

Deprimierter Schneemann
Dass ich einen deprimierten Schneemann erschaffen hatte, wurde mir schon schnell klar. Nie lächelte er oder machte Späße. Und schon nach zwei Tagen fing er an nach Möglichkeiten zu suchen, seinem nutzlosen Leben ein Ende zu bereiten. Schnell fand er Gefallen daran sich über den Abhang zu lehnen.

Rund um die Uhr hang er einfach so über dem Abgrund und es war nur eine Frage der Zeit, wann er seinem Leben ein Ende bereiten würde.

Am 22. Dezember 2010 sollte sein Todestag sein. Die ersten Stunden des Tages starrte er noch apathisch in den Abgrund, dann entschied er sich zu handeln. Und so warf er seinen Kopf ab. Dieser zerschmetterte und war selbstverständlich nicht mehr zu gebrauchen.
Fortan starrte er auf seinen zerschmetterten Kopf. Eine ganze Weile stand er einfach nur so da und starrte. Dann hatte er genug von seinem Leben und ließ sich komplett fallen. Wie vorher sein Kopf, zerschmetterte sein schwacher Körper auf dem Boden und ein viel zu kurzes Leben endete mit einer Riesensauerei.
Ein Foto seines zerschmetterten Körpers kann ich an dieser Stelle nicht präsentieren, weil es zu grausam und geschmacklos wäre. Stattdessen gibt es das Foto, welches ihn kurz vor seinem Abschied zeigt. Ein erschütterndes Dokument eines Schneemannselbstmordes, der nicht zu verhindern war.

Leb wohl, alter Freund. Ich werde Dich nicht vergessen.

Jahresrückblick 2010
7 Frauen geküsst, mir aber nur 4 davon gegönnt – ein paar Mal im Kino gewesen – unglaublich viele Filme geguckt – 2 Erkältungen gehabt – zu häufig Nasenspray genommen – 6 x Joggen gewesen – Achselhaare regelmäßig rasiert -300€ für Zahnbehandlungen bezahlt – in Sommernächten wegen nervender Mitmenschen wenig geschlafen – arbeitslos geblieben – ein Angiofibrom vom Fuß entfernen lassen – Play Station 3 gekauft – Vasektomie durchführen lassen – im Segelflugzeug mitgeflogen – an einem Selbstvermittlungscoaching teilgenommen – zum ersten Mal nach über zwanzig Jahren Bus, Bahn und Zug gefahren – zum echten Stubenhocker geworden

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