Eine mögliche Abmahnung, ein Mann, der sich bedankt, keine Infoveranstaltung und das mögliche Ende der monatlichen Blutungen

Kaum bin ich nach dem Wochenende im Büro, lese ich eine Mail der Chefin, in der sie auf unser regelmäßiges Fehlverhalten hinweist. Da wir uns zeitlich nicht an von ihr vorgegebene Kundentermine halten, obwohl wir mehrfach dazu aufgefordert wurden, und ich am Freitag außerdem vergessen habe, die Nachmittagstermine für diesen Monat in den Datenbankkalender einzutragen, setzt sie uns eine Frist, um die Vorgaben endlich umzusetzen. Sollten wir weiterhin unseren Stil durchziehen, sieht sich die Geschäftsführung gezwungen, unser Fehlverhalten in Form einer schriftlichen Abmahnung zu dokumentieren. Nun gut, warum auch nicht. Ist ihr gutes Recht. Ihre Terminplanung ist zwar aus unserer Sicht nicht überzeugend, daher habe ich sie nicht korrekt übernommen. An einem Nachmittag habe ich drei statt zwei Teilnehmerinnen eingeladen, weil unser ukrainischer Coach nur an dem Nachmittag bei uns ist und wir drei ukrainische Teilnehmerinnen haben. Da wir vollmundig angekündigt haben, dass wir einen Übersetzer haben, erschien es mir sinnvoll, die Teilnehmerinnen so einzuladen, dass er auch mit ihnen sprechen kann. Hätte ich nicht tun dürfen, mache ich nie wieder. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Die anderen Vergehen wiegen noch schwerer. Die Mittagstermine habe ich, trotz Anweisung, nicht 15 Minuten nach vorne verlegt. Erschien mir unwichtig und hat seit Jahren super funktioniert, so wie es war. Doch nur weil etwas seit Jahren funktioniert, muss es dennoch nicht sinnvoll sein, ein über Jahre bewährtes Zeitmanagement dauerhaft fortzuführen, wenn ein anderes Zeitmanagement noch viel besser funktioniert und auch nachvollziehbarer ist. Ein ziemlich anmaßendes Verhalten von mir, welches ich bei den Vormittagsterminen noch weiter auf die Spitze getrieben habe, denn anstatt alle Termine zur gleichen Zeit zu vergeben, habe ich zwei unterschiedliche Anfangszeiten gewählt, damit es Zeiten gibt, in denen nur einzelne Teilnehmer vor Ort sind, um so Zeit für Einzelgespräche zu haben, die wir ja angeblich nur führen. Als stellvertretender Maßnahmeleiter hielt ich es für eine gute Idee, es hat auch über Jahre geklappt. Beim nächsten Kritikpunkt habe ich mich selber übertroffen, denn anstatt die Ersatztermine wie vorgegeben zu vergeben, habe ich sie in meinen falschen Plan integriert, denn wenn ich die vorgegebenen Zeiten nutze, gibt es für uns keine Mittagspause mehr. Da mehrmals in der Woche Ersatztermine vergeben werden müssen, erschien mir mein Plan sinnvoller. Ich muss echt aufhören, mir so einen Mist auszudenken. Wenn künftig Teilnehmer während der Pausenzeit da sind, werden sie sicher mal dreißig Minuten alleine bleiben können, während wir Mittagspause haben. Hätte ich auch selber draufkommen können. Das erklärt auch, warum ich nie mehr als ein Stellvertreter werden kann.

Da hier ab sofort alles streng nach Vorschrift geht, sollte ich vielleicht doch bei Gelegenheit darauf hinweisen, dass man mir meine neuen Einsatzzeiten, unter Berücksichtigung meiner Arbeitszeitverkürzung, mitteilt. Nicht, dass ich am Ende noch Ärger bekomme, weil ich ständig Überstunden mache.

Der Vorfall verdeutlicht, wie schwer man es als Arbeitgeber hat, wenn Arbeitnehmer glauben, sie wüssten alles besser und machen, was sie wollen. So ist ein Arbeitgeber früher oder später gezwungen, solche Maßnahmen zu ergreifen, damit die Arbeitnehmer wieder ordnungs- und vertragsgemäß funktionieren. Wir, also Jörg und ich, haben hoffentlich etwas daraus gelernt und sollten in Zukunft ordnungsgemäß arbeiten, zumal wir, was die Vermittlungsquote angeht, eh zu den schlechtesten Mitarbeitern des Unternehmens gehören. Wir können echt froh sein, dass man uns trotzdem noch durchschleppt uns unseren Trotz tapfer erträgt. Ich weiß nicht, ob ich als Arbeitgeber die Geduld für Arbeitnehmer wie mich aufbringen könnte. Ich sollte echt dankbarer sein, denn so viel Barmherzigkeit ist keine Selbstverständlichkeit.

Nach all der Barmherzigkeit schaue ich direkt nach beruflichen Alternativen und suche Helferstellen ohne jegliche Verantwortung. Wirklich überzeugend finde ich davon nichts, kann aber auch nicht ausgiebig suchen, da der Fußballer Hilfe benötigt. Wir planen gerade seine Zukunft, da kommt ein Mann ins Büro. Er will offensichtlich zu mir. Ich kenne ihn, aber weiß nicht sofort, wer es ist. Er fragt: “Erinnern Sie sich an mich?“ – „Natürlich“, sage ich, krame aber noch in meinem Kopf nach weiteren Details. „Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken. Ich bin jetzt seit vier Jahren bei dem Arbeitgeber.“, sagt er und reicht mir die Hand. So langsam dämmert es mir und ich weiß, wen ich vor mir habe. Er sagt, wie toll wir ihm geholfen haben und das es ihm ein Bedürfnis war, sich zu bedanken. Dem Fußballer sagt er, dass er hier in den richtigen Händen ist und sicher einen Job finden wird. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, finde es aber irgendwie faszinierend, dass er nach so langer Zeit zu uns kommt, um sich zu bedanken. Ich teile noch mit, dass es mich freut, da verabschiedet er sich auch schon wieder, gibt mir noch einmal die Hand, sagt noch einmal, dass er sich nur bedanken wollte und verlässt uns. Unglaublich, aber auch schön. Ich bin zwar als Mitarbeiter eine Nervensäge und mache nicht, was ich soll, aber wenn jemand nach vier Jahren kommt, um sich zu bedanken, kann ich menschlich nicht so schlecht sein. Wenn ich übrigens streng nach den Regeln vorgegangen wäre, wäre der Mann sehr wahrscheinlich aus der Maßnahme geflogen, oder, was viel wahrscheinlicher ist, er wäre gar nicht regelmäßig zu uns gekommen. Er war nämlich vorher schon in einigen Maßnahmen und fand es nicht gut. Wenn es bei uns ähnlich gelaufen wäre, hätte er das nicht mitgemacht. Sagte er damals zumindest. So gut wie bei uns wurde er nie behandelt, sondern man sah ihn eher als lästigen Arbeitslosen. Ein Klassiker. Mein Anspruch ist es ja, dass sich die Leute hier besser fühlen, als in früheren Maßnahmen. Er ging in die Statistik übrigens als „nicht vermittelt“ ein, weil er den Arbeitsvertrag erst über einen Monat nach seiner Teilnahme unterschrieben hat. Für das Projekt somit ein Misserfolg, für mich ein Erfolg. Zum Glück bin ich kein Maßstab, sonst würden mir die Erfolge, die ja in Wahrheit keine sind, am Ende noch zu Kopf steigen. Sich nach vier Jahren zu bedanken, finde ich jedenfalls stark. Es muss ihm echt ein Bedürfnis gewesen sein.

Weil in unserer Datenbank alles hundertprozentig richtig ist, betrachte ich später den Einsatzplan. Laut diesem theoretisch verbindlichen Plan, ist der ukrainische Coach gar nicht mehr bei uns eingeplant. Warum er dann aber Anfang der Woche hier war, kann ich nicht nachvollziehen, wird aber sicher seine Richtigkeit haben. Vermutlich hat nur jemand vergessen, ihn einzutragen. Zum Glück war ich es nicht.
Als der Arbeitstag endet, weiß ich noch immer nicht, was ich von all dem halten soll. Ein Problem ist, dass ich die Wichtigkeit der neuen Zeiten fürs Coaching noch immer nicht begreife. Es erscheint mir kleinlich und unwichtig. Andererseits kann man als Arbeitgeberin Mitarbeiter, die nicht machen, was man ihnen sagt, auch nicht tolerieren. Ich weiß aber auch, dass ich immer wieder Dinge anders machen werde. Das war schon immer so und brachte eine Menge Ärger ein. Ich werde nie zu hundert Prozent die Anforderungen erfüllen und immer meinen eigenen Kopf haben und Dinge tun, die ich nicht tun sollte. Das Eis, auf dem ich mich bewege, ist dünn. Viel länger will ich mich nun aber nicht mit dem Kram beschäftigen, weil ich es eh nicht mehr ändern kann.

Am Mittwoch bereiten wir alles für die geplante Infoveranstaltung vor, doch diese findet nicht statt. Außer Jörg und mir scheinen es alle gewusst zu haben. Interessant, aber auch nicht wirklich verwunderlich. Wir, das laut Chefin gallische Dorf, haben uns schon längst ins Abseits katapultiert. Auch wenn die Bezeichnung „gallisches Dorf“ in unserem Fall alles andere als eine Auszeichnung, sondern vielmehr eine Ausgrenzung bzw. Abwertung ist, finde ich es gut, dass man uns als gallisches Dorf bezeichnet, denn es separiert uns von der grauen Masse. Masse statt Klasse konnte mich eh noch nie überzeugen.

Früher hätte mich die ganze Situation gestresst, heute scheint es mir relativ egal. Am Abend überlege ich, was ich mache, wenn sich das alles so weiter entwickelt und tatsächlich zum Ende kommt. Fest zu stehen scheint, dass ich dann nicht mehr in diesem Bereich arbeiten möchte. Das Thema Jobcoach ist dann durch. Verwaltung kann ich mir auch nicht wirklich vorstellen. Irgendwas einfaches, komplett ohne Verantwortung. Botengänge oder Botenfahrten zum Beispiel. Da ist die Auswahl jetzt nicht so groß, aber viel mehr kann ich mir nicht vorstellen. Überführungsfahrer ginge auch. Aber ehrlich gesagt, könnte es auch zu einer längeren Arbeitslosigkeit kommen. Das erscheint mir am Wahrscheinlichsten und im Moment auch am Sinnvollsten. Mal sehen, wie sich alles tatsächlich entwickelt. Morgen wird die Datenbank überprüft und wenn dann etwas nicht den Vorgaben entspricht, nehmen wir erstmal unsere Abmahnungen entgegen. Damit kann ich mich nach meinem Urlaub beschäftigen, alles andere würde mir nur den Urlaub versauen und meiner Gesundheit schaden.

Am Donnerstag teilt mir Frau Kratzer mit, dass sie bei einem Arbeitgeber anrufen wird, von dem sie noch keine Rückantwort auf ihre Bewerbungen bekommen hat. Und weitere Arbeitgeber will sie am Montag anrufen. Das ist so lustig, da sie sich mehrfach beschwert hat, dass Jörg sie zum Anrufen genötigt hat. Ich muss nichts zu dem Thema sagen, weil sie regelmäßig von sich aus auf die Idee kommt. Als besonderes Highlight erzählt sie mir, dass sie im März zum letzten Mal ihre Tage hatte. Drei Wochen lang blutete sie, möglicherweise zum letzten Mal in ihrem Leben auf diese Art. Zumindest, wenn innerhalb eines Jahres keine weiteren Blutungen zu verzeichnen sind. Da sie mir das schon öfter erzählt hat, bin ich nicht überrascht. Anschließend erzählt sie von ihren Zähnen, wie sie viele davon verloren hat, von Karies und dem neuen Gebiss. Dann noch, dass der Hund, den sie Gassi führt, morgens Pippi und Kacka machen muss. Das ist ein herrlicher Kontrast zu der möglichen Abmahnung und trockenen Datenbankeinträgen. Und die Woche ist noch nicht zu Ende.

Die rothaarige Ukrainerin erzählt vom Coaching mit unserem ukrainischen Coach, der einst nur Übersetzer war. Obwohl sie sich nicht als Helferin für den Elektrobereich bewerben wollte, hat er sie dazu überredet. Vielleicht ist er deshalb einer unserer Top-Vermittler.

Ein früherer Teilnehmer schreibt mir im Stundentakt, dass noch immer das Überbrückungsgeld nicht auf seinem Konto ist. Es hätte vor acht Tagen schon gezahlt werden sollen, wurde es aber nicht und er hat nun kein Geld und ist durchaus verzweifelt. Für mich ist das doppelt ärgerlich, denn ich habe ihm gesagt, dass alles problemlos laufen wird. Bei einem anderen Teilnehmer, für den ich ebenfalls Überbrückungsgeld beantragt habe, klappte es, während dieser Teilnehmer erst nachweisen musste, dass er vom neuen Arbeitgeber keine 700€ überwiesen bekam, außerdem musste er seine Kontoauszüge vorlegen. Nichts davon musste der andere Teilnehmer machen. Somit ist es wenig verwunderlich, dass manch Arbeitsloser misstrauisch und überfordert ist, wenn es um das Thema Überbrückungsgeld geht. Faszinierend an dem Fall ist auch, dass ich die zuständige Person aus der Leistungsabteilung nicht mehr ans Telefon bekomme und auch keinen Rückruf erhalte und dem verzweifelten Teilnehmer somit nicht weiterhelfen kann. Wenn wir hier so etwas abliefern würden, gäbe es dafür sicher eine Abmahnung. Verrückte Welt.

Am Abend hat Heiko ein Jobangebot für mich bei einer Versicherung in der Poststelle. Leider besteht man da auf einer 40 Stunden Woche, weshalb ich mich nicht weiter damit beschäftige.

Freitag. Der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub beginnt ruhig und steigert sich langsam. Zunächst besucht uns Kirsten, dann geht der Teilnehmer, der erst ab einem Stundenlohn von über 20€ Bewerbungen verschickt, schon nach etwa 20 Minuten wieder, weil er meint, dass er genug getan hat. Hätte ich ihn nicht genötigt, zwei Bewerbungen zu schreiben, hätte er gar nichts gemacht. Da er erwachsen ist, muss er wissen, was er tut.

Später ruft Oma Sheriff an und fragt, ob der ukrainische Coach noch bei uns eingesetzt wird. Laut Einsatzplan nicht, aber Montag war er hier. Niemand weiß, was Sache ist, der ukrainische Coach, der ganz alleine eine Maßnahme betreut, hat aber, wie er sagt, am nächsten Montag keine Zeit. Da ich Inkompetent bin und dem Einsatzplan nicht traue, einigen wir uns darauf, dass Oma Sheriff sich nächste Woche darum kümmert.

Zum Abschluss des Tages erscheint der frühere Teilnehmer, der noch immer sein Überbrückungsgeld nicht bekommen hat, bei uns. Verzweifelt, aufgebracht, laut. Ich versuche zu beschwichtigen, Jörg bewirkt eher das Gegenteil. Ich schlage vor, es am Montag noch einmal telefonisch bei der zuständigen Mitarbeiterin aus der Leistungsabteilung zu versuchen und wenn das nichts bringt, den Leiter des Jobcenters einzuschalten. Jörg findet, wir fallen damit der Mitarbeiterin in den Rücken. Ich meine, dass sie nun genug Zeit hatte, es zu klären. Der Mann braucht Geld für sich und seine Familie. Jörg möchte, dass der Mann direkt zum Jobcenter geht, ich weise auf sein schlechtes Deutsch und den „Türsteher“, der ihn nicht reinlassen wird, hin. Letztlich führt diese Diskussion dazu, dass der frühere Teilnehmer aufsteht, schimpft, dass niemand ihm hilft und uns wütend verlässt. Hätte ich Führungsqualitäten, hätte es keine Diskussion gegeben und es wäre gelaufen, wie ich gesagt habe.

Jörg sagt, dass er es bewundert, dass ich während der ganzen Diskussion so ruhig geblieben bin. Ich wüsste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Es reicht doch, wenn alle anderen emotional sind. Der ganze emotionale Rotz führt doch zu nichts. Stellen Sie sich nur vor, was passiert, wenn da niemand ist, der Ruhe bewahrt. Chaos. Katastrophen. Untergang. Gruselig ist das.

Später schreibt mir der frühere Teilnehmer eine Mail und entschuldigt sich für sein Verhalten. Schreibt, dass er gehen musste, weil er sonst die Kontrolle verloren hätte. Er hat Angst, dass er die Wohnung verliert, Angst zurück in die Ukraine zu müssen, Angst vor dem Krieg, Angst um seine Frau, seine Tochter. Deshalb war er laut und bittet noch mehrfach um Entschuldigung. Ich bin überrascht über die Mail und antworte, dass er am Montag ins Büro kommen soll und Jörg dann versucht, die Sache zu regeln. Mehr kann ich nicht für ihn tun, denn mein Urlaub beginnt genau jetzt.

2 Kommentare

  1. Mann Mann Mann – Vorschriften sind zum befolgen da. Effizienz ist unwichtig, Prozesse sind das gelbe. Ich frage mich ernsthaft, wie du es zum Stellvertreter geschafft hast 🤔

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert