Ausnahmesituation

Tag 1
Als mein Telefon klingelt und ich den Klingelton, den ich meinen Eltern zugewiesen habe, höre, weiß ich sofort, dass etwas schrecklich passiert sein muss. Es ist 18.58 Uhr und normalerweise sollten meine Eltern jetzt beim Kegeln sein. Die Stimme meines Vaters klingt nicht gut. Meine Mutter liegt im Krankenhaus. Es sieht nicht gut aus. Sofort ziehe ich mich an und fahre in Begleitung von Agens zu meinem Vater. Und obwohl mein Vater nicht wirklich sagen konnte, was geschehen ist, bin ich panisch und sicher, dass meine Mutter gestorben ist.

Mein Vater wartet bereits auf uns und erzählt, dass meine Mutter beim Kegeln umgefallen ist. Einfach so. Es hat lange gedauert sie wiederzubeleben. Hoffentlich nicht zu lange.

Wir fahren zum Krankenhaus. Dort kommen wir allerdings heute nicht weiter. Wir können heute nicht zu ihr. Mein Vater erzählt, dass sie umfiel, es fast fünfzehn Minuten gedauert hat bis der Krankenwagen eintraf und es insgesamt fast 45 Minuten gedauert hat bis meine Mutter wiederbelebt werden konnte. 45 Minuten sind eine lange Zeit. Bis der Krankenwagen kam hat mein Vater zusammen mit noch jemandem die Wiederbelebung gemacht, anschließend haben die Ärzte weitergemacht. Ich weiß nicht, wie mein Vater das alles ertragen kann. Ich kann es irgendwie nicht.

Wir reden mit dem Stationsarzt, der auch der Notarzt war, der meine Mutter zuerst versorgt hat. Er redet sehr viel, er wirkt freundlich und vielleicht ist er sogar einigermaßen zuversichtlich. Ich kann alles verstehen, was er sagt, doch weiß ich nicht, was er sagt. Zu viele Informationen, zu tief der Schock. Meine Mutter lebt, alles andere wird sich zeigen. Ich bin völlig aufgelöst und überfordert. Ich kann mit Schicksalen nicht umgehen. Erst Recht nicht, wenn sie mich persönlich betreffen. Und wie soll ich in meinem Zustand stark sein und meinem Vater helfen? Wie beschissen muss es ihm gehen? Unmöglich, mir das vorzustellen.

Wir fahren zu meinem Vater, sitzen dort im Wohnzimmer und wissen nichts zu sagen. Kommunikation in solchen Ausnahmesituationen ist vermutlich immer so oder ähnlich. Mir ist schlecht. Ich versuche einen Apfel zu essen, schaffe es aber nicht ganz. Mein Vater sieht natürlich sehr besorgt und ratlos aus. Wir fragen uns, ob wir es irgendwie verhindern hätten können meine Mutter zu irgendwelchen Vorsorgeuntersuchungen schicken sollen. Doch das ist albern. Was war, ändert nichts daran, was jetzt ist. Und jetzt ist es beschissen. Zeitreisen sind nicht erfunden, die Situation nicht zu ändern.

Irgendwann fahren wir zu mir und lassen meinen Vater zurück. Ich bin froh, nicht alleine zu sein. Denn alleine würde ich das jetzt nicht ertragen.

Tag 2
Die Nacht ist alles andere als gut. Ich kann nicht einschlafen. Zu viel Panik in meinem Kopf. Immer wieder dieselben Gedanken. Meine Mutter stirbt. Meine Mutter ist tot. Sie stirbt, sie ist tot. Tot. Tot. Tot.
Ich atme schnell, vielleicht hyperventiliere ich auch in irgendeiner Form. Agnes versucht, mich zu beruhigen. Zunächst wenig erfolgreich. Ich bin aufgewühlt, schrecke auf, stammle nein, nein, nein, bin völlig außer mir. Agnes wird nun etwas direkter. Ich weiß nicht einmal wirklich, was sie alles zu mir sagt, ihr Ton ist jedenfalls sehr deutlich und ihr Anliegen auch. Ich muss mich zusammenreißen, weil es sonst nicht zu ertragen ist. Ihre eindringlichen Worte scheinen zu wirken, ich beruhige mich und schlafe sogar eine Weile in dieser Nacht. Ohne Agnes hätte ich mich mit Promethazin betäubt, obwohl ich weiß, dass das auch keine Lösung ist.

Am Tag dürfen wir endlich zu meiner Mutter. Sie liegt auf der Intensivstation und ist voller Schläuche und Kabel. Der erste Anblick ein Schock. Mein Vater bricht fast zusammen, ich ebenso. Heftig, wie so ein Anblick einen schockieren kann. Der Stationsarzt ist wenig zuversichtlich. Wir müssen abwarten. Was soll denn das?

Tag 3
Es ist Sonntag und ich erfahre von dem Stationsarzt, dass meine Mutter neunmal mit Elektroschocks ins Leben zurückgeholt wurde. Normalerweise macht man das nur etwa dreimal, aber da das Herz meiner Mutter eine gute Reaktion zeigte, wurden so viele Versuche unternommen.
Der Stationsarzt ist heute zuversichtlicher. Gestern dachte er, dass es vorbei ist, weil die Werte am Morgen alles andere als gut waren. Nun ist er vorsichtig optimistisch. Ich bin geschockt, weil das Wissen, dass meine Mutter gestern auf der Kippe stand oder lag, quasi fast gestorben wäre, etwas ist, was vermutlich logische Konsequenz des Vorfalls ist, aber dennoch etwas ist, dass irgendwie auch völlig unvorstellbar ist. Doch nun soll Zuversicht dem Schock weichen, weil einige Organe, die gestern völlig zu versagen drohten, nun wieder arbeiten. So muss es einfach weitergehen. Die angekündigte Dialyse wird als Vorsichtsmaßnahme von vorübergehender Dauer angekündigt. Vorübergehend ist gut. Daran, dass es vielleicht nicht vorübergehend ist, mag ich nicht denken. Das darf nicht sein.

Tag 4 bis Tag 6
Die nächsten Tage sind ein Wechselbad der Gefühle. Und mir geht es dementsprechend. Mal besser, mal gar nicht gut. Haben die Ärzte schlechte Nachrichten, so bin ich den ganzen Tag angespannt, ziemlich negativ eingestellt und mir ist schlecht. Meine Gewohnheit, stets das Schlimmste zu befürchten, macht mir zu schaffen und es fällt mir schwer zu essen oder zu entspannen. Meinen Vater in dieser Situation zu sehen und ihm nicht wirklich helfen zu können, macht mich hilflos und ratlos zugleich. Er kümmert sich rührend, steht stundenlang an ihrem Bett und hofft und bangt. Es muss furchtbar sein, wenn man plötzlich in eine solche Situation gerät. Wieder empfinde ich das Leben als grausam. Glaube, dass Menschen nur Spielfiguren sind, die der oder die Spieler, wenn sie keinen Spaß mehr bereiten, sterben lassen oder ihnen, weil es sonst so langweilig ist, Schicksalsschläge erteilen. Das mag bescheuert klingen, aber das Gegenteil kann mir niemand beweisen. Niemand weiß doch wirklich, ob wir nichts weiter als Spielfiguren sind. Ich wäre lieber eine Spielfigur ohne Empfindungen. Vielleicht ein Stein oder ein Stuhl. Aber vorher möchte ich, dass dieses Leid hier sofort endet.

Tag 7
Meine Mutter reagiert auf die Ansprache des diensthabenden Arztes durch eine Art Stirnrunzeln. Faltenbildung zwischen den Augen. So wie bei mir, wenn ich unentspannt bin. Eine Ähnlichkeit, die mir bisher nie aufgefallen ist, die aber nun klar und deutlich erscheint. Sie reagiert skeptisch, aber sie reagiert. Eine gewisse Erleichterung, dass die Dinge ihren Lauf nehmen, breitet sich aus. Wird am Ende vielleicht alles wieder gut? Oder zumindest so gut, dass es sich gut damit leben lässt? Es wäre mehr als wünschenswert.

Tag 8
Am Nachmittag des achten Tages liegt meine Mutter recht aufrecht in ihrem Bett, ihre Haare wurden gemacht und sie sieht verändert aus. Irgendwie so als würde es ihr besser gehen. Dabei ist auf den Monitoren nicht zu erkennen, dass dem so ist.
Ich stehe neben ihr, betrachte sie, wie sie, noch immer hilflos, in ihrem undefinierbaren Zustand schwebt und blicke dann wieder auf die Monitore. Hilflos halte ich ihre Hand, streichel ihre Stirn und werde von einer Krankenschwester angesprochen, dass ich doch mit meiner Mutter reden soll. Ich bin überfordert und schäme mich. Die Krankenschwester spricht meine Mutter laut und deutlich an und beobachtet sie sehr genau. Keine Reaktion zu erkennen. Die Krankenschwester meint allerdings, dass die Stirnfalten meiner Mutter sich verändert haben und spricht sie darauf an. Keine Reaktion. Dann geht sie wieder.
Ich spreche meine Mutter an. Eine Besucherin des Zimmernachbarn starrt mich an. Ich schwitze und schweige, weil es mir peinlich ist. Anstarren ist respektlos. Warum kann die Frau sich nicht um ihren Patienten kümmern und muss mich anstarren?
Erst als sie später gegangen ist, spreche ich meine Mutter erneut an und beobachte ihre Stirn. Ich bilde mir ein, dass die Stirnfalten sich entspannt haben. Meine Mutter wirkt heute auf mich sowieso sehr entspannt. Und so keimt erneut Hoffnung auf, dass alles wieder gut wird und meine Mutter bald über den Berg ist. Jetzt müssen nur noch ihre Nieren anspringen. Und bitte keine weiteren schlechten Nachrichten.

Am Sonntag soll sie kurz aus dem Tiefschlaf geholt werden, um zu testen, ob und wie sie reagiert. Denn noch weiß niemand, ob ihr Gehirn nicht doch einen Schaden genommen hat.

Später besucht mein Vater meine Mutter. Auch er findet, dass sie völlig entspannt und verändert aussieht. Als er mich später anruft, höre ich zum ersten Mal so etwas wie Zuversicht in seiner Stimme. Jetzt bitte keine erneuten Rückschläge.

Tag 9
Der neunte Tag beginnt da, wo der letzte Tag aufgehört hat. Es gibt minimale Reaktionen meiner Mutter. Mal kaut sie auf dem Tubus herum, mal runzelt sie die Stirn. Zuversicht breitet sich aus.
Als ich sie besuche, steigt ihr Blutdruck an und ich sehe deutlich, wie ihre geschlossenen Augen sich bewegen. Ich versuche sie zu beruhigen. Es scheint zu funktionieren, sie schläft entspannter. Der diensthabende Arzt ist guter Dinge und ich fahre relativ entspannt zurück nach Hause. Wir mögen diesen Arzt. Er ist blond und immer sehr freundlich und optimistisch. Das tut gut in dieser doch so miserablen Situation.

Als mein Vater sie fast zwei Stunden später besucht, hat sich die Situation verändert. Der Aufwachversuch wurde abgebrochen und meine Mutter schläft nun wieder tiefer. Ihr Blutdruck stieg während des Aufwachens plötzlich zu stark an und so blieb den Ärzten keine andere Wahl als den Versuch abzubrechen.

Am Abend besucht mein Vater mich. Noch bevor er mir von dem Abbruch berichtet, sehe ich ihm an, dass er keine guten Nachrichten hat. Der blonde Arzt findet es nicht so schlimm, dass der Versuch abgebrochen werden musste und hat ihm wohl auch erzählt, dass so etwas öfter vorkommt, dennoch sind wir heute niedergeschlagener als an den Vortagen. Wir hatten halt so gehofft, dass meine Mutter langsam zurück ins Leben kehrt und uns schon bald erkennt und wirklich über den Berg ist. Wir müssen lernen, dass der Weg lang und beschwerlich sein wird und Rückschläge einfach dazugehören und nicht endgültig sein müssen. Hoffentlich nicht endgültig sind.

Tag 10
Der zehnte Tag beginnt durchaus angespannt. Im Krankenhaus folgt nach betreten des Zimmers aber die erste Entspannung. Ihr Blutdruck ist zwar etwas höher, aber meine Mutter wirkt dennoch nicht verkrampft. Sie kaut gelegentlich auf ihrem Tubus herum und sieht dabei irgendwie entspannt aus. Ich denke an Maggie Simpson, wie sie immer an ihrem Schnuller saugt. Der Vergleich ist vermutlich unpassend, wenn nicht sogar dämlich, aber er kommt mir so in den Sinn. Es wirkt einfach friedlich und unbeschwert. Doch es wirft auch die Frage auf, was passiert, wenn es beim Kauen auf dem Tubus bleibt? Was, wenn wir keine Fortschritte mehr zu erwarten haben? Solche Gedanken sind sicher nicht hilfreich, doch unvermeidbar. Für immer Maggie Simpson? Hoffentlich nicht.

Wie eng Freud und Leid zusammen liegen, zeigt sich bei dem Mann im Nebenzimmer. War ich in den letzten Tagen fast neidisch, dass er reden und essen konnte, so bin ich es jetzt nicht mehr. Der blonde Arzt erklärt den Angehörigen den Ernst der Lage, der Patient bekommt davon nichts mit. Betretene Mienen um sein Bett. Er scheint im Sterben zu liegen. Sein Herz zu schwach. Die Medizin kann viel, Wunder vollbringen aber eher nicht.
Plötzlich bäumt der Mann sich auf, röchelt, ringt nach Luft, dann sinkt er wieder zusammen. Er ist nicht tot, aber sicher nicht weit davon entfernt.

Der blonde Arzt, er ist mittlerweile unser Lieblingsarzt, kommt zu uns. Eine gewisse Zuversicht ist deutlich zu erkennen. Sie versuchen erneut meine Mutter zu wecken. Zur Unterstützung bekommt sie ein Beruhigungsmittel. Die Werte sind stabil, nur die Nieren sind es nicht. Eine endgültige Prognose zu den Nieren ist aber noch nicht möglich. Bloß keine Dialyse für immer.
Der blonde Arzt spricht meine Mutter laut und deutlich an und sagt ihr, dass sie die Augen öffnen soll. Keine Reaktion. Er kneift sie, sie reagiert leicht. Ich bekomme es nicht mit, weil ich gerade auf einen ihrer Monitore schaue. Weiteres Kneifen bringt keine Reaktion. Warum musste ich nur auf den Monitor schauen als meine Mutter reagiert hat?

Der blonde Arzt hofft noch immer, um einen Luftröhrenschnitt herum zu kommen. Sollte das Aufwachen in den nächsten zwei Tagen allerdings nicht klappen, wird es sich der Schnitt allerdings nicht vermeiden lassen. Vielleicht hat die Beatmung beim Aufwachen gestern zu dem hohen Blutdruck beigetragen. Für Patienten ist es oft leichter aufzuwachen, wenn durch die Luftröhre beatmet wird. Die Beatmung ist zum Glück nur unterstützend und zur Sicherheit. Meine Mutter atmet schon recht gut selbständig, sagt der blonde Arzt bevor er weiter muss. Wir bleiben noch eine Weile und freuen uns über jedes kauen auf dem Tubus. Sind wir zu optimistisch? Vielleicht sogar naiv?

Da es meinem Vater mit dem Stress nicht gut geht, bekommt er von mir zu den Baldrianperlen, die er seit ein paar Tagen schon nimmt, auch noch Calmvalera. Er will zwar nicht, aber er muss schließlich auch mal entspannen. Vielleicht hilft ihm das Mittel dabei.

Am Nachmittag besuchen wir meine Mutter erneut. Der blonde Arzt ist gerade dabei sie anzusprechen und optimistisch, obwohl sie noch immer nicht die Augen geöffnet hat. Als mein Vater sie anspricht, bewegt sie ihren Kopf. Wir sind voller Hoffnung und Angst zugleich. Wird sie uns erkennen? Wird sie versuchen den Tubus rauszureißen?
Mein Vater redet noch oft zu ihr, doch scheinbar hat sie beschlossen, dass sie jetzt nicht mehr reagieren mag.
Meinem Vater kommen die Tränen. Die Situation ist nicht leicht, weil wir nicht wissen, was passiert, wenn sie wirklich aufwacht. Falls sie aufwacht.
Nach einer Weile sagen wir ihr, dass wir später wiederkommen und sie auf uns warten soll. Sie wirkt entspannt, wir wären es gerne.

Am Abend schauen wir erneut nach meiner Mutter. Sie scheint tiefer zu schlafen, ihre Hände sind angebunden. Wir reden mit ihr und ein paarmal bewegt sie ihren Kopf ein wenig. Aufgeregt und gespannt betrachten wir den Vorgang. Doch tun wir es nicht mit ausschließlicher Freude oder gar Begeisterung, auch Angst begleitet diesen Vorgang. Denn was ist, wenn am Ende nicht mehr möglich sein wird als diese kleine Bewegung? Was, wenn sie weder uns noch sonst etwas erkennt, sondern durch den Herzstillstand, der nicht kurz war, einen Gehirnschaden davongetragen hat? Nein, Erleichterung sieht wohl anders aus. Diese Angst wird uns vermutlich bis zur Gewissheit begleiten. Vielleicht sogar darüber hinaus.

Wenig später erscheinen der blonde Arzt und ein ebenfalls junger Kollege zur Übergabe. Der blonde Arzt, der jetzt mehrere Tage durchgearbeitet hat, übergibt an seinen Kollegen. Dieser ist nicht ganz so zuversichtlich, was meine Mutter angeht, interpretiert das Kauen auf dem Tubus als Reflex. Als der blonde Arzt, meine Mutter kneift und diese, verspätet zwar, darauf reagiert, sagt er, dass es kein Reflex, sondern eine Reaktion war. Hat er Recht?

Morgen wird wohl dennoch der Luftröhrenschnitt vorgenommen, um die Beatmung durch den Hals möglich zu machen und den Tubus zu entfernen. Das soll meine Mutter entlasten und Entlastung ist immer gut. Außerdem ist die Beatmung nur unterstützend, da meine Mutter schon gut selbständig arbeitet.
Leider sind die Nieren noch immer nicht wirklich besser. Allerdings besser als in den Tagen zuvor. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben, obwohl mit jedem Tag die Gefahr steigt, dass meine Mutter eine Dialysepatientin bleibt. Das ist nicht gut, gar nicht gut.

Tag 11
Elf Tage liegt meine Mutter nun auf der Intensivstation. Und noch immer gibt es keine wirklichen Prognosen, noch weiß niemand, wie es weitergeht. Heute soll der Luftröhrenschnitt gemacht werden. Und die Dialyse. Dann wird der Weckvorgang fortgesetzt. Und so wechseln sich die Erleichterung, dass der Zustand meiner Mutter relativ stabil ist, mit der Angst, dass meine Mutter nicht wirklich aufwacht oder nicht mehr sie selbst sein wird, wenn sie aufgewacht ist, ständig ab.

Der Besuch am Vormittag bringt keine wirklichen Erkenntnisse. Sie scheint tiefer zu schlafen. Wir gehen davon aus, dass das so ist, weil sie heute den Luftröhrenschnitt bekommt. Die Dialyse hat noch nicht stattgefunden, wird aber noch gemacht. Kein Arzt zu sehen. Mein Vater den Tränen nah, ich paralysiert und starrend. So stehen wir am Bett. Ab und zu redet mein Vater zu meiner Mutter, ich halte ihre Hand und beobachte nur. Nach einer Weile verlassen wir sie.

Am Nachmittag bin ich erneut bei ihr. Die Dialyse hat stattgefunden, der Schlaf scheint tief. Ich frage nach einem Arzt. Wenige Minuten später erscheint der Stationsarzt und ich frage, ob sich etwas verändert hat. Er verneint. Ich frage ihn, warum meine Mutter heute tiefer schläft. Er wird komisch als hätte ich seine Arbeit in Frage gestellt. „Ich könnte jetzt einfach behaupten, dass es an der Dialyse liegt.“, sagt er in einer Art, die mir ziemlich unpassend vorkommt. Ich sage erneut, dass ich das Gefühl habe, dass meine Mutter tiefer schläft. Außerdem bekommt sie mehr von den Mitteln, die sie schlafen lassen, was deutlich an den Einstellungen der Geräte zu erkennen ist. Wieder reagiert er unangemessen, wie ich finde. Ich ignoriere sein Verhalten, bleibe freundlich und frage nach seiner Meinung. Diese hat nichts vom Optimismus, den der blonde Arzt gestern vermittelt hat. Was die Nieren angeht ist der Stationsarzt wenig optimistisch. Er geht fast von einer lebenslangen Dialyse aus. Doch damit nicht genug. Er redet nun davon, dass meine Mutter sicher einen Hirnschaden hat, die Schwere allerdings nicht abzuschätzen sei. Nicht total schlimm, was er an gewissen Reaktionen meiner Mutter erkennen kann, aber trotzdem ein Schaden. Ich bin geschockt, überfordert und sacke innerlich zusammen. Und dann hat er doch noch etwas Positives zu berichten. Das Herz hat sich gut erholt, das Herz ist stark. Er kann allerdings noch immer nicht sagen, warum meine Mutter am 07. Juni zusammengebrochen ist. Wird er vermutlich auch nie sagen können. Die Nieren, so meint er, müssen jedenfalls schon vorher geschädigt gewesen sein, denn sonst hätten sie sich längst wieder erholt. Er sagt, dass es bei Patienten mit Diabetes und Bluthochdruck oft vorkommt, dass die Nieren geschädigt werden. Sie hätten vermutlich öfter kontrolliert werden müssen. Doch so etwas hat der Hausarzt meiner Mutter nie empfohlen. Der Hausarzt, zu dem auch mein Vater geht, empfiehlt selten etwas und macht scheinbar nur das Nötigste. Sollte es meiner Mutter wieder besser gehen, darf sie da eigentlich nicht mehr hingehen. Doch es wird sicher schwer, sie davon zu überzeugen. Ich würde gerne mit ihr darüber diskutieren, warum sie einen anderen Hausarzt braucht. Denn könnten wir darüber diskutieren, wäre sie über den Berg und wir alle mit einem großen Schrecken davongekommen.
Der Luftröhrenschnitt soll spätestens übermorgen gemacht werden. Da wir schon seit Tagen hören, dass der Eingriff stattfinden soll, aber bisher nicht stattgefunden hat, weiß ich nicht, was ich von der Aussage halten soll.

Das wenig erbauliche Gespräch mit dem Stationsarzt, sorgt für die nächste Krise bei mir. Wie erkläre ich es meinem Vater? Wie soll das Leben weitergehen? Macht das Leben gerade noch irgendeinen Sinn? Muss ich mit meiner Mutter abschließen? Wird sie ein Pflegefall? Was können wir tun und wie sollen wir das alles ertragen? Zum Glück ruft Agnes mich an, um mit mir zu reden. Sie rettet mich vor dem totalen Absturz. Ohne sie wäre ich völlig hilflos und würde mit Sicherheit meinen Zustand mit Diazepam oder auch Promethazin betäuben.

Meinen Vater schocken meine Berichte ebenso. Vielleicht hätte ich ihm nichts sagen sollen. Obwohl er sehr niedergeschlagen ist, schafft er es irgendwie, sich und uns positive Aussichten aufzumalen. Es steht ja noch nichts endgültig fest. Wir reden über den Hausarzt und darüber, dass meine Mutter in den letzten Wochen nicht wirklich auf sich aufgepasst hat. Aber hätten wir ihr helfen können, sie dazu bringen können, gewisse Dinge besser nicht zu essen, öfter mit uns rauszugehen und sich öfter ärztlich untersuchen zu lassen? Schwer zu sagen, aber unwahrscheinlich und wenn wir ehrlich sind, zu diesem Zeitpunkt auch völlig unwichtig, weil der Istzustand unsere Gedanken zunichtemacht. Und niemand weiß wirklich, ob dieser Vorfall zu verhindern gewesen wäre.

Am Abend, nach dem Krankenbesuch, kommt mein Vater zu mir. Wir essen etwas und schauen dann einen Film. Wirklich ablenken kann uns das nicht. Und so bleibt die Hoffnung auf den nächsten Tag, auf positive Nachrichten und dass es endlich aufwärts geht.

Tag 12
Dienstag Der Tag beginnt mit Post vom Amtsgericht. Ich bin nun Ersatzbetreuer meiner Mutter und werde gebeten, einen Termin bei Gericht zu vereinbaren, um einen Betreuerausweis zu erhalten. Betreuung klingt bedrohlich. Nicht nur, weil es nach Verantwortung klingt. Es unterstreicht irgendwie den Ernst der Lage. Die Gründe für die Entscheidung klingen plausibel, aber ebenfalls nicht gut. Meine Mutter leidet an Kammerflimmern, Reanimation, septischem Schock sowie akutem Nierenversagen. Ziemlich viel für einen einzigen Menschen, wie ich finde.

Der Vormittagsbesuch findet erneut zusammen mit meinem Vater statt. Der Blutdruck meiner Mutter liegt bei etwa 150/65 und deutet meiner Meinung darauf hin, dass sie wacher ist. Der Stationsarzt bestätigt dies später. Sämtliche Mittel, die meine Mutter schlafen ließen, wurden abgesetzt. Ab und zu scheint sie auf unsere Ansprache zu reagieren. Kauen auf dem Tubus, versuche den Kopf zu drehen und Augenbewegungen machen Hoffnung, dass sie bald endlich wach wird. Gleichzeitig macht mir das alles wahnsinnige Angst. Ich weiß nicht, ob ich in dem Moment zugegen sein möchte, wenn sie aufwacht. Denn ich fürchte, dass sie sich erschreckt, vor allem wegen des Beatmungsgerätes, und sich sehr aufregt. Andererseits hoffe ich, dass meine Anwesenheit eben solchen Schock eventuell mindern kann. Mein Vater kämpft wie immer mit seinen Tränen. Meine Mutter hat auch Tränen in einem Auge. Mein Vater wischt sie vorsichtig weg und es scheint so als würde meine Mutter das merken, was ihre Augenbewegungen vermuten lassen. Dann schläft sie wieder ein. Ihre Gesichtszüge sind heute angespannter, was für mich bedeutet, dass sie so weit wach ist, die Situation skeptisch zu erleben. Ich weiß nicht, ob dem wirklich so ist, aber ich bilde es mir einfach ein. Das Aufwachen und die Umgebung strengen sie sicher an. Ich versuche sie zu beruhigen.
Im Zimmer riecht es nach Ausscheidungen und mir wird fast schlecht. Schon gestern fing es an mit diesem Geruch und es fällt mir nicht leicht nicht zu würgen. Überhaupt ist der Krankenhausgeruch mittlerweile allgegenwärtig. Ständig habe ich das Gefühl, dass dieser Geruch an mir, meiner Kleidung und vor allem in meinem Kopf, auftaucht. Eine Kleinigkeit, die mir aber wohl in Erinnerung bleiben wird.
Was die Nieren angeht, bleibt der Stationsarzt skeptisch, aber nicht komplett hoffnungslos. Er will zunächst wissen, wie sie reagiert, wenn sie wach ist und hofft, dass der Luftröhrenschnitt nicht nötig ist. Das hoffe ich ebenso. Erneut kaut meine Mutter auf dem Tubus herum, versucht die Augen zu bewegen und bleibt dann doch im Schlafmodus.

Am Nachmittag besuche ich sie erneut. Sie ist noch immer nicht bei Bewusstsein. Ihr Blutdruck liegt bei 155/75 und ihr Puls zwischen 100 und 116. Die Herzfrequenz ist ebenfalls zu hoch und liegt fast ständig über 100. Obwohl ich, das muss ich gestehen, irgendwie erwartet, oder zumindest, gehofft habe, dass sie mittlerweile wach, wenigstens wacher ist, denke ich dennoch, dass alles okay ist. Es dauert halt etwas länger und immerhin macht sie den Mund schon weiter auf, wenn sie zwischendurch mal wach zu werden scheint. Das muss einfach wieder werden. Ich will nicht ohne meine Mutter sein.

Am Abend besucht mein Vater meine Mutter, redet mit dem Stationsarzt und bekommt eine Nachricht, die uns fast völlig aus der Bahn katapultiert. Seit wir mit dem Stationsarzt reden, gibt es fast nur schlechte Nachrichten. Nun teilt er meinem Vater mit, dass meine Mutter vermutlich nicht mehr aufwachen wird. Zu lange dauert ihr Zustand schon an und obwohl sie keine Medikamente mehr bekommt, macht sie keine erkennbaren Fortschritte. Ich habe keine Ahnung, wie sehr meinen Vater diese Aussage trifft, doch als er mir später am Telefon davon berichtet, breche ich innerlich zusammen, mein Magen rebelliert, ich bekomme Panikattacken und bin völlig fertig. Ich renne in der Wohnung auf und ab, raufe mir die Haare, will Diazepam, versuche es aber dennoch mit Calmvalera, Nuxal und den Bach Rescue Tropfen. Weil ich Agnes versprochen habe, kein Diazepam mehr zu nehmen.
Mein Vater kommt vorbei und nach einer Weile werde ich etwas ruhiger. Wir sind beide geschockt, doch mein Vater schafft es, die Hoffnung nicht aufzugeben, daran zu glauben, dass meine Mutter wieder wird. Ich bin dazu kaum in der Lage. Ich schaffe es lediglich die sogenannten Tatsachen für eine Weile von mir fortzuschieben und überlege, ob ich zu meinem Vater ziehen soll. Das Leben erscheint zu diesem Zeitpunkt nichts weiter als eine endlose Qual zu sein, die früher oder später sowieso mit dem Tod endet. Vielleicht wird nach dem Tod alles noch viel schlimmer. Wer weiß das schon? Und so bin ich von meiner vertrauten Angst vor dem Leben und dem Tod umgeben und will nur, dass das Leid bald ein Ende findet.
Glücklicherweise bin ich am Abend müde, möglicherweise zeigen die Bach Rescue Tropfen auch eine Wirkung. Ich telefoniere mit Agnes, die mehr und mehr zu meiner wichtigsten Bezugsperson geworden ist, und quatsche sie im Halbschlaf zu. Spreche Dinge aus, die ich nie aussprach, und bin froh, dass sie für mich da ist. Während des Gesprächs, welches eher einem Monolog gleicht, werden wir immer müder und schlafen schließlich ein.

Tag 13
Ich esse gerade eine Banane, als mein Telefon klingelt. Als ich Die Telefonnummer meines Vaters auf dem Display erkenne, bekomme ich einen Schreck. Sofort fürchte ich das Schlimmste und mein Magen dreht sich um. Zum Glück geht es nur um unsere Betreuungsaufgaben, zu der mein Vater Fragen hat. Es beruhigt mich, mit ihm zu sprechen. Dennoch geht es mir nicht gut. Ich fühle mich der Situation nicht gewachsen und will, dass das Leid endlich vergeht.

Später fahre ich ins Krankenhaus. Mein Vater, der schon da ist, hat erneut keine guten Nachrichten. Während des gestrigen Aufwachversuchs kam es zu einem unerklärlichen Zwischenfall. Nun ist meine Mutter wieder in dem Zustand ihrer Einlieferung. Alle Fortschritte scheinbar zerstört. Ihr Herz plötzlich wieder schwach. Sie hängt an der Dialyse, bekommt viele Medikamente und ist in tiefer Narkose.
Morgen soll der Luftröhrenschnitt durchgeführt werden, sagt der Stationsarzt, der mir mehr und mehr auf die Nerven geht. Positive Aussagen gibt es von ihm sowieso nicht. Der Luftröhrenschnitt, der letzte Woche so immens wichtig war, wird seit Tagen verschoben, obwohl er das Aufwachen erleichtern soll. Vielleicht bekam meine Mutter ja gestern wegen dem verdammten Tubus die Probleme. Vielleicht hatte sie Panik. Und vielleicht hätte mit der Beatmung durch den Hals so etwas verhindert werden können. Vielleicht wären wir längst weiter und meine Mutter wach. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, wie viel Verantwortung der Stationsarzt für die ganzen schlechten Nachrichten trägt, ich weiß nur, dass er komisch ist und bisher nichts gesagt oder getan hat, was die Situation für irgendeinen von uns erleichtert hätte. Ich finde ihn blöd.

Am Nachmittag ist es auf der Intensivstation unfassbar warm. Der bisher wärmste Tag des Jahres, was offiziell nicht bestätigt ist, sorgt für sehr schlechte Luft. Es erscheint mir schwierig, bei solchen Temperaturen gesund zu werden. Die Temperatur meiner Mutter ist auf 38,7 angestiegen. Es erscheint nichts greifbar, was den Zustand meiner Mutter verbessern könnte. Der Puls ist weiter um die 100. Dafür ist der Blutdruck unfassbar niedrig. 94/44. Ob das nur dem Tiefschlaf zuzuordnen ist, darf bezweifelt werden. Es riecht nach Urin und Kot. Fast muss ich würgen. Diese Temperaturen sind besonders für kranke Menschen eine einzige Qual.

Obwohl meine Mutter in keinem guten Zustand ist, komme ich heute, da ich auf jeglichen Kontakt zum Stationsarzt und seinen niederschmetternden Aussagen verzichtet habe, etwas besser mit der sicherlich weiter mehr als kritischen Situation klar. Natürlich macht es keinen Sinn, Wahrheiten zu verdrängen und die Augen vor den Tatsachen zu verschließen, doch möchte ich heute nichts davon hören. Die Schwere der Lage ist mir durchaus bewusst. Mehr kann ich aber gerade einfach nicht vertragen.

Tag 14
Der vierzehnte Tag bricht an. Ich muss ins Büro und kann somit erst am Nachmittag zu meiner Mutter. Ich hoffe, so wie ich es jeden Tag zu tun pflege, auf irgendeine positive Reaktion oder Erkenntnis, einen Hoffnungsschimmer, an den ich mich klammern kann. Was bleibt mir auch sonst übrig in dieser so deprimierenden und scheinbar nicht kontrollierbaren Situation, die einen guten Ausgang nicht nur in weiter Ferne unmöglich erscheinen lässt, sondern jeden Tag das Schlimmste befürchten lässt? Dabei will ich doch nur eine Chance für meine Mutter. Eine Chance, dass sie noch ein paar Jahre weiterleben kann. Etwas Spaß hat und die Freude findet, die sie bisher vielleicht noch nicht gefunden hat. Und mir erzählt, was sie wirklich angetrieben hat im Leben und was sie bedauert. Solche Gespräche gab es nämlich nie.

Als ich sie am Abend besuche ist der Luftröhrenschnitt gemacht. Ihr Gesicht ist nun viel besser zu erkennen und auf mich wirkt das alles entspannter. Ich hoffe, dass es für sie auch entspannter ist. Sie ist weiter im Tiefschlaf und acht Medikamente werden über Apparate in ihren Körper geleitet. Hauptsächlich fürs Herz und die Leber. Vermutlich auch welche zum schlafen und noch mehr. Ich weiß es nicht, hoffe aber, dass die Medikamente anschlagen. Außer Hoffnung bleibt einem nicht viel, wenn man so dasteht. Der Puls ist niedrig. Er geht teilweise runter bis auf 34. Nichts, was mich positiv in die Zukunft blicken lässt.
Ich möchte heute keinen Arzt sprechen, will keine negativen Nachrichten hören. Möchte in dem Glauben sein, dass alles, so wie es jetzt ist, genau richtig ist und Teil eines Weges ist, an dessen Ende es meiner Mutter wieder so gut geht, dass sie nach Hause kann und in der Lage ist, selbständig zu Leben. Nur bitte keine schlechten Nachrichten. Das zerrt einfach zu sehr an meinen Kräften. Vielleicht ist es falsch, die Augen vor der Realität zu verschließen, aber wie soll man es sonst denn bitteschön aushalten? Und so stehe ich, wie ich es seit Tagen mache, einfach nur da, schaue meine Mutter und den Monitor an, halte ihre Hand, streichle ihren Kopf und bin fassungslos hilflos. Zu mehr scheine ich nicht in der Lage zu sein. Als ich gehe, bin ich froh, den Stationsarzt heute nicht gesehen zu haben.

Tag 15
Gegen Mittag besuche ich kurz meine Mutter. Sie hängt erneut an der Dialyse. Der Geruch ist für mich nur schwer zu ertragen. Der Geruch begleitet mich schon seit Tagen und scheint mir auch überall hin zu folgen. Wäre der Geruch nur das einzige Problem, dann wäre es ein Problem, welches ich akzeptieren könnte.
Die Mittel, die meine Mutter in einen tiefen Schlaf versetzt haben, wurden mittlerweile reduziert. So macht meine Mutter gelegentlich Kaubewegungen. Diese für sie typischen Bewegungen mit dem Mund nähren die Hoffnung, dass sie sich doch wieder erholt, da sie ja sonst Bewegungen machen würde, die man als total untypisch für sie bezeichnen würde. Vielleicht mache ich mir mit dieser Erklärung auch nur selber Mut. Was, wenn diese Bewegungen das Einzige sein werden, was noch an meine Mutter erinnert und es keine weiteren Fortschritte gibt? Ich hasse derartige Gedanken, kann sie aber nicht verhindern.

Mein Vater scheint sehr stark daran zu glauben, dass es meiner Mutter bald besser geht und die Beatmung durch die Luftröhre der fehlende Schritt zur Genesung war. Nicht, dass ich nicht schon öfter ähnlich gedacht habe, mir allerdings macht die Tatsache Angst, dass es jetzt eigentlich keinen Grund mehr für sie gibt, nicht aufzuwachen. Der störende und möglicherweise Panik auslösende Tubus ist nun weg. Einem Aufwachen steht jetzt von der Seite nichts mehr entgegen. Jetzt liegt es an ihr. Und an den Schäden, die bereits entstanden sind. Was ist nun stärker? Meine Mutter oder die Schäden? Nicht auszudenken, wenn es die Schäden sind und es zur Gewissheit wird.

Auch am Nachmittag sind keine Veränderungen erkennbar. Seit heute bekommt meine Mutter wieder ein Antibiotikum. Ihre Temperatur liegt bei 38 Grad. Resigniert und fast teilnahmslos, stehe ich vor ihrem Bett. Mein Vater spricht sie oft an, ich weiß nichts zu sagen. Ich habe Angst vor jeder Veränderung und auch davor, dass sich nichts verändert. Ein konstanter Zustand bedeutet für mich sogar etwas Verlässliches. Das erscheint zwar absurd, aber wie soll man in so einer Situation auch normal sein? Normal gibt es doch eh nur in der Theorie. Gesicherte Studien oder Abhandlungen was normal oder unnormal ist, sind mir, zu Situationen wie dieser, nicht bekannt.
Wie immer betrachte ich das Krankenblatt meiner Mutter. Als würde ich wirklich etwas daran ablesen können. Am Wochenende soll es keine Dialyse geben. Von langsamem Aufwachen steht nichts geschrieben. Im Gegensatz zu heute Morgen liegt meine Mutter völlig teilnahmslos in ihrem Bett. Keine Reaktion auf meinen Vater, keine Reaktion auf Geräusche und auch keine Mundbewegungen. Ist das vielleicht ihre Zukunft? In einem Bett liegen und von mir und meinem Vater angestarrt werden. Und wir freuen uns über jede scheinbare Regung so lange, bis ein Arzt uns sagt, dass es nur Reflexe sind. Eine furchtbare und surreale Vorstellung, die durchaus real werden kann. Hilflos schaue ich sie an. Was nun? Irgendwelche Ideen?

Wenn es keine schlechten Nachrichten gibt, ich es schaffe, mich etwas zu entspannen, die Gedanken nicht die schlimmsten Szenarien ausmalen, schaffe ich es ausreichend zu essen. Ich bin gerade dabei zu essen, freue mich auf den Besuch von Petra, als mein Vater anruft. Weil der Anruf vereinbart war, gehe ich recht unbesorgt ans Telefon. Doch dann kommt alles anders als gedacht und der nächste Alptraum beginnt.
Mein Vater beginnt das Gespräch mit den Worten „Ich habe Scheiße gebaut“. Sofort steigt mein Puls, ich werde unruhig und will wissen, was geschehen ist. Er hat statt Diesel Super Plus getankt und ist ein paar hundert Meter gefahren, bevor er den Wagen abgestellt hat. Ich versuche ihn zu beruhigen und gehe sofort nach dem Gespräch nach unten, da er den Wagen in der Nähe meiner Wohnung abgestellt hat. Mein Vater ist in keinem guten Zustand und kann seinen Fehler nicht verstehen. Ich versuche ihn zu beruhigen, doch das klappt nicht. Er ist völlig in seiner Schleife gefangen. Ich weiß zu gut, wie sich das anfühlt, da ich solche Schleifen, in denen man nur noch das Negative sieht und es einen runterzieht und es einem zusehends schlechter geht, nur zu gut kenne.
Wir rufen den ADAC an, um den Wagen abschleppen zu lassen. Anschließend gehen wir in meine Wohnung. Dort angekommen geht es meinem Vater sehr schlecht. Er verzweifelt, ich versuche ihn zu beruhigen, scheitere und werde selbst immer unruhiger. Ich nehme Calmvalera, Nuxal und Bach Rescue Tropfen. Dann mache ich einen Fehler. Ich suche im Internet nach den Folgen, wenn man falsches Benzin getankt hat. Die Folgen sind angeblich verheerend und kosten mehrere tausend Euro. Ich weiß nicht wieso ich diese Informationen an meinen Vater weitergebe. Er bekommt einen roten Kopf, beschimpft sich für seinen Fehler und rennt in der Wohnung auf und ab. Er weint vor Verzweiflung und ich erkenne zum ersten Mal, dass er in solchen Situationen ist, wie ich es bin. Nur kommen solche Situationen bei mir häufiger vor. Da er einen knallroten Kopf bekommt, sich aber weigert, dass ich ihm den Blutdruck messe, messe ich meinen Blutdruck. 133 zu 89. Puls 64. Für meine Verhältnisse zu hoher Blutdruck. Plötzlich wird mein rechtes Ohr taub. Es fühlt sich betäubt an und nun bin ich endgültig in Panik.
Als es mir zehn Minuten später nicht besser geht, messe ich erneut den Blutdruck 137 zu 87. Puls 64. Mein Ohr ist noch immer taub und ich kann nicht gut hören auf dem Ohr. Das macht mich nur noch panischer. Petra ist nun da und ich bitte sie, mich ins Krankenhaus zu fahren, da ich einen Hörsturz oder Schlimmeres befürchte. Mein Vater muss auf den ADAC warten, Petra bringt mich ins örtliche Krankenhaus. Dort sagt man mir, dass ich nach Dortmund muss, weil es dort einen HNO-Arzt gibt. Ich fühle mich abgewimmelt und verlasse das Krankenhaus. Mein Ohr bleibt irgendwie taub. Das versetzt mich, verständlicherweise, noch immer in Panik. Ich fürchte, auf dem Ohr taub zu werden. Das ist alles zu viel für mich.

Weil ich mir Sorgen um meinen Vater mache und mittlerweile vermute, bzw. hoffe, dass meine Probleme vielleicht nur eine üble Muskelverspannung sind, fahren wir statt zum Krankenahaus zu meinem Vater und warten zusammen mit ihm auf den ADAC. Ich weiß nicht, ob das klug ist, aber meinen Vater alleine zu lassen, erscheint mir auch unklug. Und so treffe ich eine Entscheidung, von der ich hoffe, dass sie dir richtige ist. Trotz der besorgten Situation, spüre ich, dass es meinem Vater und mir gut tut, dass wir nicht alleine sind. War es die richtige Entscheidung?

Der Mann vom ADAC kommt, schleppt den Wagen zur Werkstatt und wir haben das Glück, dort die Tochter des Besitzers anzutreffen. Diese sagt uns, dass diese Woche schon mindestens acht Fahrzeuge wegen falscher Betankung gebracht wurden. Meinen Vater beruhigt das und die Hoffnung, dass der Schaden an seinem Wagen nicht zu groß und bezahlbar ist, kehrt zurück. Mein Ohr ist noch immer irgendwie taub.

Beruhigt bringen wir meinen Vater zurück und fahren anschließend zu mir. Das Taubheitsgefühl im Ohr bleibt und ich nehme eine Ibuprofen, reibe den Nacken mit Serpalgin ein und nehme mein Wärmekissen, um meinen Nacken zu wärmen. Leider vergesse ich während der Situation Agnes davon in Kenntnis zu setzen, wie es mir geht. Ich rede nicht mir ihr, obwohl ich ihr, bis ich am Krankenhaus ankam alles mitgeteilt und wir sogar kurz telefoniert haben. Mein Blutdruck liegt nun bei 141 zu 82. Puls 70. Für meine Verhältnisse eindeutig zu hoch. Dem Ohr geht es tatsächlich etwas besser? Vielleicht doch nur eine stressbedingte Verspannung. Dann war all die Aufregung nicht nur umsonst, sondern auch völlig übertrieben. Aber das konnte ich ja nicht wissen.

Während Agnes besorgt ist, geht es meinem Ohr besser und ich gucke mit Petra Dark Shadows. Und obwohl ich mich schon frage, warum ich nicht mit Agnes, die immer für mich da ist, telefoniere, bleibe ich sitzen und unternehme nichts. Was stimmt nicht mit mir?

Tag 16
Der Alptraum will nicht enden. Es ist bereits nach Mitternacht und ich kommuniziere mit Agnes. Schnell merke ich, dass etwas nicht stimmt, kapiere aber zunächst nicht, was nicht stimmt. Agnes ist enttäuscht, dass ich sie nicht sofort oder wenigstens überhaupt angerufen habe. Sie hat das Gefühl, dass eine Fernbeziehung mir nicht gut tut und ich etwas anderes brauche. Sie möchte die Beziehung beenden, mir aber als Freundin erhalten bleiben. Sie will mir nicht im Weg stehen. Sie kann nicht sein, was ich brauche. Sie hat sich unglaubliche Sorgen gemacht, während ich hier saß und mit Petra einen Film geschaut habe, anstatt sie zu beruhigen und mit ihr zu reden. Ich kann sie verstehen, meine Gedankenlosigkeit nicht. Ich fühle mich schlecht und bin überfordert. Ich bin kein guter Freund. Bin zu oft gedankenlos, lebe in meiner Traumwelt und verletze Menschen, die alles für mich tun würden. Ich bin ein überforderter Arsch.

Der Besuch bei meiner Mutter verläuft ohne negative Mitteilungen. Eine Krankenschwester erklärt uns etwas zum Zustand meiner Mutter. Sie wirkt optimistisch und sagt, dass wir Geduld brauchen. Die Werte sind stabil, der Nierenwert minimal besser. Zum ersten Mal hören wir etwas Positives zu den Nieren. Vielleicht würde der Stationsarzt es sofort als zu gering, um gut zu sein, erklären, aber zum Glück ist er jetzt nicht hier. Nun geht es darum, dass meine Mutter langsam wach wird. Auf Ansprache reagiert meine Mutter manchmal, manchmal nicht. Wenn sie reagiert, macht sie die typischen Mundbewegungen. Noch immer habe ich Angst, dass wir nicht über den Punkt der Mundbewegungen und des Gähnens, jedenfalls bezeichnen wir die Bewegung, die meine Mutter oft am Ende der Mundbewegungen macht, so, hinaus kommen.

Am Nachmittag sind wir erneut im Krankenhaus. Der Zustand scheint unverändert. Die polnische Krankenschwester ist sehr freundlich und sagt, dass es gut aussieht. Sie betont, dass es ein langer Weg ist, gibt uns durch ihre optimistische Art aber Hoffnung. Hoffnung kann sicher nicht schaden. Sie findet, dass meine Mutter besser aussieht. Wie gerne würde ich diese Zuversicht mitnehmen und nicht mehr abgeben, bis meine Mutter endlich wieder zurück aus ihrem Alptraum ist. Wir müssen kurz raus.
Als wir zurück ins Zimmer kommen, hat meine Mutter das rechte Auge fast ganz geöffnet und das linke ein kleines bisschen. Zunächst scheint sie auf uns zu reagieren. Wir deuten ihre Mundbewegungen jedenfalls so. Nach einer Weile tritt bei mir eine Art Ernüchterung und Hoffnungslosigkeit auf. Die Augen meiner Mutter blicken starr und reagieren nicht auf Bewegungen. Liegt es an den Medikamenten oder ist es das, was von ihr übrig blieb? Ich bin traurig und habe Angst. Sie bewegt die Augenlider auf und ab. Ich streichle ihre Stirn. Merkt sie es? Eine Reaktion ist nicht zu erkennen. Ich darf jetzt nicht resignieren. Erwarte ich zu viel? Bin ich zu ungeduldig? Sagen nicht alle immer, dass wir viel Geduld haben müssen und einen langen Weg vor uns haben? Mein Vater und ich wechseln die Seiten, so dass mein Vater sehen kann, dass meine Mutter die Augen auf hat.
Es dauert nicht lange, dann schließt sich das linke Auge, wenig später das rechte. Nun scheint sie wieder zu schlafen. Vielleicht ist das alles zu anstrengend, ihr geschwächter Körper durch die vielen Medikamente zu geschwächt. Vielleicht geht alles seinen guten Gang, um am Ende ein gutes Ende zu nehmen.
Der Blutdruck schwankt weiter. Ist das normal oder ein Grund zur Sorge? Wie groß ist die Gefahr eines weiteren Rückfalls? Wissen die Ärzte mittlerweile, was der Auslöser für all dies hier war?

Es erscheint entspannter, wenn man nicht mit einem Arzt redet. So ist es einfacher, sich vor einer möglicherweise unangenehmen Wahrheit für eine Weile zu schützen. Flucht vor der Realität kann man das vermutlich nennen. Doch manchmal ist die Realität nur so zu ertragen. Und das, was wir ertragen können, ist nun mal auch begrenzt. Flucht oder ausblenden der Realität als Selbstschutz.

Agnes muss mich immer aus meiner Spirale des negativen Denkens befreien. Zum Glück ist sie da und macht das. Ohne sie wäre ich vermutlich noch verlorener und sicher voller Psychopharmaka.

Als mein Vater von seinem Abendbesuch zurück ist, erzählt er mir, dass meine Mutter die Augen offen hatte, ihre typischen Mundbewegung, inkl. Gähnen, gemacht hat und der Blutdruck gestiegen ist, wenn er sie angesprochen hat. Außerdem hat sie ihre rechte Schulter etwas bewegt. Alles klingt so herrlich nach Fortschritt, doch gelingt es mir nicht, mich völlig darauf einzulassen. Vielleicht eine Art Selbstschutz, um bei einem Rückfall nicht zu tief zu fallen. Vielleicht bin ich auch einfach immer so, dass ich bei allem Guten immer davon ausgehe, dass es nur von kurzer Dauer sein wird. Die Fähigkeit mich uneingeschränkt zu freuen und nicht an allem zu zweifeln, ist bei mir wenig ausgeprägt. Möglicherweise besitze ich die Fähigkeit auch gar nicht.

Tag 17
Der siebzehnte Tag beginnt mit starken Rückenschmerzen. Seit Tagen wache ich mit diesen Schmerzen auf. Heute wollte ich eigentlich nicht vor dem Mittag zu meiner Mutter, sondern trainieren. Doch da meine Mutter ja dabei ist aufzuwachen, kann ich nicht zum Training. Ich will da sein, wenn sie wach wird und sie nicht alleine lassen. Das geht einfach nicht. Sport muss warten.
Überhaupt scheint es so als wäre ich nun endgültig nicht mehr in der Lage mein Leben zu leben. Ich habe weiter große Schwierigkeiten zu essen und meine Gedanken kreisen permanent ums Essen und darum, wie es weitergehen soll. Es erscheint unmöglich, mich aus dieser Spirale zu befreien. Die Situation hat mich im Griff und ich würde so gerne weglaufen und wenn ich wiederkomme ist alles so, wie es vorher war. Kein Leid, keine Unsicherheit, keine Ungewissheit. Alles so, wie es seit Jahren war. Keine bösen Überraschungen und eine gesunde Berechenbarkeit, die dafür sorgt, dass es uns allen besser als jetzt geht. Doch solche, möglicherweise sehr kindischen, Gedanken bringen meiner Mutter rein gar nichts. Vor der Realität läuft man nicht davon. Habe ich schon öfter probiert. Funktioniert nicht. Werde es trotzdem immer wieder versuchen.

Der erste Besuch am heutigen Tag, passt so gar nicht zu dem, was mein Vater und ich erwartet haben. Meine Mutter schläft ziemlich fest und reagiert nicht auf uns. In meiner Vorstellung sieht das seit Tagen anders aus. Ich stelle mir vor, dass sie die Augen geöffnet ha, wenn wir ihr Zimmer betreten und uns nicht nur ansieht, sondern obendrein erkennt. Ein entspanntes Lächeln signalisiert uns, dass das Schlimmste überstanden ist und wir keine Angst mehr haben müssen. Wunschtraum und Wirklichkeit liegen scheinbar unendlich weit entfernt voneinander. Ebenso wie ich, verzichtet mein Vater derzeit darauf, mit den Ärzten zu sprechen. Er redet mit den Krankenpflegerinnen, auch als Krankenschwestern bekannt. Diese sind einfach positiver als Ärzte. So fliehen mein Vater und ich ein wenig vor der Realität und vor schlechten Nachrichten. Mein Vater findet den Stationsarzt, ebenso wie ich, Scheiße.

Der Nachmittagsbesuch unterscheidet sich nur wenig vom Besuch am Vormittag. Meine Mutter schläft und ignoriert uns. Seit heute bekommt sie gar kein Propofol mehr. Denn obwohl es uns gestern anders mitgeteilt wurde, gab es noch eine kleine Dosis von dem Mittel. Nun erst ist es damit vorbei. Dafür dürfen wir miterleben, wie sie sich, nachdem sie den Mund bewegt und scheinbar gegähnt hat, plötzlich unwohl fühlt, unregelmäßig atmet und der Blutdruck stark ansteigt. Innerhalb kurzer Zeit ist er über 160 und die Beatmungsmaschine schlägt Alarm auf den aber niemand vom Personal reagiert. Mein Vater redet beruhigend auf meine Mutter ein und nach einer Weile beruhigt sie sich wieder. Die Werte normalisieren sich. Wir sind besorgt. Was war das und was hat es ausgelöst? Kann man das verhindern? Sollten wir nicht doch besser mal wieder mit einem Arzt sprechen? Verkraften wir ein solches Gespräch denn überhaupt? Wie lange kann man vor der Wahrheit davonlaufen?

Agnes beruhigt mich später etwas, als sie sagt, dass Menschen, die lange Propofol bekommen haben, schon mal zwei Wochen brauchen können, um wieder wach zu werden. Obwohl es an der Situation nichts ändert, geht es mir, nachdem ich das gehört habe, tatsächlich besser. Was sein wird, wenn in drei Wochen nichts anders ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Vermutlich wird es eine herbe Enttäuschung sein. Bitte, lass es nicht so kommen.

Am Abend besucht mein Vater meine Mutter erneut. Sie hat die Augen geöffnet, sieht ihn aber nicht. Zumindest gibt es keine Anzeichen dafür, dass sie ihn bewusst wahrnimmt. Was aber nicht heißen muss, dass sie es nicht tut. Sie bewegt ihren Mund, gähnt und scheint wacher als vorher. Ist sie es auch? Hoffnung ist alles, was uns derzeit bleibt. Ohne Hoffnung wäre es nicht möglich zu existieren. Zumindest kommt es mir so vor.

Tag 18
Am achtzehnten Tag endet meine Nacht nach nur fünf Stunden Schlaf. Die Rückenschmerzen sind kaum zu ertragen. In einer so angespannten Situation nicht zu trainieren, scheint meinem Körper gar nicht zu bekommen. Ich muss etwas ändern, sonst halte ich nicht mehr lange durch. Schlafen, essen und trainieren, sollte ich in einer solchen Zeit nicht völlig ignorieren, denn sonst mache ich irgendwann schlapp. Und damit wäre niemandem geholfen. Ich muss einen Weg finden, wieder etwas sogenannte Realität zurückkehren zu lassen. Ich weiß nur noch nicht, wie ich das realisieren kann.

Das Training tut mir sichtbar gut und ich bin früh genug zurück, um meinen Vater ins Krankenhaus zu begleiten. Meine Mutter hängt an der Dialyse. Oder wie sagt man das korrekt? Nach einer Weile beginnt sie mir ihren typischen Mundbewegungen und einem ausgedehnten Gähnvorgang. Ich frage mich, ob die Mundbewegungen vielleicht Sprachversuche sind, das Gähnen, welches immer länger wird, möglicherweise ein ungehörter Schrei. Als sie zum dritten Mal diese Bewegungen macht, ist deutlich zu erkennen, dass etwas anders ist. Sie gerät in Panik, ihre Schultern bäumen sich auf und es wirkt als wollte sie sich von irgendwas befreien. Der Blutdruck klettert auf 186/88. Die Maschinen schlagen mehrmals kurz Alarm. Niemand fühlt sich zuständig. Mein Vater redet beruhigend auf meine Mutter ein. Ich stehe hilflos da, frage mich, wieso niemand eingreift, sehe meinem Vater beim beruhigen zu, starre den Monitor an und bin vollkommen ratlos. Muss das alles wirklich so sein? Nach einer Weile beruhigt sich meine Mutter und der Blutdruck normalisiert sich ein wenig.

Wir fragen die Assistenzärztin, die ich bisher für eine Pflegerin hielt, nach diesen Aktionen meiner Mutter. Sie sagt, dass alles normal sei, wenn jemand aus einer Narkose erwacht und nicht weiß, wo er ist und was mit ihm passiert. Klingt logisch. Weil ich noch immer nicht glauben kann, dass hier eine Assistenzärztin vor mir steht und in nicht ganz so gutem Deutsch zu mir spricht, schaue ich erneut auf ihr Namensschild. Tatsächlich, eine echte Ärztin. Wenn man schon eine Ärztin da hat, dann kann man auch weiter fragen. Und so fragt mein Vater, ob es dem Herz meiner Mutter besser geht. Ein kurzer Blick auf den Monitor, dann sagt die Assistenzärztin ja. Mein Vater fragt erneut nach, ob das Herz nun stabil sein. Nun schaut sie sich sekundenlang den Monitor an, um dann erneut mit ja zu antworten. Wirklich vorbereitet wirkt sie nicht auf mich. Nun fragt mein Vater, ob die Nieren besser geworden sind. Sie schaut auf die Aufzeichnungen, die am Bett vor meiner Mutter liegen. Sie scheint nicht zu wissen, wo sie Antworten zu den Nieren findet und sagt, dass man das nicht sagen kann, weil ja noch die Dialyse läuft. Mein Vater fragt dennoch nochmal nach. Sie schaut etwas ratlos. Dann fällt ihr ein, dass es ja täglich das Datenblatt aus dem Labor gibt. Dort kann man prima die Werte mit denen der letzten Tage vergleichen. Die Pflegerin gestern hat daraus abgeleitet, dass die Nierenwerte etwas besser sind. Die Assistenzärztin hat da wohl größere Probleme mit dem Erkennen der Werte. Sie erkennt scheinbar nichts. Und so sagt sie, dass die Werte nicht besser geworden, weil meine Mutter ja die Dialyse bekommt. Schöne Antwort, ohne zu antworten. Mein Vater fragt nicht erneut nach. Ich denke, dass ihre Deutschkenntnisse vielleicht nicht reichen, um diese Pläne zu lesen und Fragen korrekt zu beantworten. Ich hoffe nicht, dass ihre Fachkenntnisse tatsächlich unzureichend sind. Nun will ich wissen, ob der Schlauch, der sie über die Nase mit Nahrung versorgt, sehr störend für meine Mutter ist. Eine Antwort, die mir zu allgemein ist und nicht wirklich etwas zu dem Schlauch sagt, beendet die Konversation. Vermutlich hätte ich meine Frage einfach präziser stellen müssen. Dumm von mir.
Wir beschließen, meine Mutter in Ruhe zu lassen. Sie ist gestresst genug und sie sollte wenigstens während der Dialyse möglichst wenig gestört werden. Ob das eine kluge oder weniger kluge Entscheidung ist, vermögen wir nicht zu beurteilen.

Der Geruch der Intensivstation scheint überall zu sein, besonders in meiner Wohnung. Sobald ich die Wohnungstür öffne, habe ich das Gefühl, ich würde die Intensivstation betreten. Sollte ich meine Kleidung nach jedem Besuch waschen oder besser gleich verbrennen? Ich finde, dass meine Wohnung viel mehr nach Intensivstation riecht als die Intensivstation selbst. Einbildung oder tatsächlich möglich? Und wieso nützt es nichts, dass ich rund um die Uhr irgendwelche Fenster geöffnet habe? Wie werde ich den Geruch wieder los?

Beim Besuch am Nachmittag ist der Blutdruck meiner Mutter bei 160/70. Vermutlich hat sie sich über etwas aufgeregt oder irgendwas an ihrer Situation gefällt ihr so gar nicht. Nach einer Weile fällt der Blutdruck wieder.
Mein Vater redet mit meiner Mutter. Sie fängt an zu kauen, dann gähnt sie heftig und scheint sich etwas aufzuregen. Ihre Augen sind geöffnet. Rechtes Auge ganz, linkes zur Hälfte. Keine Ahnung, ob meine Mutter uns sieht. Wir reden dennoch beide beruhigend auf sie ein, weil der Blutdruck erneut stark steigt und eines der Geräte Alarm schlägt. Ein Pfleger kommt, spielt an den Geräten herum, schaltet den Alarm ab und ist wieder verschwunden. Sieht so aus, als hätte er die Alarmgrenzen erweitert. Meine Mutter wirkt, als wolle sie uns etwas mitteilen. Wir erklären ihr, dass sie im Krankenhaus ist und vorübergehend nicht reden kann. Ob sie irgendetwas davon bewusst wahrnimmt? Wir hoffen es.

Ob gewisse Reaktionen meiner Mutter tatsächliche und bewusste Reaktionen oder einfach nur Reflexe sind, können wir nie genau sagen. Wir wollen, dass es bewusste Reaktionen sind, doch manchmal, wenn ich sie mir anschaue, habe ich Zweifel und sehe sie gedanklich schon als Pflegefall, der zwar reagiert, aber das nur als Reflex. Und wir, die wir für die Reflexe verantwortlich sind, glauben und hoffen jedes Mal, dass der Reflex der erste Schritt zur Genesung ist. Solche Gedanken sind nicht nur unangemessen, sie sind auch störend und deprimierend. Etwas gegen solche Gedanken zu tun, gelingt mir selten. Es scheint als beobachte ich diese Szenen am Bett dann aus einer gewissen Distanz, die es mir ermöglicht, das Unerträgliche für einen Moment zu ertragen. Dann reagiert meine Mutter wieder auf eine Berührung und schon ist der Moment da, der eine bewusste Reaktion herbei sehnt und daran glauben will, weil alles andere unerträgliche Scheiße ist.

Die polnische Pflegerin hat uns etwas mitzuteilen. Wir möchten doch bitte Kamm, Bürste, Zahnputzbecher, Zahnbürste und Cremes meiner Mutter mitbringen. Warum wir das tun sollen, sagt sie uns nicht. Da eine solche Aktion für uns Fortschritt bedeutet, fragen wir nicht weiter nach. Dann fragt die Pflegerin nach einer Laktoseintoleranz bei meiner Mutter, weil meine Mutter Durchfall bekommen hat, weshalb sie nun eine Ernährung auf Sojabasis bekommt. Sollte es sich nicht um eine spontan aufgetretene Laktoseintoleranz handeln, so kann ich mir gut vorstellen, dass die vielen Medikamente für den Durchfall verantwortlich sind. Morgen früh kommt meine Mutter zum CT. Das Gehirn soll nach Schäden untersucht werden, da man der Meinung ist, dass das Aufwachen nicht schnell genug voran geht und die Reaktionen meiner Mutter nicht angemessen sind. Das trübt die Situation direkt wieder. Andererseits herrscht dann ab morgen Klarheit über gewisse Dinge. Ich kann nicht sagen, dass ich uneingeschränkt erfreut über die Untersuchung bin. Das kann ich nur sein, wenn dabei nichts festgestellt wird.
Wir fragen die Pflegerin nach den Nierenwerten. Sie erklärt und, dass die Menge der Ausscheidungen zwar weiter steigt, die Nieren aber keine reinigende Wirkung haben. Sie erklärt uns das anhand des Ausdruckes, der die Assistenzärztin heute Morgen überfordert hat. Das schafft weiteres Vertrauen in die Assistenzärztin.

Tag 19
Es gibt Tage, die bereiten mehr Angst als andere. Der neunzehnte Tag ist ein solcher. Die bevorstehende CT Untersuchung kann mit einem Schlag viele, wenn nicht sogar alle, Hoffnungen zunichtemachen. Nicht auszudenken, was passiert, wenn die Ergebnisse niederschmetternd sind. So ist es wenig verwunderlich, dass ich schon morgens einen Tick angespannter als üblich bin. Ignorieren von Tatsachen kann heute durch eine einzige Untersuchung unmöglich gemacht werden. Es werden neue Tatsachen geschaffen. Da führt kein Weg dran vorbei. Sollten diese Tatsachen ein Schock sein, wird das Verlangen nach Diazepam groß sein. Eine verdammte Angst durchströmt mich. Diese Angst wird mich beherrschen bis es Entwarnung gibt. Falls es eine Entwarnung gibt. Diese Angst lähmt und hält mich gefangen.

Bis zu diesem Schicksalsschlag hatte ich ein Leben, welches ich, was ich jetzt, wo ich die vielen Patienten tagein tagaus zu sehen bekomme, als ein recht schicksalsfreies bezeichnen kann. Sicherlich gab es Todesfälle, sicherlich Situationen, die das Leben unerträglich machten, doch Krankheit und Leid in ihrer brutalsten Form, blieben meist außen vor. Und anstatt dankbar zu sein, bisher relativ glimpflich davongekommen zu sein, fokussiert sich alles auf diese Ausnahmesituation. Die Angst vor dem Leben war, seit mir die Endlichkeit des Lebens bewusst wurde, immer Bestandteil meines Daseins. Der Gedanke an den Verlust von Menschen, die einem Nahe stehen, macht mir das Leben oft noch schwerer als es ohnehin schon ist. Es gab Zeiten in denen ich dachte, dass das Leben leichter wird, wenn man Dinge nicht so nah an sich ran lässt und Abstand vor Gefühlen hält, weil man sie, haben sie erst Besitz von einem ergriffen, nicht kontrollieren kann. Dabei hatte ich nicht bedacht, dass man dann eines Tages einsam enden wird. Und das ist vermutlich auch nicht schön.

Was ist man, wenn man Gefühle stets unterdrückt oder es wenigstens versucht? Ein unglückliches Lebewesen, welches vor sich hinvegetiert? Eine Art Zombie? Zumindest kommt es mir heute so vor. Und so habe ich neben meinen Ängsten längst eine weitere Angst entwickelt. Die Angst niemanden zu haben, der sich um mich kümmert, wenn es mir nicht gut geht. Die Angst vor der Einsamkeit.

Das Ende kann immer auch der Anfang von etwas Neuem sein. Oder ist ein Ende nicht sogar immer der Anfang von etwas Neuem? Gut möglich. Doch macht mir Neues schon immer Angst. Und so besteht das Leben scheinbar nur aus Dingen, die mir Angst machen. Leben, Tod, Sterben, Krankheit, Endlichkeit, Einsamkeit. Und obwohl das Leben, wenn man in der Lage ist, sich drauf einzulassen, auch viele schöne Dinge bietet, die man nur bewusst genießen muss, bleibt es mir zu oft eine Qual, weil mein Fokus immer wieder auf die dunklen Seiten des Lebens gerichtet ist. Die Gedanken, dass ich bisher gut durchs Leben gekommen bin, weichen der Angst, dass sich das sicher bald ändern wird. Und so bleibt der Fokus immer weiter darauf gerichtet, was für schreckliche Dinge mir bevorstehen, anstatt darauf, wie viel Glück ich bisher hatte und das es an mir liegt, viele Dinge, vielleicht sogar den Großteil meines Lebens, positiv zu gestalten und mich an dem was ich habe zu erfreuen. Doch oft ist es gar nicht so einfach, einmal liebgewonnene, negative Verhaltensmuster durch positive zu ersetzen. Erst recht nicht, wenn ich mich in einer Situation wie dieser befinde. Und genau jetzt glaube ich wieder, dass mein Leben nur aus solchen extrem schrecklichen Situationen besteht und für immer bestehen wird. Ich bin der Meister der Hoffnungslosigkeit. Ich möchte das nicht mehr. Und vor allem möchte ich, dass meine Mutter bald wieder gesund sein wird. Doch vermutlich ist das zu viel verlangt.

Vormittags haben wir nur Zeit für einen kurzen Besuch, weil meine Mutter kurz nach unserer Ankunft für eine CT-Untersuchung vorbereitet wird und wenig später los muss. Sollten beim CT Schäden erkannt werden, gibt es wenig Hoffnung. Und noch bevor die Untersuchung stattfindet, befürchte ich natürlich das Schlimmste. Ein Optimist werde ich in diesem Leben wohl nicht mehr. Eine Pflegerin mit kurzen blonden Haaren bereitet meine Mutter für den Transport zum CT vor. Ich bin ganz fasziniert von ihr und schaue ihr konzentriert dabei zu. Dann finde ich es absurd, dass ich mich in dieser Situation am Anblick einer Pflegerin erfreue und unterlasse es.
Wir wollen gerade das Krankenzimmer verlassen, als der blonde Assistenzarzt zu uns kommt. Er wirkt positiv wie immer, sagt aber, dass die Untersuchung wichtig geworden ist, weil das Aufwachen meiner Mutter, entgegen der Erwartungen, nicht so wirklich vorangeht. Wir mögen diesen Arzt.

Als wir am Nachmittag erneut im Krankenhaus erscheinen, liegt meine Mutter in ihrem Bett, das Beatmungsgerät ist abgeschaltet und ich bin so angespannt, dass mir schlecht ist. Und so gehe ich im Zimmer auf und ab. Eine Pflegerin erklärt uns, dass meine Mutter nicht mehr an der Beatmungsmaschine angeschlossen ist, sondern lediglich Sauerstoff zugeführt bekommt. Irgendwie klingt das positiv, doch bevor positive Gedanken ihren Platz finden, mache ich mir lieber Sorgen wegen der Untersuchung.

Gespräch mit dem Stationsarzt. Wie immer kann er uns keine Hoffnungen machen. Zwar habe beim CT nichts festgestellt werden können, da aber meine Mutter keine Fortschritte erkennen lässt, bleibt ihm nichts anderes übrig als uns darauf vorzubereiten, dass es nicht gut aussieht und er auch keine Hoffnung mehr hat. Er wirkt dabei so als wäre es ihm unangenehm. Er redet sehr viel und nichts davon klingt gut. Mein Vater dreht sich ab und weint. Alle unsere Hoffnungen scheint dieses Gespräch auszulöschen. Der Stationsarzt sagt, dass bei meiner Mutter auf keinen Fall ein Hirntod auftreten wird und es klingt so als wäre das zwar Scheiße, aber irgendwie auch nicht, weil sie ja nicht stirbt. Vielleicht ist das der Versuch de Stationsarztes doch etwas Positives zu sagen. Aber ist es positiv, wenn meine Mutter nicht sterben kann, aber immer in diesem Zustand bleibt? Niedergeschlagen nehme ich auf, was nun traurige Gewissheit zu sein scheint, aber so wirklich kann ich nichts mit all dem anfangen. Ich höre seine Worte, aber seine Sätze bleiben nicht vollständig in meinem Kopf. Chaos ist in meinem Kopf. Ich sehe ihn an. Er wirkt nicht souverän. Eher wie ein Junge, der mit diesem Teil seines Jobs überfordert ist. Ihm fehlt meiner Meinung nach Einfühlungsvermögen. Er mag ein guter Arzt sein, dazu kann ich nichts sagen, aber die Kommunikation mit Angehörigen ist nicht seine Welt. Dumm nur, dass er in seiner jetzigen Position so oft mit Angehörigen zu tun hat. Er wirkt mitgenommen, angeschlagen, etwas ratlos gar. Es scheint so als hätte er doch Emotionen. Er redet weiter, nennt nun Statistiken und dazugehörige Zahlen und fügt am Ende an, dass wir aber dennoch nicht aufhören sollen zu hoffen, denn es kann ja auch anders kommen. Aber sofort fügt er hinzu, dass das eigentlich nicht sein kann. Mir ist schlecht. Und zum ersten Mal empfinde ich Mitleid für den Stationsarzt. Ist das normal?
Der Neurologe, der während des Gesprächs meine Mutter untersucht hat, kommt aus dem Zimmer. Er kann nicht sagen, ob meine Mutter bewusst reagiert oder ob das nur die üblichen Reflexe sind. Eine Hirnstrommessung soll endgültige Klarheit bringen. Und wenn das Ergebnis wie erwartet ausfällt, dann müssen wir über andere Dinge reden, sagt der Stationsarzt. Denn dann steht fest, dass ein irreparabler Hirnschaden vorliegt. Meine Frage, wann diese Untersuchung stattfindet, beantwortet er direkt. „Da wir an einem Zeitpunkt angekommen sind, wo Zeit keine Rolle mehr spielt, ist es nicht eilig, wird aber im Laufe der Woche stattfinden.“ Mir wird übel und heiß. Diese Untersuchung kann uns klarmachen, dass unsere Mutter in dem jetzigen Zustand bleibt. Und nach dem Verlauf dieses Gesprächs kann es kaum eine andere Zukunft geben. Mein Vater ist völlig aufgelöst, ich bin ratlos, überfordert und will das alles nicht.

Wir gehen zurück zu meiner Mutter und reden beschwörend auf sie ein, dass sie nun etwas für uns tun muss. Sie muss kämpfen und stark sein. Sie entscheidet, wie es weitergeht. Immer wieder versuchen wir sie anzutreiben, ein Zeichen von ihr zu erhalten. Doch heute bekommen wir es nicht. Heute ist kein guter Tag.

Tag 20
Einen Tag nach dem wenig erbaulichen Gespräch mit dem Stationsarzt, versuche ich, soweit es denn überhaupt möglich ist, vermutlich nicht zu vermeidbare Folgen, die der Zustand meiner Mutter mit sich bringt, zu verdrängen. Meine Art Dinge, die kaum zu ertragen sind, doch irgendwie zu ertragen.

Der erste Besuch des Tages deutet darauf hin, dass der Arzt vermutlich Recht mit seinen miesen Prognosen hat. Meine Mutter ist an der Dialyse, ihr Blutdruck bei 191/78 und sie wird wieder beatmet. In ihrer Krankenakte lese ich, dass sie mittlerweile auch wundgelegen ist. Es ist wenig erbaulich, was sich gleich zu Beginn unseres Besuches feststellen lässt. Meine Mutter macht die vom Arzt genannten Schmatzbewegungen mit dem Mund. Aber sie verzichtet auf die Geste des Gähnens. Dafür bemerke ich eine neue Reaktion. Sie bewegt ihren Fuß. Noch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, erscheint die blonde Pflegerin, um etwas gegen den eindeutig zu hohen Blutdruck meiner Mutter zu unternehmen. Ich beobachte sie dabei. Sie ist eine wirklich attraktive Person, sehr sympathisch erscheint sie mir. Sie gibt meiner Mutter Ebrantil und spritzt ihr etwas, was den Blutdruck schnell senken soll. Sie hat perfekte Zähne. Somit ist ihr Anblick eine nette Ablenkung für den Moment, doch irgendwie finde ich es nicht angebracht, mich am Anblick einer Pflegerin zu erfreuen, während es meiner Mutter so schlecht geht.
Nun entdeckt auch mein Vater, dass meine Mutter den Fuß bewegt. Sofort kitzelt er sie und freut sich sehr, dass sie unverzüglich darauf reagiert. Ich bin hin und hergerissen. Einerseits denke und wünsche ich, dass es zu dem langsamen Aufwachen dazu gehört und ein weiterer Schritt Richtung Verbesserung des Allgemeinzustands ist, andererseits höre ich schon die Stimme des Stationsarztes, wie sie sagt, dass es nur ein normaler und unbedeutender Reflex ist, der nichts zu bedeuten hat und es ihm leid tut, dass er mir das jetzt sagen muss. Bevor er nun irgendwelche Statistiken aufzählt, denke ich nicht weiter an ihn. Und ein Teil von mir nimmt diese kleine Geste nun als Zeichen, dass vielleicht doch nicht alles verloren ist.

Wie sehr mich die Situation schwächt, merke ich, wenn ich nach dem Mittagessen zu Hause bin. Ich schaffe es nicht, die nötigen Arbeiten im Haushalt zu erledigen und schlafe immer wieder kurz ein. Ebenso, wenn mein Vater mich abholt und wir gemeinsam zum Krankenhaus fahren. In den letzten Tagen bekomme ich von einigen Fahrten nur wenig mit. Zu schwer fällt es mir, meine Augen offen zu halten. Es muss endlich wieder etwas Gutes passieren. Ich muss raus aus diesem Loch.

Der Besuch am Nachmittag ist wenig erbaulich. Meine Mutter schläft tief und fest. Sicherlich wird die Dialyse dazu beigetragen haben, aber es ist schwer nicht die Hoffnung zu verlieren, wenn Stillstand herrscht oder zumindest zu herrschen scheint. Ich flüstere meiner Mutter ein paar Worte zu. Doch meist stehe ich nur da und starre sie an. Dann starre ich die Monitore an, kitzel meine Mutter am Fuß, bekomme eine Reaktion und weiß doch nicht, wie ich sie zu deuten habe. Ich gehe und sage ihr, dass ich morgen wiederkomme.

Am Abend besucht mich mein Vater. Als er mir sagt, dass schon heute um 14.00 Uhr und nochmal um 16.00 Uhr die Hirnströme meiner Mutter gemessen wurden, wird mir sofort schlecht. Jede Entspannung, ob tatsächlich oder eingebildet, fällt von mir ab. Ich habe nur noch Angst vor dem Ergebnis, welches uns morgen präsentiert wird. Mein Magen dreht sich um. Ich möchte doch nur noch etwas Hoffnung, etwas Zeit für sie, etwas Zeit für uns alle. Aber ich sehe nur schwarz und fürchte mich vor einer unauslöschlichen, nie wieder korrigierbaren, Realität. So bin ich während des ganzen Abends nur selten entspannt. Mein Vater, der sich trotz aller Widrigkeiten positiv äußerte und scheinbar sogar eine gute Nachricht erwartet, tut mir Leid. Ich würde ihn gerne fragen, ob er Angst hat, doch ich schaffe es nicht. Ich habe Angst. Wir schauen gemeinsam einen Film und als er am Ende des Abends gehen muss, bleibe ich einsam, verlassen und verzweifelt zurück.
Ich telefoniere mit Agnes, die ebenfalls einen harten Tag hatte. Ihr Onkel hatte einen Schlaganfall, ein Arzt verwechselte später ihren Onkel mit einem anderen Patienten, sprach von Komplikationen, ohne näher darauf einzugehen und nachdem alle voller Panik waren, stellte sie die Verwechslung heraus. Ihr Onkel wird wieder vollkommen genesen. Es gibt Ärzte, die sollte man nicht auf die Menschheit loslassen.

Im Gespräch erscheint mir Agnes etwas ratlos. Sie sagt, dass sie seit heute Morgen eine Veränderung bei mir spürt. Ihr Gefühl ist, dass ich keine Hoffnung mehr und meine Mutter aufgegeben habe. Sie hat Recht. Irgendwie hat sie Recht. Und jetzt wo es ausgesprochen ist, wird ein Teil von mir traurig. Es ist ja noch nicht verloren. Es ist nicht gut, es sieht nicht gut aus, es wird vielleicht nie mehr, aber es ist auch noch nicht gesichert. Gesicherte Erkenntnisse bringen die Ergebnisse. Dagegen kann man nichts tun. Angst darf ich haben, meine Mutter aufgeben nicht. Und ich will und wollte das auch nie. Ich wollte mich schützen, habe auch irgendwie resigniert, aber ich darf dieses Fünkchen Hoffnung nicht aufgeben. Nicht heute. Meine Mutter kämpft noch, sie lebt und heute ist und wird nichts entschieden. Zumindest nicht für mich.
Ich bin so froh, Agnes an meiner Seite zu haben. Sie ist ein Engel. Ich brauche sie und will sie nie mehr hergeben.

Tag 21
Der Tag startet gegen 06.30 Uhr. Es geht mir bescheiden. Ich nehme Bach Rescue Tropfen, wenige Minuten später Calmvalera, schlafe noch mal ein, wache auf, nehme Bach Rescue Tropfen und stehe um etwa viertel nach sieben auf. Es geht mir erwartungsgemäß nicht wirklich gut. Dieser Tag kann eine schreckliche Gewissheit bringen. Agnes sagte gestern, dass sie seit gestern das Gefühl hat, dass ich aufgegeben habe. Irgendwie habe ich das wohl auch. Vielleicht weil ich mich so davor schützen will, dass ich, wenn ich mir unbegründete Hoffnungen mache, nur noch tiefer falle. Dabei ändert sich an der Fallhöhe rein gar nichts, selbst wenn ich früher in die Tiefe stürze. Ein derartiger Sturz wird heftig. Und ich will keinen solchen Sturz erleben. Niemals und auf keinen Fall heute.
Die Untersuchungsergebnisse dürfen nur dann eindeutig sein, wenn sich herausstellt, dass sie nicht dagegen sprechen, dass meine Mutter bald aufwacht. Alternativ dürfen diese Ergebnisse keinen Aufschluss geben. Nur eines dürfen sie auf keinen Fall, alle Hoffnungen zerstören. Agnes sagt, ich darf mich nicht verrückt machen. Ich soll heute arbeiten, mich ablenken und erfahre danach, was die Zukunft bringt. Sie hat Recht, aber es ist nicht leicht. Ich überlege sogar, ob es nicht besser wäre, ich würde schlechte Nachrichten gar nicht mitgeteilt bekommen. Aber vor der Realität kann man nicht dauerhaft fliehen, soviel ist klar.

Ich gehe ins Büro. Das lenkt mich ab und so erhalte ich erst später die möglicherweise schreckliche Nachricht. Mit Rescue Tropfen komme ich anfangs gut durch den Bürotag. Ich habe viel zu tun und bin abgelenkt, was mir guttut. Doch gegen 14.30 Uhr ist im Büro nicht mehr viel zu tun und mir wird schlecht. Ich bin angespannt und durchaus panisch. Bis 16.30 Uhr quäle ich mich weiter, dann verlasse ich das Büro, um ins Krankenhaus zu fahren.

Meine Mutter schläft fest, in den Aufzeichnungen sehe ich nichts, was mir einen Hinweis über das Ergebnis der Untersuchung verrät. Die hübsche blonde Pflegerin ist da und ich frage sie, was es Neues gibt. Sie sagt, dass meine Mutter wieder selbständig atmet. Ich frage nach dem Ergebnis der Untersuchung. Sie sagt, dass sie fragt, ob der Arzt Zeit hat. Kaum ist sie weg, bereue ich es, sie gefragt zu haben. Ich will keine schlechten Dinge hören.
Nach einer Weile ist sie wieder zurück und teilt mir mit, was der Arzt ihr sagte. Es gibt einen Schaden, aber der soll nicht so schlimm sein. Ein endgültiges Untersuchungsergebnis wird folgen. Diese Bemerkung lässt sofort wieder Ängste aufsteigen. In der nächsten Woche soll meine Mutter eine Magensonde bekommen und der Anschluss für die Dialyse wird in der Chirurgie anders verlegt. Ebenso der Blasen- oder Nierenkatheter. Zu unkonzentriert bin ich, um diese Details unterscheiden zu können. Die blonde Pflegerin trägt alles zuversichtlich und freundlich vor. Sie hat eine freundliche Stimme. Sie ist ab heute meine Lieblingspflegerin.
Kaum habe ich die Informationen und die Pflegerin das Zimmer verlassen, fällt eine riesige Anspannung von mir ab. Ich kann nur mit Mühe meine Tränen zurückhalten. Es gibt Hoffnung. Unfassbar. Und ich hatte meine Mutter schon aufgegeben.

Kaum bin ich aus dem Krankenhaus, rufe ich Agnes an. Ich spüre ihre Erleichterung, stehe an der Ampel und kann nicht mehr sprechen. Ich weine. Eine Wahnsinnsanspannung verlässt meinen Körper. Da ich in der Öffentlichkeit bin, unterdrücke ich meine Gefühle so gut ich es kann. Im Auto bricht es dann aus mir heraus. Ich weine fast hemmungslos. Diese Anspannung war unmenschlich. Jetzt endlich schwindet sie. Das Leben kann weitergehen. Auch das meiner Mutter. Zumindest hoffe ich es.

Später erzählt mir mein Vater, was ihm der Stationsarzt und der Chefarzt gesagt haben. Meine Mutter hat einen Hirnschaden, der aber nicht gravierend sein soll und auch nichts damit zu tun haben soll, dass sie nicht wirklich aufwacht. Es sollen weitere Tests gemacht und meine Mutter in eine Spezialklinik verlegt werden. Dort soll sie aufwachen, was lange dauern kann. Zeit soll sie haben. So viel sie braucht. Und nun hätte ich gerne ein paar Tage ohne weitere schlechte Nachrichten. Wir alle brauchen eine Pause. Und der Stationsarzt sollte sich Urlaub nehmen. Er bringt mich sonst noch um.

Tag 22
Obwohl sich am Zustand meiner Mutter in dieser Woche kaum etwas verändert hat, fühlt es sich besser an. Es gibt wieder Hoffnung, es besteht die Möglichkeit, dass sich alles zum Guten wendet. Sicherlich weiß niemand, welchen Schaden meine Mutter zurückbehalten wird, keiner kann sagen, ob ihre Nieren wieder so funktionieren, dass sie keine Dialyse braucht, es gibt keine Prognosen, dass sie nicht wieder einfach umfällt und noch immer weiß niemand, warum sie überhaupt umgefallen ist, aber es fühlt sich zum ersten Mal seit Tagen so an als wäre nicht alles verloren.
Abgesehen von meinen widerlichen Rückenschmerzen, habe ich gut geschlafen. Das Aufwachen war fast normal, weil es akut keine neue Bedrohung aus dem Krankenhaus zu geben scheint. Wohlwissend, dass sich das jederzeit ändern kann, gestatte ich es mir dennoch, für einen Moment zuversichtlich zu sein. Meine Mutter ist wieder da und sie allein entscheidet, wann sie ihren tiefen Schlaf beendet, um zu uns zurückzukehren. Die Ärzte und das Pflegepersonal schaffen die äußeren Bedingungen für ihre Genesung und wir warten und geben ihr Zeit. So ist der Plan an diesem kalten und verregneten Morgen des 28. Juni 2013. Ab heute soll es nur noch in eine Richtung gehen und ich hoffe, dass wir alle daran arbeiten dieses Wunder, denn das diese Möglichkeit besteht, grenzt nach den letzten Tagen für mich an ein Wunder, wahr wird.

Als wir meine Mutter besuchen ist ihr Blutdruck bei 190/85. Ein Arzt sagte gestern zu meinem Vater, dass das an dem Nierenmittel liegt und derzeit nicht zu verhindern ist. Meine Mutter bekommt zurzeit vier Medikamente, die den Blutdruck senken sollen. Clonidin, Beloc, Carmen und Ebrantil. Und weil das alles nicht reicht, wird ihr dieses Ebrantil zwischendurch immer wieder zusätzlich gespritzt. Gesund kann das nicht sein.
Die Dialyse läuft und meine Mutter ist irgendwie aktiv. Zum ersten Mal bewegt sie ihr Bein, sie schmatzt, zieht gelegentlich eine Schnute, manchmal runzelt sie die Stirn und bewegt ihren Mund mehr als üblich und etwas anders als wir es kennen. Natürlich weiß ich, was der Stationsarzt dazu sagen würde, doch für mich sieht das nach Fortschritt aus. Der Stationsarzt kann mich mal. Hoffnungsvoll ist die Situation einfach besser zu ertragen.

Am Nachmittag schläft meine Mutter tief und fest. Der Puls liegt bei etwa 60. Der Blutdruck bei 120/55. Meine Mutter wirkt entspannt. Ich weiß, dass ihre Situation alles andere als gut ist und das wir noch lange nicht am Ziel sind, aber dennoch nehme ich diese Zeit, in der es keine direkte Bedrohung oder neue Hindernisse gibt, dankend an. Ich halte die Hand meiner Mutter und stehe einfach so da. Keine Hektik, keine neuen Sorgen, einfach einen Moment annehmen, dem die Bedrohlichkeit der letzten Tage fehlt. Durchatmen und hoffen, dass dieser Weg genauso weitergehen wird. Mehr möchte ich gerade nicht.

Am Abend besucht mein Vater meine Mutter. Sie schläft. Er redet mit dem blonden Arzt. Mein Vater muss sein Einverständnis für zwei Eingriffe in der kommenden Woche erteilen. Der Arzt erklärt ihm die Eingriffe und die möglichen Nebenwirkungen. Als mein Vater zurück ins Zimmer meiner Mutter kommt, wird sie etwas wacher. Sie öffnet die Augen und bewegt Beine und Arme. Der Arzt sagt, dass sie die Stimme meines Vaters wahrgenommen hat und deshalb nun reagiert. Der Arzt sagt, dass meine Mutter kämpft. Ich weiß nicht, was das bei meinem Vater bewirkt hat, dass meine Mutter so aktiv war und dass der Arzt sagte, dass sie kämpft, aber als mein Vater mir später davon erzählt, muss ich fast wieder weinen. Es klingt wirklich so als würde meine Mutter zurück ins Leben wollen, als würde es eine Chance geben, die vor einigen Tagen undenkbar schien.
Der Arzt sagte meinem Vater auch noch, dass es bis zu sechs Monaten dauern kann bis meine Mutter vollständig wach ist. Was sind schon bis zu sechs Monate, nach drei Wochen wie diesen?

Tag 23
Es ist einfach schön, wenn ich morgens neben der normalen Angst um meine Mutter keine weiteren Ängste haben muss. Es bleibt sicherlich ein Spiel auf Leben und Tod, zumal wir noch immer nicht wissen, was letztlich zu dem Zusammenbruch meiner Mutter geführt hat, dennoch glaube ich auch heute, dass wir das gemeinsam durchstehen. Es ist nicht so, dass mir nicht bewusst ist, dass es irgendwelche Folgeschäden, so wie es derzeit aussieht braucht meine Mutter dauerhaft die Dialyse, geben wird, dass das Leben danach genauso wie vorher sein wird, doch das alles ist in weiter Ferne und es bringt jetzt nichts, wenn wir diesbezüglich spekulieren und uns verrückt machen. Und so versuche ich davon auszugehen, dass die Folgeschäden so gering sein werden, dass sie kaum auffallen und meine Mutter noch viele Jahre vor sich hat. Ein schöner Gedanke.

Wie oft in den letzten Tagen ich mir vorgestellt habe, wie es sein wird, wenn meine Mutter zum ersten Mal ihre Augen geöffnet haben wird, wenn ich sie besuche, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass das Gefühl dabei immer erlösend und schön war. Von all dem ist heute nichts zu spüren, obwohl meine Mutter ihre Augen geöffnet hat, als ich das Zimmer betrete. Sie starrt aber einfach nur irgendwie nach rechts oben. Hoffnungsvoll reden wir auf sie ein, betrachten jede Bewegung als gutes Zeichen, doch irgendwas verhindert es, dass ich wirklich erleichtert bin. Ihre Reaktionen erscheinen zu unpassend, sie wiederholen sich stets und sie sieht scheinbar durch uns hindurch. Zwischendurch vergisst sie zu atmen und erstarrt, dann bekommt sie einen Impuls von der Beatmungsmaschine und der Ablauf ihrer Bewegungen wiederholt sich. Ich würde gerne zu ihr durchdringen, doch ich weiß absolut nicht, wie ich es anstellen soll. Ich weiß nicht wieso, aber mir macht das alles hier gerade ziemliche Angst.

Der blonde Arzt erscheint. Er sagt, dass die Bewegungen meiner Mutter typisch für eine Wachkomapatientin sind. Die unwillkürlichen Bewegungen der Beine, die Bewegungen mit dem Mund, nichts davon lässt sich als bewusstes Handeln bezeichnen. Vielmehr deutet alles auf einen Schaden am Großhirn hin. Zum ersten Mal ist unser Lieblingsarzt nicht mehr zuversichtlich. Seine Hinweise darauf, dass die Nieren besser zu werden scheinen und dass die Dialyse möglicherweise irgendwann nicht mehr nötig sein wird, kann mich nicht wirklich begeistern. Ein funktionierender Körper, der willkürliche Bewegungen macht, darf nicht alles sein, was von meiner Mutter bleibt. Mein Vater ist natürlich geschockt. Er spricht zu meiner Mutter, weist auf die Reaktionen von ihr hin und will einfach nicht, dass der Arzt Recht hat. Ich will das auch nicht, merke aber, wie meine Kraft nachlässt. Es ist spürbar, dass ich in ein neues Loch falle. So schnell kann die Stimmung kippen. Eigentlich hat sich auch dieses Mal nicht wirklich etwas zum Vortag verändert, doch es fühlt sich an als würde die Welt erneut einstürzen.

Später beim Mittagessen ist mein Vater deutlich verändert. Er wirkt nachdenklich, vielleicht auch resigniert. Wir reden nicht viel über das Gespräch mit dem Arzt. Mein Vater zählt die positiven Signale auf, ich kann nur schwach zustimmen. Ich bin völlig geschwächt und frage mich, wie das alles weiter gehen soll.

Ich würde so gerne weglaufen, laufen, laufen, laufen. Fort von diesem Leben, fort von dieser Welt. Doch wohin ich auch liefe, es wäre nie weit genug. Der positive Kick der letzten Tage ist verschwunden. Das Leben vor mir erscheint mir wie eine einzige sinnlose Qual. Die Rescue Tropfen müssen mich nun retten.

Drei Wochen befinden wir uns nun alle in einem nicht definierbaren Zustand. Meine Mutter schwebt zwischen Leben, Tod und Wachkoma. Mein Vater leidet darunter und ich leide ebenso und stelle mir ernsthaft die Frage, wie wir in Zukunft existieren sollen. Ich habe mein Leben selten wirklich unter Kontrolle gehabt, hatte selten eine Phase, die mich auch die Zukunft freuen ließ, jetzt sehe ich nur noch schwarz. Zu labil für diese Welt, zu schwach aufzustehen, zu resigniert, um zu leben. Meine Lebenskrise, die ich nach Ende meiner Therapie im März überwunden glaubte, hat längst wieder Beitz von mir ergriffen. Wie lange kann ich noch so weiter leben? Ein Leben zwischen Hoffen und Bangen und der totalen Aufgabe. Wobei ich selten hoffe, aber ständig aufgebe. Vielleicht bin ich einfach nur Lebensmüde, vielleicht war ich es schon immer.

Der zweite Krankenbesuch des Tages ist ein kurzer. Meine Mutter schläft fest. Sie sieht entspannter aus und wirkt so gar nicht wie jemand, der nie wieder erwachen wird. Wir bleiben nur kurz, um sie nicht aufzuregen.
Zum ersten Mal seit Tagen sprechen wir wieder über den Fall, dass meine Mutter tatsächlich ein Pflegefall wird. Über die finanziellen Folgen, den möglichen Verlust ihrer Eigentumswohnung. Wir sind überfordert, wollen uns damit nicht befassen, können es aber auch nicht lassen. Für den Moment vielleicht, auf lange Sicht kann das aber durchaus ein ernstes und für uns unangenehmes, finanziell kaum zu stemmendes Problem werden. Diese ganze Situation bringt uns in eine Lage, die uns schon jetzt völlig überfordert. Heute vertiefen wir das Thema nicht weiter.

Am Abend besucht mich mein Vater. Er muss mir unbedingt etwas erzählen, so hat es den Anschein. Und kaum hat er Platz genommen, erzählt er, dass meine Mutter richtig gut drauf war. Ich bin skeptisch, denn der Tag und die Aussagen des Arztes lassen mich vermuten, dass mein Vater vielleicht gewisse Dinge zu positiv sieht. Er sagt, dass meine Mutter auf sein Ansprechen richtig reagiert hat und dass der blonde Arzt, der auch noch da war, es registriert hat. Der blonde Arzt sagte dann, dass er das gar nicht glauben kann. Ein Pfleger bestätigte, dass es gestern Abend schon so war, dass meine Mutter auf meinen Vater reagiert hat. Der blonde Arzt konnte es weiter kaum glauben und forderte meine Mutter erneut auf, die Augen zu öffnen. Und tatsächlich öffnete meine Mutter ihre Augen. Der blonde Arzt erklärte ihr, wo sie ist und dass sie vorübergehend nicht sprechen kann. Dann wiederholte er, dass er das alles nicht glauben kann, redete kurz mit meinem Vater und ging erneut zu meiner Mutter, um sie aufzufordern, ihre Augen zu öffnen. Und tatsächlich tat sie es erneut. Ich weiß nicht, was das bei meinem Vater ausgelöst hat, ich weiß nur, dass es mich in diesem Moment total erleichtert. Die furchtbare Last, die seit dem Gespräch mit dem blonden Arzt, seit heute Vormittag wie ein Granitblock auf mir lastete, fällt plötzlich einfach ab. Es ist als könnte ich wieder freier atmen. Es ist als wäre das Leben doch noch nicht vorbei.

Nun sehe ich den nächsten Tagen wieder etwas positiver entgegen. Natürlich weiß ich, wie dünn das Seil ist auf dem wir balancieren, wie schmal der Pfad, auf dem wir wandern, doch hoffe ich, dass wir das Seil verlassen können und der Pfad zu einem Weg und später zu einer asphaltierten Straße wird, auf der wir sicher weiter kommen.

Tag 24
Der letzte Tag einer anstrengenden Woche. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Tag zu den guten gehören wird. Keine niederschmetternden Diagnosen, die mich und meinen Vater verzweifeln lassen. Einfach nur ein normaler Tag, der die Genesung meiner Mutter voranschreiten und uns durchatmen lässt.

Schon früher haben mir unangemeldete Anrufe zu ungewohnten Zeiten irgendwie ein ungutes Gefühl vermittelt. Vor allem, wenn ich auf dem Display die Nummer meiner Eltern sah. Ständig hatte ich Angst, dass irgendwas passiert sein könnte. Angefangen haben diese Ängste vor einigen Jahren als meine Mutter einen Schlaganfall hatte. Nachdem sie aus dem Krankenhaus war und wieder zurück zu Hause, war diese Angst mit ihr da. 13 Jahre lang passierte zum Glück nichts, dennoch erwartete ich stets einen Unglücksfall. Und ich habe in all den Jahren nie gelernt, wie ich das abstellen kann. Und dadurch, dass vor drei Wochen das eingetreten ist, wovor ich mich schon lange gefürchtet habe, ist es sicher nicht besser geworden und wird mich vermutlich so lange begleiten, wie es Menschen gibt, die mir irgendwas bedeuten.
Ebenso hat es mich häufig zusammenzucken lassen, wen ich die Sirenen eines Krankenwagens hörte. Das Phänomen gibt es seitdem meine Mutter, die gerade nach dem Schlaganfall zurück zu Hause war, eine Vorstufe zu einem neuen Schlaganfall hatte, ich einen Krankenwagen rief und es eine gefühlte Ewigkeit dauerte bis dieser endlich eintraf. Dies und die Tatsache, dass der Krankenwagen, der meiner Mutter dieses Mal zur Hilfe eilte, an mir vorbei fuhr, während ich mit Agnes zum einkaufen fuhr, hat dieses miese Gefühl, dass die Sirenen seit Jahren auslösen, noch mehr verstärkt. Ich habe das Gefühl, dass ich seit Tagen fast ständig irgendwo Sirenen höre und fürchte, dass es auch etwas ist, was mich mein Leben lang begleiten und erschrecken wird. Eine Art Trauma des Lebens. Ängste waren schon immer etwas, was ich besser wahrnehmen konnte als Freude. Zumindest scheint es mir so. Schön ist das nicht, aber vermutlich gehört das zu meinem Leben einfach dazu.

Meine Mutter scheint sehr müde zu sein als wir sie besuchen. Mein Vater fordert sie mehrmals auf die Augen zu öffnen, bis sie seiner Aufforderung nachkommt. Nur kurz öffnet sie ihre Augen, dann schließt sie sie wieder. Nun möchte mein Vater, dass sie erneut schaut, weil ich ja auch da bin. Zunächst bleiben ihre Augen geschlossen, dann öffnet sie sie müde. Und für einen kurzen Moment scheint es so als würde sie mich erkennen, denn das kurze, müde öffnen der Augen wird für einen Moment zu einem scheinbar konzentrierten Blick, der interessiert schaut. Eine Moment sieht sie mich, zumindest empfinde ich es so, an. Mir fällt nichts anders ein als zu grinsen und zu winken. Ich weiß nicht, warum ich denke, dass winken eine angemessene Reaktion ist, bilde mir aber ein, dass ich trotz oder gerade wegen dieser durchaus merkwürdigen Geste, die Aufmerksamkeit meiner Mutter für einen kurzen Augenblick einfangen kann. Sei es auch nur deshalb, weil sie sich nun fragt, warum ich so bescheuert winke.
Der blonde Arzt kommt dazu. Er wirkt gut gelaunt und sagt, dass er mit dem, was gestern passiert ist, absolut nicht gerechnet hat. Er scheint fasziniert von der Entwicklung, ist guter Dinge, erzählt, dass meine Mutter bis in die Nacht die Augen geöffnet hatte und nun etwas müde ist und deshalb nicht mehr auf die Ansprache meines Vaters reagiert. Sie scheint jetzt entspannt zu schlafen. So soll es sein. Der blonde Arzt erzählt, dass sie die Werte im Moment wohl gut im Griff haben und wiederholt erneut, dass er damit nicht gerechnet hat. Seine Zuversicht ist fast schon ansteckend.

Meine Mutter bekommt mittlerweile andere Mittel zur Blutdrucksenkung. Möglicherweise hat das zur momentanen Stabilität der Werte beigetragen. Neue Medikamente sind Nepresol und Moxanidin. Dafür wird auf Clonidin verzichtet. Gegen die Herzrhythmusstörungen bekommt sie nun Amiodaron. Abgesehen davon, dass es unfassbar viele Medikamente sind mit denen sie gefüttert wird, scheint es im Moment genau richtig zu sein. Sie atmet auch heute Morgen wieder selbständig. Diese Phasen sollen täglich verlängert werden, so lange bis sie die Beatmungsmaschine nicht mehr braucht. Wäre schön.

Am Nachmittag fährt mein Vater alleine zu meiner Mutter. Ich erwarte Agnes und will vorher endlich mal wieder putzen. Seit dem Tag als es passiert ist, habe ich nämlich nicht mehr wirklich geputzt. Dementsprechend lange dauert es bis endlich alles wieder in einem ordnungsgemäßen Zustand ist.

Mein Vater erzählt von seinem Besuch. Er sagt, dass er das Gefühl hatte, dass meine Mutter nicht wollte, dass er geht als er sagte, dass er gehen muss. So blieb er noch und erst als sie müde wurde, verließ er das Krankenhaus wieder. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er später wiederkommen wird. Ich werde heute eine Pause machen. In der Hoffnung, dass ihr Zustand stabil bleibt, oder noch besser, besser wird, nehme ich mir eine Auszeit. Ich fühle mich zwar hin- und hergerissen, denke aber, dass mir ein kurzes Durchschnaufen gut tun wird, denn wir wissen ja nicht, wie lange es noch dauern wird, bis der alte oder ein neuer Normalzustand widerhergestellt sein wird. Und ich hoffe, meine Mutter nimmt es mir nicht übel, wenn ich es heute, morgen und auch übermorgen bei nur einem Besuch belasse. Danach werde ich wieder täglich zweimal zu ihr gehen.

Tag 25
Heute bekommt meine Mutter die Magensonde, damit sie nicht mehr durch den Schlauch in der Nase ernährt werden muss. So ein Schlauch ist bestimmt auch keine Freude, weshalb ich mir von dem Eingriff erhoffe, dass er meiner Mutter einen positiven Schub gibt, auch wenn der Eingriff, bei dem die Magensonde eingesetzt wird, sicher auch zunächst eine Belastung für den Körper ist. Vor allem auch deshalb, weil sie ja eine Narkose benötigt und so eine Narkose den Aufwachvorgang behindern kann. Außerdem ist jeder Eingriff auch ein Risiko. Dennoch hoffe ich, dass alles gut läuft und meine Mutter dann direkt dort weitermachen wird, wo sie aufgehört hat.

Die Anwesenheit von Agnes wirkt sich natürlich positiv auf mich aus. Ich habe besser geschlafen in der letzten Nacht, meine Rückenschmerzen sind weniger schlimm und meine Gedanken drehen sich nicht komplett darum, wie ich den Tag gestalte. Natürlich denke ich über die Ausnahmesituation, in der wir uns weiter befinden, nach, bin aber insgesamt entspannter, was ich sehr schätze. Und ich komme völlig ohne irgendwelche Beruhigungsmittel aus. Keine Rescue Tropfen und auch kein Calmvalera. Ich denke nicht einmal daran. Mein bestes Beruhigungs- und Entspannungsmittel ist Agnes. Ich sollte sie nicht mehr gehen lassen.

Am Nachmittag besuche ich meine Mutter. Den Eingriff hat sie gut überstanden. Ich spreche sie an und es scheint so als würde sie reagieren. Sie ist sehr aktiv, macht den Eindruck als würde es ihr besser gehen. Ich rede auf sie ein, dass alles gut wird, sie Geduld haben muss, ich weiß, dass Geduld Scheiße ist, sie im Krankenhaus ist, es ihr bald besser geht, sie sich entspannen soll, nicht reden kann, alle sich um sie kümmern. Diese wenigen Sätze wiederhole ich ständig, während ich ihre Hand halte, das Gesicht oder den Arm streichle. Es gibt Momente, da starrt sie völlig an mir vorbei und andere, in denen sie mich zu fixieren scheint. Einmal folgen ihre Augen mir sogar kurz. Das ist wirklich beeindruckend und macht sehr viel Hoffnung. Sie bewegt den Mund sehr viel, was mir den Eindruck vermittelt als wolle sie mir etwas sagen. So muss ich ihr mehrfach sagen, dass sie derzeit nicht sprechen kann. Sie scheint zu verstehen. Es gibt aber auch Momente, in denen ich fürchte, dass ich mir diesen Fortschritt nur einrede. Momente in denen ich mich frage, ob ich mir was vormache. Denn bei all der Euphorie, wirkt sie teilweise nicht als wäre sie hier. Was, wenn all das recht willkürlich geschieht? Was, wenn sie zwar merkt, dass irgendwas um sie herum passiert, aber keinen Schimmer hat, wer ich eigentlich bin? Ausschließen kann man das ja nicht wirklich.
Bis zum Ende meines Besuches rede ich dennoch fast ununterbrochen zu ihr. Immer voller Hoffnung, dass sie auf einem guten Weg ist und alles ein kaum für möglich gehaltenes, gutes Ende nimmt.

Tag 26
Auch heute Nacht war mein Schlaf entspannt und ich schlafe länger. Bis acht Uhr. Und es entspannt, mit nur leichten, aber durchaus erträglichen Rückenschmerzen, aufzuwachen. Nie war es deutlicher, wie wichtig es ist, jemanden an seiner Seite zu haben. Früher dachte ich immer, dass ich niemanden so sehr brauche. Heute weiß ich, dass ich mich geirrt habe. Agnes brauche ich.

Nach dem gestrigen Besuch bei meiner Mutter, erwarte ich natürlich, dass es genauso rasant weiter geht.
Als ich ihr Zimmer betrete, schaut sie, wie fast immer, mit nach rechts geneigtem Kopf an die Decke. Sie starrt einfach nur. Das wirkt nun wieder alles andere als nach Fortschritt. Vielleicht bin ich aber auch einfach zu ungeduldig. Natürlich bin ich das.
Als ich sie anspreche reagiert sie. Sie ist da. Es gilt nur, sie dauerhaft zu erreichen. Im Gegensatz zu gestern, wirkt sie müder, erschöpfter. Dafür ist sie permanent damit beschäftigt Arme und Beine zu bewegen. Ihren linken Arm hebt sie immer weiter Richtung Brust. Der linke Arm zuckt zwar, ist aber scheinbar weniger beweglich. Oft scheint sie einzuschlafen. Auch wenn sie ab und zu auf mich reagiert, macht sie nicht den Eindruck, dass sie mich bewusst wahrnimmt. Mich als Person schon, mich als ihren Sohn eher nicht. Natürlich bin ich enttäuscht, habe Zweifel und frage mich, ob das nun der Endzustand ist. Denn bei aller Euphorie, darf ich nicht außer Acht lassen, dass es keine Garantie gibt, dass die Entwicklung nicht einfach stoppt. Andererseits muss ich mich daran erinnern, dass es Zeit braucht, dass sie nicht täglich solche Sprünge nach vorn machen kann und dass es manchmal auch wirken darf als würde sie einen Schritt in die andere Richtung machen. Ich muss mich einfach mehr an den kleinen Schritten erfreuen und lernen, damit zu leben, dass kleine Schritte nötig sind, um ein großes Ziel zu erreichen.
Eine Stunde bin ich bei ihr, betrachte ihre Versuche, die Arme zu bewegen, frage sie ab und zu, was sie vorhat und frage mich, wie sie sich wohl fühlt, wie bewusst sie mich und alles andere wahrnimmt und ob wir eines Tages darüber reden können. Sie ist die meiste Zeit mit sich selbst beschäftigt, hat oft die Augen geschlossen. Doch wenn einer der anderen Patienten auf dem Zimmer plötzlich irgendwelche Geräusche von sich gibt, öffnet sie ein Auge, manchmal auch beide, schaut kurz, was da los ist und ob vielleicht jemand etwas von ihr will, zumindest scheint es so, und widmet sich dann wieder ihren Versuchen, die Arme zu heben, was ihr, besonders mit dem linken Arm, recht gut gelingt.

Ich schaue in die Patientenakte. Es ist nichts zu erkennen, was auf neue Probleme hinweist. Dieselben fünf oder sechs Blutwerte, die seit ihrer Einlieferung nicht stimmen, sind auch weiterhin schlecht. Die meisten davon betreffen die Nieren. Habe ich mir vor einigen Tagen von irgendwem erklären lassen. Die Tablettenmischung scheint derzeit für einen guten Blutdruck zu sorgen. Er liegt bei 130/55. Schwankend natürlich, aber das ist vermutlich normal.

Mein Vater kommt nun auch zu Besuch. Im Gegensatz zu mir, redet er immer mit meiner Mutter. Ich verabschiede mich von ihr und sage, dass ich morgen wieder da bin. Später erzählt mir mein Vater, dass sie weiter die Arme bewegt hat, insgesamt aber oft eingeschlafen ist. Trotz seines Optimismus, kann ich heraushören, dass er besorgt ist. Natürlich ist er das. Bin ich ja auch. Wie gerne würde ich ihm helfen, aber ich weiß leider nicht, wie ich das anstellen kann.

Tag 27
Nachdem Agnes gestern nach Hause gefahren ist, habe ich auch einen Teil der Entspannung der letzten Tage verloren. Nachdem ich in den letzten beiden Tagen zwar morgens auch meine Rückenschmerzen hatte, diese aber erträglicher waren, stehe ich heute bereits um 05.48 Uhr auf, weil ich die Schmerzen nicht mehr ertrage. Das lässt darauf schließen, nein, es zeigt eigentlich sogar recht deutlich, dass meine Schmerzen auch eine Frage der Psyche sind. Ob mir das nun weiter hilft, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich sollte Agnes einfach bei ihrem nächsten Besuch nicht mehr fahren lassen.

Der Vormittagsbesuch im Krankenhaus ist von kurzer Dauer. Meine Mutter scheint vom Eingriff, ihr wurde ein Stent eingesetzt, sehr müde. So lassen wir sie sich ausruhen.

Am Nachmittag besuchen wir sie erneut. Zunächst starrt sie vor sich hin. Dann nimmt sie uns wahr. Aber sie bewegt sich nicht. Mein Vater redet viel mit ihr. Ihr Blutdruck steigt an. 160/55. Es scheint als wäre sie sehr aufgeregt. Ich spreche sie an. Manchmal scheint sie mich anzusehen, dann ist starrt sie plötzlich einfach nur. Diese Momente sie beängstigend. Sofort kommt die Angst in mir hoch, dass das unsere Zukunft ist. Ein Leben zwischen scheinbar hellen Momenten und diesem starren ins nichts. Dann folgen Momente, in denen meine Mutter regelrecht panisch zu werden scheint. Ich versuche beruhigend auf sie einzuwirken und suche immer wieder nach meiner Mutter, wie sie vor dem Vorfall war. Irgendwas, woran ich sie erkenne. Aber vermutlich bin ich da zu voreilig und kann solche Dinge noch lange nicht verlangen. Dennoch würde mir das sehr helfen, vor allem dann, wenn meine Mutter plötzlich quasi erstarrt und nicht wirklich anwesend zu sein scheint. Das sind wirklich gruselige Momente.

Die polnische Schwester kommt herein, um uns mitzuteilen, dass meine Mutter morgen verlegt wird. Nach Dortmund-Brackel. Wir sind überrascht. Die Schwester sagt, dass gleich noch eine Ärztin mit uns redet. Mein Vater reagiert unerwartet. Er hatte gehofft, dass es eine andere, näher gelegene Klinik wird und ist plötzlich irgendwie völlig panisch. Er fragt sich, wie er dahin kommen soll. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich weiß nicht, was jetzt in ihm vorgeht, doch nun ist er ständig den Tränen nahe und irgendwie wirkt er sehr verloren. Ich hatte gedacht, es würde ihn aufbauen, wenn meine Mutter verlegt wird. Doch dem ist nicht so. Eine tiefe Traurigkeit hat ihn nun völlig umhüllt und so muss er sich ständig abwenden. Ich weiß nicht, ob es wirklich daran liegt, dass ihm Dortmund-Brackel zu weit weg zu sein scheint, ob er glaubt, dass sie hier am besten aufgehoben ist oder hoffte, dass sie vorher selbst aus ihrem unglücklichen Zustand erwachen wird, aber es bereitet mir Sorgen. Ist ihm nun bewusst, dass es möglicherweise Monate dauert bis sie zurück zu uns kommt? Fürchtet er ebenso wie ich, dass meine Mutter immer auf Hilfe angewiesen sein wird? Ich weiß es nicht. Alles was ich später dazu von ihm zu hören bekomme ist „Alles Scheiße“. Da hat er irgendwie Recht.

Wir fordern meine Mutter auf ihre Augen zu schließen. Sie tut es. Die polnische Schwester sagt, dass meine Mutter oft verzögert reagiert und es sicher sehr lange dauern wird bis sie wieder gesund ist. Ich weiß nicht, ob mein Vater so etwas heute hören sollte. Sofort redet er wieder zu meiner Mutter, dass sie doch wenigstens einmal ihre Beine bewegen soll. Der Wunsch bleibt unerfüllt.
Nach einem kurzen Durchhänger beginnt meine Mutter plötzlich ihre Arme zu bewegen. Als wollte sie uns etwas zeigen, sich etwas zeigen, einfach nur darauf hinweisen, dass es nicht an ihr liegt, dass nicht mehr passiert. Zwischendurch wirkt sie sehr verzweifelt, was ich nicht gut finde, was aber vielleicht ein gutes Zeichen ist, dass sie will und weiter alles tut, um aus diesem Dilemma auszusteigen.

Eine Assistenzärztin kommt zu uns und erklärt uns, dass meine Mutter wahrscheinlich morgen Vormittag verlegt wird. Leider fragen wir nicht, wie ihr Gesamtzustand sich darstellt und ob es Informationen darüber gibt, wieso sie einen Herzstillstand hatte und wie man das in Zukunft verhindern kann. Im Nachhinein betrachtet, fühlt es sich so an als wären die hier nun fertig mit uns und hätten die Verantwortung weitergereicht. Wir verabschieden uns.

Nachdem mein Vater am Abend meine Mutter besucht hat, kommt er zu mir. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl, als er die Wohnung betritt. Und kaum ist er da, höre ich ihn sagen, dass es nicht gut aussieht. Sofort bin ich geschockt, mein Magen fühlt sich an als hätte jemand rein getreten. Mein Vater sagt, dass meine Mutter operiert werden muss. Vermutlich innere Blutungen. Ich werde panisch. Mein Vater sagt, dass meine Mutter einen sehr dicken Bauch hatte, was mir auch aufgefallen war bei unserem Besuch am Nachmittag, ich aber am Ende nicht weiter beachtet habe, was sich nun als Fehler herausgestellt hat. Nun sagt er, dass der Bauch vermutlich so dick ist, weil er voll Blut sein soll. Er hat im Krankenhaus gesehen, dass der Beutel, der mit einem Schlauch, der aus ihrem Bauch kommt, voller Flüssigkeit/Sekret ist, dass blutig ist. Die Schwester hat, als er sie darauf hingewiesen hat, zunächst gesagt, dass das kein Blut ist, dann später aber gesagt, dass meine Mutter am Tag schon blutig erbrochen hat. Nun wird sie gerade untersucht und alles für eine Not-OP vorbereitet. Mir ist schlecht. Zwischen 21.00 Uhr und 21.30 Uhr wird das Krankenhaus uns über den Zustand meiner Mutter informieren. Wir sind beide geschockt, fassungslos und völlig fertig. Heute Mittag dachten wir, dass morgen der nächste Schritt zur Genesung eingeleitet wird, nun bangen wir plötzlich um das Leben meiner Mutter.

Mein Vater macht sich Vorwürfe, dass er nicht eher etwas gesagt hat, als ihm auffiel, dass der Bauch meiner Mutter viel dicker als gewöhnlich war. Und ich mache mir ebenfalls Vorwürfe. Wir haben nicht gut aufgepasst, hätten nicht davon ausgehen sollen, dass meine Mutter in guten Händen ist. Ich nehme meine Rescue Tropfen, trinke einen Tee zur Beruhigung und sitze anschließend völlig aufgelöst neben meinem ebenfalls völlig aufgelösten Vater auf dem Sofa. In meinem Kopf wechseln sich finstere Gedanken ab. Ich schüttle mehrfach den Kopf, will etwas sagen, mir und meinem Vater Mut machen, doch am Ende kann ich nicht in Worte fassen, was ich sagen will. Es herrscht erneut Ausnahmezustand. Und ich mache mir Sorgen um meinen Vater. Er wirkte sowieso in den letzten Tagen nicht mehr so stark, nun wirkt er fast zerbrochen. Sicherlich versucht er auch heute die Situation anzunehmen, weil sie ja nicht zu ändern ist, aber seine Verzweiflung ist deutlicher als je zuvor. Und vor allem macht er sich Vorwürfe, weil er, wenn er besser aufgepasst hätte, verhindern hätte können, was nun passiert ist. Und ich glaube zu erkennen, woher ich es habe, dass ich mir auch immer Vorwürfe mache, dass ich irgendwas hätte eher erkennen müssen und mich auch für viel zu vieles verantwortlich fühle. Das ist etwas, was mein Vater mir scheinbar in die Wiege gelegt hat. Und noch etwas fiel mir in den letzten Tagen auf. Immer wenn etwas passiert, was nur deshalb passiert, weil mein Vater etwas vergessen hat, oder weil er eine scheinbar falsche Entscheidung getroffen hat bzw. das glaubt, beschimpft mein Vater sich selbst, sagt, dass er doof ist oder fragt sich vorwurfsvoll, was er da wieder angestellt hat. Ich mache das auch ständig. Mich zu beschimpfen, oder gar zu beleidigen, ist etwas, was ich sehr gut kann. In letzter Zeit zwar nicht mehr so extrem, wie vor einigen Jahren, doch immer noch ausgeprägt genug, um es als prägnant zu bezeichnen. Und es lässt sich kaum leugnen, dass ich diese Eigenschaft von meinem Vater habe. Ich glaube nämlich kaum, dass er das von mir hat.

Wir sitzen völlig unentspannt auf dem Sofa, als sein Telefon klingelt. Sofort steigt der Blutdruck an und ich bin noch stärker angespannt. Die Stimme am Telefon kann ich zum Teil hören und so bekomme ich rasch den Eindruck, dass es keine OP gegeben hat und meine Mutter zurück auf ihrem Zimmer ist. Es klingt nicht so als hätte sie innere Blutungen gehabt.
Nach dem Gespräch sagt mein Vater, der nun kaum seine Tränen unterdrücken kann, mir, dass im Bauch meiner Mutter wohl „nur“ Luft sei, morgen aber noch eine Untersuchung mit Magensonde stattfinden soll. Für den Moment fällt ein riesiger Druck von uns ab. Wobei wir beide skeptisch bleiben, weil die Untersuchung morgen ja durchaus noch Gefahr bedeutet. Doch für den Moment können wir durchatmen, auch wenn wir wissen, dass wir uns noch lange nicht in Sicherheit wiegen können.

Agnes ruft an. Ich hatte ihr, sofort nachdem ich von meinem Vater gehört hatte, dass es meiner Mutter schlecht geht, Nachrichten geschrieben und sie damit ebenfalls und, wie sich mittlerweile herausgestellt hat, völlig unnötig gestresst. Denn auch an ihr geht die Situation nicht spurlos vorbei. Direkt nachdem sie meine Meldungen gelesen hat, musste sie sich übergeben. Das habe ich nicht gewollt. Aber ich musste es einfach teilen und natürlich teile ich es dann mit ihr. Jetzt bereue ich es. Denn hätte ich bis zum Anruf des Krankenhauses, der zum Glück positiv, zumindest für den Moment, war, hätte ich Agnes die Aufregung und Sorgen um mich gespart. Und nun muss ich aufpassen, dass ich mir deshalb nicht zu viele Vorwürfe mache, weil es ihr meinetwegen so schlecht ging. Die emotionale Verbundenheit mit anderen Menschen kann so viele Schmerzen verursachen, weshalb ich früher immer wollte, dass ich mit niemandem so eng verbunden bin. Ohne Agnes wäre ich in dieser Situation jedoch völlig verloren.

Dass mein Vater, seitdem meine Mutter im Krankenhaus liegt, schlecht schläft ist nicht verwunderlich, doch das man es ihm nun ansieht, finde ich bedenklich. Denn selbst wenn alles gut verläuft, wird es wohl noch Monate dauern bis meine Mutter, was wir alle hoffen, wieder zurückkehren wird. Bis dahin müssen wir uns etwas einfallen lassen, wie wir es schaffen, dass er sich etwas, zumindest zwischendurch, entspannt und besser schläft. Baldrian scheint bisher nicht geholfen zu haben. Calmvalera ebenfalls nicht. Ich habe ihm deshalb Neuroplant mitgebracht und hoffe, dass er es regelmäßig einnimmt. Denn es ist niemandem geholfen, wenn er demnächst irgendwann schlapp macht und selbst Hilfe braucht.

Tag 28
Es ist 04.44 Uhr als ich das erste Mal wach werde. Viel zu früh, da ich erst gegen 01.00 Uhr eingeschlafen bin. Ich schlafe nochmal ein, wache aber etwa eine Stunde später wieder auf. Wirklich entspannend und erholsam ist das nicht. Ich bleibe noch eine Stunde liegen, stehe dann gegen 06.45 Uhr auf und bin nicht wirklich erholt, kann aber auch nicht mehr schlafen. Und mit Ausnahme der Tage an denen Agnes bei mir war, ist es an den anderen Tagen ähnlich. Ich schlafe zu wenig, entspanne kaum. Da mein Vater und ich uns da ja ähnlich zu sein scheinen, gehe ich davon aus, dass er noch weniger schläft. Wie lange kann man so etwas durchhalten?

Ich hole mein Auto, mache etwas im Haushalt und telefoniere gegen 08.30 Uhr mit Agnes, lege mich aufs Bett und schlafe ein. Ich bin einfach durch. Etwa eine halbe Stunde Erholung bringt mir unser Telefonat, bei dem wir nicht viel reden, weil ich ja schlafe. Da ich später ins Büro muss und noch einiges zu erledigen habe, stehe ich auf. Ich fühle mich vollkommen platt. Der zusätzliche Stress gestern hat mir nicht gut getan. Und noch steht ja eine Untersuchung an, die endgültig Klarheit darüber bringen soll, ob „nur“ Luft im Bauch meiner Mutter das Problem ist oder ob es eben doch Komplikationen gibt. Das Stressfass ist einfach zu voll für zusätzliche Aufregungen.

Im Büro erfahre ich von meinem Vater, dass die Untersuchung am Morgen ergebnislos verlief. Grund zur Freude bleibt aber nur kurz, denn es wird als nächstes eine Bronchoskopie gemacht. Und jede weitere Untersuchung stellt auch eine Gefahr da. Mir jedenfalls machen Untersuchungen Angst.

Als ich später meine Mutter besuche, sitzt sie recht aufrecht im Bett und starrt wie immer nach rechts. Ihre linke Hand schwebt in der Luft und es scheint als wäre sie dabei, um weitere Beweglichkeit zu kämpfen. Auf meine Ansprache reagiert sie fast spontan. Sie richtet die Augen auf mich und wirkt aufgeregt. Es ist als wolle sie mir etwas sagen. Der Blutdruck steigt. Ich rede mit ihr, streichle ihren Arm oder ihr Gesicht und frage mich, ob sie das gut oder weniger gut findet. Denn normalerweise gehören Körperkontakte nicht zu unserem Leben. Wir sind eher mit der rein verbalen Kommunikation vertraut. Meine Mutter wird zwischendurch sehr aufgeregt, Herzfrequenz und Blutdruck steigen enorm und es scheint so als würde ich ihre Ungeduld spüren. Ich fordere sie mehrfach auf, sich etwas zurückzuhalten, nichts erzwingen zu wollen, doch sie scheint nicht auf mich hören zu wollen. Ich erzähle irgendwelche Geschichten. Manchmal verliere ich ganz spontan ihre Aufmerksamkeit und sie scheint nichts mehr von mir wahrzunehmen. Dennoch versuche ich erneut die Konzentration auf mich zu lenken. Ich sage ihr, dass ich extra ein schickes Hemd angezogen habe. Und sie sieht tatsächlich zu meinem Hemd. Ein kurzer spontaner Blick. Da ich weiß, dass sie das Hemd gar nicht so gut findet, sage ich ihr, dass ich das weiß und der Vater es gebügelt hat und das gut macht. Ich habe das Gefühl, dass sie heute lebhafter als je zuvor ist. Zumindest während meiner Besuche war sie nie so aktiv.
Lediglich das Gespräch mit einer Pflegerin reißt mich aus meiner Traumwelt in der alles gut wird. Diese sagt, dass das Ergebnis der Bronchoskopie morgen vorliegen wird, weil eine Probe genommen wurde und die Ergebnisse nicht so schnell vorliegen. Mir macht das Angst. Alles, was nicht unbedingt geplant war, jede zusätzliche Untersuchung macht mir einfach Angst. Und die vielen zusätzlichen Medikamente, die meine Mutter mittlerweile bekommt, machen mir ebenfalls Angst.

Meine Mutter bewegt weiter ihre Hände, schaut mich manchmal schon sehr intensiv an und scheint ebenso wie ich davon genervt, dass zwei ihrer Zimmernachbarn sehr laut schnarchen. Ich weiß nicht, wie ich mich richtig verhalte, mag aber auch nicht gehen, weil dieser wache Moment, diese aktive Kommunikation, zu wertvoll ist, um jetzt zu gehen. Ich erkenne am Verhalten meiner Mutter irgendwie mehr von meiner Mutter als in den letzten Tagen. In der letzten Zeit schien sie mir oft sehr fremd, wenn sie wach war und starrte. Lediglich wenn sie entspannt schlief, schien es meine Mutter zu sein, die ich besuche. Heute ist da mehr. Trotzdem bleibt die Angst, dass sie irgendwann am Ende ihrer Entwicklung ankommt, noch bevor sie wirklich angekommen ist, wo wir alle hoffen, dass sie ankommt. Angst wird noch lange unser Begleiter sein.

Als mein Vater meine Mutter später besucht, hat man sie aufrecht hingesetzt und macht ein paar Übungen mit ihr. Was in dem Fall bedeutet, dass ihr Oberkörper bewegt wird. Während dieser Bewegungsübungen ist meine Mutter wenig aktiv und starrt einfach nur vor sich hin. Ob sie wirklich abwesend ist, ob sie genervt von den Ereignissen ist, ob es ihr peinlich ist oder ob ihr in diesem Moment sehr bewusst ist, wie viel Hilfe sie benötigt, weiß ich nicht. Ich hoffe aber, dass sie all das anspornt, noch mehr aktiv zu werden und weiter zu kämpfen. Während dieser Übungen kämmt mein Vater ihr die Haare. Hoffentlich wird sie das bald wieder selbst tun können.
Eine Pflegerin sagt später zu meinem Vater, dass er ihr Lieblingsparfum und Fotos mitbringen soll. Die Fotos sollen an der Decke über ihr angebracht werden, weil sie häufig zur Decke starrt. Wenn da Bilder hängen, die ihr was bedeuten, kann das von Vorteil sein.

Als mein Vater mir später davon erzählt, bin ich irgendwie hoffnungsvoller als je zuvor, seit dieser Alptraum begann und wir alle uns in diesem Ausnahmezustand befinden.

Tag 29
Es ist 05.45 Uhr als ich wegen starker Rückenschmerzen aufstehen muss. Entspannt geht anders. Ich ziehe mich an und gehe zur Garage. Auf dem Weg dorthin habe ich spontan das Gefühl, dass meine Mutter sich tatsächlich auf dem Weg der Besserung befindet, dass wir auf einem guten Weg sind. Abgesehen von der Angst vor dem Ergebnis der Bronchoskopie, welches uns in ein neues Tal der Tränen und Verzweiflung stürzen könnte, scheint es im Moment keine neuen Hindernisse zu geben. Es fühlt sich wie eine Art Aufbruchsstimmung an. Als hätten wir eine Stufe erklommen und könnten nun die nächsten Schritte gehen. Wobei nicht vergessen werden darf, dass meine Mutter dabei die höchsten Stufen zu erklimmen hat.
Ich erinnere mich an ihren Schlaganfall vor einigen Jahren. Ich weiß nicht mehr, wie nah am Tod sie damals war, kann mich aber daran erinnern, dass es irgendwann nur noch darum ging, dass sie wieder sprechen und andere alltägliche Dinge lernen musste. Ich erinnere mich daran, wie ungeduldig und auch unwirsch sie damals manchmal war. Aber damals hat sie es geschafft. Sicherlich gab es Veränderungen, aber besonders in der ersten Zeit war meine Mutter diszipliniert und ehrgeizig. Mit dieser Disziplin, ihrem Willen und Ehrgeiz, kann sie es erneut schaffen. Nein, sie muss es schaffen. Und wir müssen ihr dabei helfen. Ich glaube tatsächlich, vermutlich zum ersten Mal seit dem Vorfall, dass sie zurückkehren und ein eigenständiges Leben führen kann. Ich wünsche es ihr, meinem Vater und mir natürlich auch. Sind wir endlich soweit, dass wir uns berechtigte Hoffnungen auf ihre vollständige, wobei wir wissen, dass es Unterschiede zu der Zeit vor dem Unfall geben wird, Genesung machen können?

Am kommenden Montag soll meine Mutter nach Dortmund-Brackel verlegt werden. Dort soll sie komplett von der Beatmungsmaschine entwöhnt werden und danach zur Reha. Das klingt zunächst gut, macht aber auch irgendwie Angst, weil so eine Reha ja nur von begrenzter Dauer ist und sich die Frage stellt, wie weit sie dann ist und wie es dann weitergehen soll. Und auch wenn es jetzt kalt und unangemessen klingt, stellt sich die Frage, ob, nein, wie wir das alles finanzieren können.

Da meine Mutter am Vormittag massiert wird und irgendwelche Körperpflegeaktionen anstehen, dürfen wir sie erst ab Mittag besuchen. Mein Vater ist etwas eher bei ihr. Als ich eintreffe, schläft sie. Ich lese ihre Krankenakte. Wie immer, verstehe ich nicht viel. Ich kann lediglich sehen, dass sie in den letzten Tagen mehr Flüssigkeit aufgenommen als abgegeben hat. Finde ich nicht gut. Außerdem liegt eine Spritze mit Morphin bereit. Gefällt mir noch weniger und macht mir Sorgen. Ich lese den Bericht ihrer Bronchoskopie. Es wurde Schleim abgesaugt und eine Blutung entdeckt. Wir fragen eine Pflegerin. Sie wiederholt, was ich gelesen habe und sagt, dass das nicht besorgniserregend ist und im Laufe des Tages der Bericht zur Probeentnahme da sein wird. Wirklich gut fühle ich mich erst wieder, wenn da nichts festgestellt wurde. Ich frage, warum meine Mutter Morphin bekommt. Zur Beruhigung. Morphin zur Beruhigung, finde ich eher beunruhigend. Oder wollte die Pflegerin mich mit der Aussage etwa beruhigen? Ich hoffe nicht. Ich werde versuchen diesen Morphingebrauch zu beobachten. Da gibt es sicher harmlosere Mittel zur Beruhigung. Oder?

Meine Mutter wacht wieder auf. Und ich erkenne einen deutlichen Unterschied in ihrem Verhalten. Bei meinem Vater ist sie wacher, scheint konzentrierter, versucht zu kommunizieren. Als sie plötzlich einen Hustenanfall bekommt, Flüssigkeit irgendwo im Hals sich sammelt, wird sie panisch. Flehend schaut sie meinen Vater an. Hilfesuchend wendet sie sich ihm zu und ist sehr aufmerksam. Mein Vater ruft die Pflegerin. Diese sagt, dass das normal ist und schließt in aller Entspanntheit einen Sauger am Trachealkatheter an, um meiner Mutter die Flüssigkeit abzusaugen. Es sieht nicht aus als wäre das irgendwie angenehm. Ich habe auch das Gefühl, dass die Flüssigkeit blutig ist, kann es aber nicht mit Sicherheit sagen. Was deutlich zu erkennen ist, dass es meiner Mutter danach besser geht. Die Panik ist aus ihrem Gesicht verschwunden und sie sieht entspannter aus. Ich kann mich nicht erinnern, wann meine Mutter jemals so auf meinen Vater fixiert war. Ich finde das gut und wünsche den beiden, dass sie diese, durch eine schreckliche Situation, entstandene Nähe, beibehalten. Und noch mehr wünsche ich ihnen, dass sie noch viele, hoffentlich schöne, Jahre zusammen verbringen werden.

Meine Mutter so hilflos und ausgeliefert zu sehen, macht mich traurig. Selbst hilflos daneben zu stehen und nichts wirklich tun zu können, lässt mich manchmal verzweifeln. Es entsteht eine Leere, die nur schwer zu ertragen ist. Der Spieler, Gott, oder wer auch immer dafür verantwortlich ist, kann wirklich grausam sein. Ich stelle mir das Leben oft wie ein Spiel vor. Wir Menschen sind die Spielfiguren. So wie bei Warcraft, Theme Hospital oder einem anderen Spiel. Nur ist dies eine, zumindest bilde ich es mir so ein, größere Dimension. Und so wie man bei Sim City irgendwelche Katastrophen bestellen kann, so kann man in diesem Spiel sogar Einzelschicksale steuern. Vielleicht steuert es auch ein Zufallsgenerator. Sicher bin ich mir da noch nicht. Ob der Spieler, der uns steuert eine emotionalere Bindung zu uns hat als wir zu den Figuren, wenn wir etwas spielen? Haben unsere Spielfiguren auch Gefühle und Schmerzen? Wie viele von uns steuert der Spieler? Einen, Zehn, Hundert oder gar Millionen? Wie viel liegt ihm an uns? Und sind solche Fragen vielleicht zu krank, um weiter darüber nachzudenken? Und was bringt all das nachdenken, wenn es an der Gesamtsituation nichts ändert? Ich beende meinen Ausflug in eine andere Welt und sehe meine Mutter vor mir, wie sie kämpft, um zurück ins Leben, welches ihr oft keinen Spaß zu machen schien, zu kehren. Meine Mutter hat immer viel gemeckert und wirkte oft unzufrieden. Ich meckere auch viel und bin definitiv zu oft unzufrieden. Vielleicht sollten wir diese Einstellung demnächst mal überdenken. Unzufriedenheit bringt nämlich nichts, außer dass sie einen Unzufrieden macht. Eigentlich ist das Leben viel zu kurz für so einen Blödsinn. Doch wo ist der Schalter, um dieses Verhalten abzustellen? Ich habe ihn bisher nicht gefunden, vermute aber, dass er in jedem selbst zu suchen ist. Schöne Scheiße. Eine Anleitung wäre durchaus hilfreich.

Am Abend ruft mich mein Vater an und erzählt von seinem Abendbesuch. Er hat weitere Informationen zur Bronchoskopie. Der Hals war verschleimt und wurde abgesaugt. Wie genau das Problem angegangen wird, entscheidet sich nach Auswertung der Probe, die genommen wurde. Vor Montag ist damit nicht zu rechnen. Das Wochenende wird also abgewartet. Zumindest interpretiere ich das so. Ich bin erleichtert, weil es noch kein Ergebnis gibt, bedeutet es doch, dass es auch keine schlechten Nachrichten gibt. Gleichzeitig bin ich besorgt, weil es ja Handlungsbedarf gibt, eine gezielte Behandlung aber von dem Ergebnis der Probeentnahme abhängt. Es ist einfach immer irgendwas, was nicht passt und Anlass zu weiteren Sorgen gibt.
Ich weiß nicht, ob ich mich irre, aber mein Vater klingt irgendwie kraftlos. Kein Wunder in einer solchen Lage. Dennoch muss es einen Weg geben, dass er sich auch etwas entspannt zwischendurch. Denn sonst besteht die Gefahr, dass er bald schlapp macht. Und dann wäre das Chaos zu groß. Und das darf nicht passieren.

Tag 30
Auch wenn es aktuell keine Sorgen geben sollte, die über die Sorgen, die diese ganze Ausnahmesituation mit sich bringt, hinausgehen, geht es mir nicht gut. Weder mag ich aufstehen noch kann ich dem Leben etwas abgewinnen. Meine depressiven Schübe müssen nicht unmittelbar mit der Situation zu tun haben, förderlich ist die Situation aber mit Sicherheit nicht. Mein Interesse in den Tag zu starten ist an diesem Tag äußerst dürftig. Ich mag einfach nicht. Es ist einer der Tage an dem ich nur einen langen, schwarzen Tunnel vor mir sehe, an dessen Ende aber kein Licht brennt. Wozu also weitergehen? Nur um weiter durch die Finsternis zu wandern, einen Tunnel zu durchqueren, an dessen Ende unweigerlich der Tod wartet? Es gibt Tage, da habe ich Angst vor dem Leben und ebensolche Angst vor dem Tod. Der heutige Tag scheint ein solcher zu sein.

Als wir meine Mutter am Vormittag besuchen, ist sie müde. Die Dialyse ist gerade vorbei und meine Mutter schläft recht bald ein. Ein Pfleger sagt, dass wir ihr was erzählen sollen. Das geht natürlich gar nicht, denn erstens schläft meine Mutter ja und zweitens haben wir nichts zu erzählen und drittens kommen wir uns nun wieder blöd vor. Meine Mutter will sich ausruhen. Und so bleiben wir nur kurz.

Am Nachmittag besuche ich meine Mutter. Sie ist wach, aber sie war schon mal agiler. Sie ist ans Beatmungsgerät angeschlossen. Sie bewegt sich nicht. Ab und zu scheint es so als hätte ich ihre Aufmerksamkeit, dann wieder wirkt es als würde sie mich gar nicht wahrnehmen. Ich bin traurig. Vielleicht erwarte ich zu viel, doch diese scheinbare Stagnation macht mir Angst. Ihre Temperatur von 37,8° finde ich auch bedenklich. Das ist alles anders als ich es erwartet oder zumindest erhofft hatte. Ich erzähle ihr von meinem Balkon und das Agnes am nächsten Wochenende zu mir kommt. Ich weiß nicht, ob ich es mir nur einbilde, aber diese Information scheint ihre Aufmerksamkeit bekommen zu haben. Also plaudere ich noch kurz etwas über Agnes Besuch und erzähle dann, was ich am Abend vorhabe und dass mein Vater sie nachher besucht. Wirklich reagieren tut sie darauf nicht.
Die polnische Schwester sagt mir, dass meine Mutter heute nicht gut atmet, teilweise sogar fast hyperventiliert. Das macht sie schon seit der letzten Nacht. Warum das so ist, kann sie mir nicht sagen. Ich bin ratlos und weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ist das noch Stagnation oder schon Rückschritt?

Ich nehme die Hand meiner Mutter, sie drückt sie leicht. Das finde ich gut und sage ihr, dass sie meine Hand erneut drücken soll. Sie macht es ein paar Mal und ich lobe sie dafür. Sie drückt wieder. Das ist super, doch nach einer Weile ist die Übung vorbei. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich mich verhalten soll und rede immer dasselbe. Und wenn ich mich beobachtet fühle vom Personal oder anderen Besuchern, dann sage ich gar nichts mehr. Ich bin keine große Hilfe, so viel steht schon mal fest. Ich kann einfach nicht einschätzen, was sie mitbekommt, was ihre Blicke zu bedeuten haben und weiß absolut nicht, wie ich sie sinnvoll unterstützen kann. Ich stehe nur blöd rum, halte ihre Hand, streichle ihr Gesicht oder den Arm, grinse oder rede stets denselben Mist. Ich bin überfordert. Ich will die Genesung unterstützen und nicht wie ein Fremdkörper hier rumstehen. Ich will im Gesicht und an den Reaktionen meiner Mutter ablesen können, ob ich mich gut oder weniger gut anstelle. Es soll ihr besser gehen. Mehr will ich doch gar nicht.

Und wieder vergeht ein Tag, ohne dass man weiß, wie es wirklich weitergeht. Die Möglichkeit, dass es nicht anders weitergeht als jetzt, kann nicht ausgeschlossen werden. Außerdem, und das gibt mir zu denken, hat meine Mutter ihren Bewegungsdrang scheinbar verloren. Arme und Beine bewegt sie nicht mehr. Lediglich die Hand drückt sie einem, wenn man ihre Hand nimmt. Ist das Resignation? Kann sie sich nicht mehr bewegen? Oder ist das einfach nur eine ganz normale Phase?

Es ist in den letzten Tagen eine ganz andere Bindung zu ihr entstanden. Die Art, wie sie sich seit Tagen verhält, ihre Gesten, all das ist anders als meine Mutter früher war. Und dennoch ist es nun vertraut, nicht mehr so fremd, wie noch vor einigen Tagen. Ich stelle mir dennoch immer und immer wieder die gleichen Fragen. Bleibt das so? Wird es besser? Was kann man meiner Mutter Gutes tun? Was geht in ihr vor? Erkennt sie mich wirklich? Wie bewusst nimmt sie die Dinge, die sich täglich um sie herum abspielen, wahr?

Tag 31
Es ist Sonntag. Die Zeit vergeht unglaublich schnell. Es ist geradezu erschreckend, wie schnell sie vergeht. Und je älter ich werde, desto schneller scheint mir die Zeit durch die Finger zu gleiten. Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, ist mittlerweile seit über fünf Jahren tot. Ich lebe bereits seit über vier Jahren in seiner Wohnung. Es ist krass, wie lange viele Dinge zurückliegen und wie das Bewusstsein einem das Gefühl gibt, dass das alles noch nicht so lange her ist, nicht so lange her sein kann. Doch wenn ich wirklich über die Zeiten nachdenke, dann wird mir klar, wie weit manche Dinge bereits zurückliegen. Es wird mir auch klar, dass ich viel zu viel Zeit damit verbringe, auf irgendwas zu warten, anstatt aktiv am Leben teilzunehmen. Manchmal bin ich so wütend vom Leben, dass ich mich quasi weigere daran teilzunehmen.
Morgen oder später, sind Begriffe, die mein Leben bzw. meine Lebenseinstellung sehr gut beschreiben. Beide Wörter sind nichts als ausreden, um nicht aktiv am Leben teilnehmen zu müssen. Sie gaukeln mir vor, dass ich unendlich viel Zeit habe. Doch das ist eher unwahrscheinlich. Und der Alterungsprozess lässt sich keineswegs dadurch stoppen, dass man ihn zu ignorieren versucht. Den Alterungsprozess trickst man nicht aus und sich selbst zu verarschen, klappt auch nur bedingt. Erkenntnisse am Sonntagmorgen, die mich nicht wirklich weiter bringen und auch nicht wirklich förderlich sind.

Dass mein Vater mit der Belastung mindestens genauso schlecht klarkommt, wie ich, ist wenig verwunderlich. Doch langsam mache ich mir immer mehr Sorgen um ihn. Als er mich abholt und wir gemeinsam zu meiner Mutter fahren, sagt er erneut, dass er kaum schläft. Wenig später fahren wir auf eine Ampel zu. Sie zeigt rot. Mein Vater macht keine Anstalten zu stoppen. Ich sage ihm, dass die Ampel rot ist. Er erschreckt sich sehr und bremst. Er sagt, dass er geschlafen hat. Ich denke, wir müssen einen Weg finden, dass er nachts schläft, weil er das sonst nicht mehr lange durchhält.
Wie schlecht es ihm geht, zeigt sich immer dann besonders, wenn wir zusammen meine Mutter besuchen und sie im Gegensatz zu einem vorherigen Besuch weniger aktiv ist. Er wendet sich oft ab, unterdrückt nur mit größter Mühe seine Tränen und putzt sich ständig die Nase. Da ist es natürlich wenig förderlich, dass meine Mutter uns, als wir sie heute besuchen, irgendwie gar nicht auf uns reagiert. Ob es ihr heute schlechter geht, sie einfach nur müde ist oder vielleicht gerade einfach keine Lust mehr auf das alles hier hat, kann ich nicht sagen. Für meinen Vater jedenfalls ist es ein weiterer Tiefschlag. Ich weiß, wie furchtbar es für mich ist, sie so zu sehen, für ihn muss es um ein vielfaches Schlimmer sein. Und so stehen ihm die Tränen in den Augen. Erst als eine Pflegerin sagt, dass sie findet, dass meine Mutter heute entspannter ist, beruhigt auch er sich etwas. Als meine Mutter dann wacher wird, Reaktionen zeigt, die eigentlich kein Zufall sein können, geht es ihm besser. Zumindest für den Moment.
Ich sage meiner Mutter, dass ich heute extra mein blaues T-Shirt angezogen habe. Zum ersten Mal bewegt sie die Augen deutlich, um einen Blick auf das T-Shirt zu werfen. Später bewegt sie ihre rechte Hand und ihren linken Arm. Mein Vater freut sich und lobt meine Mutter. Ob es daran liegt, dass sie nun immer weiter die Hand und den Arm bewegt, kann ich nicht beurteilen, denke aber, dass es beiden guttut. Mich beruhigt es nämlich auch.

Nach dem Besuch sage ich meinem Vater, dass es so nicht mehr geht. Er braucht Pausen. Es geht nicht, dass er dreimal am Tag ins Krankenhaus fährt, Essen macht, Wäsche wäscht und die Wohnung putzt, dafür nachts aber nicht schläft. Ich sage ihm, dass er so eines Tages zusammenbricht und meiner Mutter damit nicht geholfen ist. Er weint und sagt ich soll aufhören. Doch das geht nicht. Er muss verstehen, dass wir das Besuchsverhalten überdenken müssen. Er sagt, dass er heute trotzdem dreimal zu ihr will, weil sie ja gerade so tolle Fortschritte macht. Ich verstehe ihn, sehe aber auch die Gefahr. Was passiert, wenn er das nächste Mal eine rote Ampel übersieht? Hat er Glück und es passiert nichts oder bringt das eine große Katastrophe, deren Ausmaß unvorstellbar für uns alle ist? Darauf ankommen sollten wir es nicht lassen. Ich sage ihm, dass ich am Nachmittag fahre und versuche ihm klarzumachen, dass er Auszeiten braucht. Da er am Tag nicht schlafen will, weil er nachts sonst noch schlechter schläft, müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen.

Zu Hause stelle ich etwas fest, was zu diesem Zeitpunkt mehr als unpassend käme. Meine für eine allergische Reaktion gehaltenen Halsschmerzen werden schlimmer. Sollte ich, bzw. mein Körper, es etwa in Erwägung ziehen, eine sommerliche Erkältung aufkommen zu lassen? Das wäre mehr als blöd. Mein Hals ist total gerötet und ich beginne sofort mit Gegenmaßnahmen. Stündliches Gurgeln mit Teebaumöl in einer Salzlösung. Dazu halbstündlich Meditonsin und Nasenspülungen. Erkältet kann ich meiner Mutter nämlich gar nicht helfen. Ich wäre vielmehr eine Gefahr für sie und meinen Vater. Und falle ich mit Erkältung aus, wird mein Vater ganz sicher täglich dreimal zu meiner Mutter fahren wollen. All das muss verhindert werden.

Am Nachmittag besuchen wir meine Mutter erneut. Sie wirkt auf der einen Seite entspannt, auf der anderen aber auch völlig abwesend. Ich bin besorgt und ratlos wie immer. Mein Vater redet mit meiner Mutter, es dauert aber eine Weile bis sie wirklich reagiert. Die polnische Pflegerin findet, dass meine Mutter heute besser drauf ist als sie es gestern war. Natürlich tun solche Aussagen gut, dennoch zweifle ich sie heute an, da ich nicht erkennen kann, dass meine Mutter heute besser drauf ist. Ich hege den Verdacht, dass die sich vorgenommen haben, die Angehörigen meiner Mutter, also meinen Vater und mich, ein wenig aufzubauen vor den nächsten deprimierenden Mitteilungen, die ich leider stets befürchte und irgendwie auch erwarte. Ich bin misstrauisch.

Ich versuche nicht zu nah an meine Mutter zu gehen und vermeide es, ihr Gesicht zu streicheln. Falls meine Halsschmerzen keine Allergie sind, bin ich zu gefährlich für sie. Gelegentlich bekomme ich gar nichts mit, weil ich gedanklich woanders bin. Wie so oft, denke ich über meine Mutter nach. Ihre neuen, mittlerweile vertrauten Gesten, gehören mittlerweile dazu. Dennoch frage ich mich, ohne zu wissen, wieso diese Frage jetzt plötzlich auftaucht, ob meine Mutter nun ein Pflegefall ist und ob sie auch immer einer bleibt. Solange sie hier ist, ist das alles irgendwie machbar, aber das hier ist als Dauerzustand wohl kaum geeignet und daher unwahrscheinlich. Was passiert, wenn sie das Beatmungsgerät tatsächlich nicht mehr braucht und ihr Zustand nach einer anschließenden Reha kein bisschen besser ist? Vielleicht ist das nun meine Mutter. Vielleicht bekommen wir nicht mehr von ihr zurück. Ich will, dass sie verlegt wird und dass sie ein besseres Programm zur Genesung erhält. Das hier erscheint mir nicht mehr geeignet zu sein. Ich drehe noch durch, wenn ich mich weiter meinen Gedanken hingebe.

Wir zeigen meiner Mutter ein paar Fotos. Die ersten drei scheinen sie zu erreichen, scheinen eine Reaktion auszulösen, die weiteren Fotos scheint sie nicht wahrzunehmen. Vielleicht sollten wir es fürs Erste bei drei Fotos belassen. Vielleicht überfordern sie zu viele Eindrücke.

Gegen 17.00 Uhr verlassen wir meine Mutter. Ich weise meinen Vater darauf hin, dass es zu stressig für ihn ist, wenn er weiter an drei Besuchen pro Tag festhält. Er widerspricht und es kommen ihm die Tränen. Dabei meine ich es doch nur gut.

Meinen Plan, mit meinem Vater noch entspannt ein Eis essen zu gehen, kann ich vergessen, da mein Vater ja bereits gegen 18.30 Uhr wieder zu meiner Mutter fahren will. Das wird zu stressig, zumal er ja auch noch Abendbrot essen muss. Das gefällt mir so absolut nicht. Ich brauche einen Plan und ich darf auf gar keinen Fall eine Erkältung haben. Auf gar keinen Fall.

Später scheint sich zu bestätigen, dass ich keinen Heuschnupfen habe, sondern tatsächlich eine echte Erkältung. Denn mein Hals kratzt und ist deutlich entzündet. Ich gurgel mit der Teebaumöl-Kochsalzlösung, nehme Meditonsin und später Greep Heel. Letzteres natürlich erst, nachdem Agnes mich darauf hingewiesen hat. Ich trinke Erkältungstee und fürchte, dass ich tatsächlich eine Auszeit nehmen muss. So bin ich eine Gefahr für meine Mutter.

Nachdem mein Vater meine Mutter besucht hat, besucht er mich. Zumindest ist heute nichts passiert, was ihn weiter hat deprimieren können. Das ist gut, denn schlechte Nachtrichten können wir derzeit noch weniger gebrauchen und verkraften als sonst. Wir reden kurz darüber, dass meine Mutter ihren Kopf nicht vollständig nach links dreht. Ihre Augen kann sie auch nicht ganz nach links bewegen. Ich frage ihn, ob die Röntgenergebnisse schon ausgewertet wurden. Er sagt, dass der Kopf meiner Mutter sogar schon ein zweites Mal geröntgt wurde. Beide Male wurde eine Blockade in ihrem Gehirn festgestellt, die dafür verantwortlich sein soll, dass sie diese Bewegungen nach links nicht machen kann. Ob diese Blockade vorübergehend ist oder bleiben wird, wurde anscheinend nicht gesagt.

Da mein Vater Dick und Doof mag, gucken wir den Rest des Abends Dick und Doof. Das lenkt ihn ab. Ablenkung ist gut.

Mit einer Nasenspülung und ein wenig Nasenspray, beende ich den Tag und hoffe, dass die Erkältung nicht vorhat länger zu bleiben.

Tag 32
Es ist kurz nach sechs als ich geweckt werde. Es klingt als würde draußen ein Mann mit einem Laubpuster unterwegs sein. Mir erscheint das ziemlich grotesk, weil ich mich nicht daran erinnern kann, dass Herbst ist. Ich habe seit Tagen kein Laub gesehen, bin aber auch zu müde, um zu überprüfen, was da unten wirklich vor sich geht. Meine Erkältung hat sich nicht verschlimmert, wie mir scheint. Die Nase ist zu, aber mit etwas Nasenspray lässt sich das rasch beheben. Ich werde heute weiter gurgeln, meine Mittelchen einnehmen und hoffe, dass ich damit den Kampf gegen die Erkältung vorzeitig gewinne, um meine Mutter besuchen zu können. Den Vormittagsbesuch gedenke ich aber ausfallen zu lassen, um zu sehen, wie es mir im Verlauf des Tages gehen wird.

Vor einigen Tagen war geplant, dass meine Mutter heute nach Dortmund-Brackel verlegt wird. Am Wochenende war davon keine Rede mehr, was mich irgendwie irritiert. Ist das ein schlechtes Zeichen, eine Vorsichtsmaßnahme oder einfach vergessen worden? Liegt es möglicherweise daran, dass erst heute die Ergebnisse des Labors vorliegen werden? Und was erwartet meine Mutter in einem anderen Krankenhaus? Kaum hat die Woche begonnen, stellen sich neue Fragen, obwohl noch gar nicht alle alten Fragen beantwortet sind. Wohin führt der Weg und was können wir am Ende des Weges erwarten? Ob das irgendjemand weiß?

Tatsächlich bekommt mein Vater den Anruf von einer Ärztin, dass meine Mutter heute verlegt wird. Unverzüglich fährt er zu ihr, um ihr zu erklären, dass sie sich keine Sorgen machen muss und um zu erfahren, wie die Ergebnisse der Probeentnahme sind. Von den Ergebnissen erfährt er nichts. Nur dass meine Mutter eine Lungenentzündung hat, die aber schon abklingt. Interessant, wie früh man informiert wird. Die Lungenentzündung könnte erklären, warum meine Mutter in den letzten Tag so schlapp auf mich wirkte.

Gegen Mittag fühle ich mich erkältet. Meine Nase läuft, ich muss niesen und habe Husten. Vielleicht ist es eine Kombination aus Erkältung und Heuschnupfen. Vielleicht habe ich mir im Krankenhaus irgendwas eingefangen, vielleicht aber auch nicht. So bin ich jedenfalls eine Gefahr für meine Mutter und würde auch nicht zu ihr fahren, doch da sie heute verlegt wurde und mein Vater die Anfahrt nicht kennt und kompliziert findet, muss ich zumindest mit ihm hinfahren, damit er den Weg kennenlernt. Ich sage ihm, dass wir aber getrennt fahren, er mir also folgen wird, was er nicht gut findet. Ich erkläre ihm, dass ich in meinem Zustand nur kurz zu meiner Mutter kann. Er schlägt vor, dass ich dann so lange spazieren gehe, bis er seinen Besuch beendet hat. Finde ich nicht gut, weil ich mit Triefnase nicht gerne draußen umherwandern möchte und ich außerdem alle halbe Stunde irgendwelche Mittelchen nehmen muss. Er ist nicht begeistert, was ich verstehen, aber nicht wirklich ändern, kann.

Am Nachmittag fahren wir zu meiner Mutter. Meinem Vater gefällt das irgendwie nicht. Zu weit die Anreise, zu kompliziert die Wege zum Zimmer meiner Mutter. Und als die Sprechanlage dort nicht richtig funktioniert, hat er endgültig genug. Er meckert rum und hat kein Verständnis für diese Zustände. Ich dachte immer, dass mein Gemecker von meiner Mutter geerbt ist, doch jetzt denke ich, dass ein Teil meiner Meckereien ihren Ursprung bei meinem Vater haben könnte. In dieser besonderen Situation erkenne ich immer wieder neue Gemeinsamkeiten mit meinen Eltern. Schon erstaunlich.

Meine Mutter liegt alleine auf einem Zimmer. Sie scheint zu schlafen. Doch als mein Vater sie anspricht, öffnet sie die Augen. Ich kann nur aus sicherer Entfernung zu ihr sprechen. Ich weiß nicht, ob sie mich wahrnimmt. Mein Vater erklärt ihr, dass ich erkältet bin und deshalb Abstand halten muss. Wenige Augenblicke später schläft meine Mutter ein.
Wir reden mit einer Schwester und dem Stationsarzt. Dieser sagt, dass es zwei bis drei Tage dauern wird, bis er etwas zu meiner Mutter sagen kann. Mit ihr werden Übungen gemacht und das oberste Ziel ist es, sie von der Beatmungsmaschine zu entwöhnen. Man nennt das wohl Weaning und das wird nicht in allen Kliniken gemacht. Das deutsche Wort für Weaning ist Beatmungsentwöhnung. Vermutlich ist das Wort zu lang, weshalb es durch Weaning ersetzt wurde. Für mich machen solche Namensgebungen wenig Sinn.
Da meine Mutter fest zu schlafen scheint, beschließen wir, dass wir gehen. Mein Vater fragt die Schwester, ob die Besuchszeiten tatsächlich täglich nur von 15.00 Uhr bis 18.00 Uhr sind. Sind sie. Dafür hat er wenig Verständnis. Lässt sich aber nicht ändern. Auf der einen Seite kann ich sehr gut verstehen, dass ihm das zu wenig ist, auf der anderen Seite denke ich, dass es ihm die Möglichkeit geben wird, endlich etwas durchzuatmen. Schließlich braucht auch er mal eine Auszeit. Und besser sie wird von außen aufgezwungen als wenn sich sein Körper diese Auszeit irgendwann nimmt. Ich denke nämlich, dass meine Erkältung auch mit dem Stress zu tun haben könnte. Vielleicht hat sich mein Körper diese Auszeit auch genommen, damit ich auch mal entspanne. Oder weil mein Körper gespürt hat, dass meine Mutter im Moment stabil ist und es deshalb okay ist, wenn ich nicht so oft zu ihr fahre. Ich denke mir die verrücktesten Sachen aus, um eine Erklärung für eine gewöhnliche Erklärung zu finden. Eine Theorie ist ja, dass ich mich im Krankenhaus angesteckt habe. Letztlich ist es wohl egal, denn nun geht es für mich darum, möglichst bald wieder fit zu werden und vor allem darum, weder meinen Vater noch meine Mutter anzustecken. Denn das wäre eine echte Katastrophe.

Im Vergleich zum Krankenhaus in Lünen wirkt dieses Krankenhaus kälter. Dafür liegt meine Mutter nun in einem Bett, welches elektronisch verstellbar ist. Ich habe nie verstanden, wieso es so etwas nicht in Lünen gibt. Sparmaßnahmen? Der neue Aufenthaltsort meiner Mutter wirkt jedenfalls kälter und steriler auf mich. Ob das nur ein Eindruck ist und welche Auswirkungen das hat, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Für einen wirklichen Eindruck ist es noch zu früh. Wichtig ist nur, dass meiner Mutter hier geholfen wird.

Meinem Vater, der weiterhin wenig begeistert ist, muss ich nun sagen, dass er sich besser ein wenig von mir fernhält in den nächsten Tagen, weil es einfach zu gefährlich ist und ein Infekt nichts ist, was er nun gebrauchen kann. Er sieht es ein, ist aber auch irgendwie enttäuscht, bedeutet es doch, dass er nun plötzlich viel mehr Zeit hat und diese zunächst alleine verbringen muss. Das kann ich nachvollziehen, aber es ist einfach erforderlich, dass wir so handeln. Schließlich kann meine Mutter ernste Probleme mit Viren und Bakterien, die wir ihr mitbringen, bekommen. Und wir sollten die letzten sein, die sie in Gefahr bringen.

Tag 33
Trotz oder gerade wegen meiner Erkältung, schlafe ich bis kurz vor acht. In diesem Zustand, der allerdings besser als erwartet ist, kann ich meine Mutter nicht besuchen. Meinen Vater auch nicht. Zu gefährlich bin ich für meine Eltern. Ich hoffe, dass ich ein bis zwei Tage Pause machen kann, ohne dass ich es am Ende bereuen muss. Stressfreie Tage ohne böse Überraschungen würden dabei sehr helfen.

Als ich meinen Vater anrufe, um ihm zu sagen, dass ich heute ausfalle, ist er wenig begeistert. Er sagt, die Erkältung kommt von meiner Klimaanlage im Auto und ich soll zum Arzt gehen, damit er mir richtig was aufschreibt. Ich erkläre ihm, dass der Arzt nicht wirklich was tun kann, außer ein Antibiotikum zu verschreiben. Ich will kein Antibiotikum. Er schlägt vor, dass ich zur Apotheke gehe, um mir Sinupret zu holen. Ich werde nachher den Heilpraktiker fragen, was er mir rät. Bin ja sowieso da.

Mein Vater ruft mich an, nachdem er bei meiner Mutter war. Er klingt traurig und sagt, dass meine Mutter während der dreistündigen Besuchszeit fast nur geschlafen hat. Nach einer Stunde hat sie einmal kurz die Augen geöffnet, ihr Blick war aber total trüb, so wie vor einigen Wochen. Eine Stunde später war sie nochmal kurz wach. Der Blick nicht ganz so trüb, aber sie hat nicht reagiert. Es scheint als hätte die Verlegung meine Mutter um viele Tage zurückgeworfen.
Am Morgen wurde eine Bronchoskopie gemacht und etwas Flüssigkeit abgesaugt. Die Lungenentzündung soll fast weg sein. Ich stelle mir vor, wie meine Mutter den ganzen Tag vollkommen alleine und unbeachtet in ihrem Zimmer liegt. Als hätten wir sie abgeschoben. Und dann kann ich sie derzeit nicht einmal besuchen. Und so zweifle ich nach nur einem Tag sehr daran, dass die Verlegung irgendeinen Fortschritt bringen wird. Als mein Vater auch noch sagt, dass die Maßnahmen, von denen ich glaubte, dass sie längst stattfinden, Massagen und Bewegungstraining, bisher nur beantragt wurden, bin ich enttäuscht. Das klingt nicht so als würde sich da um meine Mutter gekümmert. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass meine Mutter ein Fall, eine Sache, aber kein Mensch ist. Das würde zu dem kalten Eindruck passen, den mir das Krankenhaus gestern vermittelt hat. Und so ist die Hoffnung, dass es nun weiter aufwärts mit meiner Mutter geht, fürs erste gestorben. Ratlos bleiben mein Vater und ich zurück und wissen nicht, was wir tun können, um ihr zu helfen. Wir scheinen in ein neues Loch zu fallen, welches vom Krankenhauspersonal extra für uns ausgehoben wurde. Und es stellt sich, wie tief wir fallen müssen bis wir unsanft aufprallen. Oder gibt es noch einen Rettungsfallschirm für uns? Und wenn ja, wann wird er geöffnet?

Tag 34
Gedanklich bin ich oft bei meiner Mutter. Sie tut mir unendlich leid. Ich sehe immer ihr Gesicht vor mir, so wie sie in den letzten Tagen war. So vertraut und doch so fremd. Hilflos und verloren liegt sie in ihrem Einzelzimmer. Ob sie sich verlassen fühlt? Abgeschoben? Wie unangenehm muss es für sie sein, dass um sie herum nun ständig Stille herrscht. In Lünen reagierte sie auf unerwartete Geräusche, öffnete die Augen, verzog das Gesicht. Aufmerksam schien sie zu sein. Und nun? Zwei Tage im Krankenhaus in Dortmund-Brackel und sie liegt nur noch da, drückt meinem Vater nicht die Hand, verzichtet auf all die Reaktionen, über die wir uns gefreut, die uns Hoffnung gegeben, haben. War der Umzug in ein anderes Krankenhaus ein Fehler, den wir uns später vorwerfen werden?

Dadurch, dass ich wegen meiner Erkältung wohl etwas länger ausfalle, fühle ich mich unwohl. Auf der einen Seite tut es mir sicher gut, dass ich etwas Pause habe. Auf der anderen Seite habe ich Angst, dass meine Mutter denkt, ich würde sie im Stich lassen. Wenn ich wenigstens das Gefühl hätte, dass dort alles für sie getan wird, dass man sich mit ihr beschäftigt, sie nicht einfach nur ein Vorgang ist, dann wäre es sicher erträglicher. Doch leider habe ich bei dem Knappschaftskrankenhaus eben kein gutes Gefühl. Vielmehr kommt es mir wie ein kalter Abschiebebahnhof vor. Und so wird die Zeit, die ich zur Erholung brauche, und die ich mir vielleicht auch gewünscht habe, eine Zeit der Vorwürfe, Fragen und Resignation. War es ein Fehler? Lassen wir durch diesen Umzug die letzte Chance auf die Wiederherstellung meiner Mutter verstreichen? Oder gab es vielleicht schon vorher gar keine Hoffnung mehr und niemand wollte uns das sagen? Wie kalt und herzlos muss man sein, eine Patientin dermaßen isoliert abzulegen? Oder muss man so herzlos sein, um es ertragen zu können? Ist das moderne Krankenhaus nur ein Unternehmen mit dem man möglichst viel Geld verdienen muss und wo Patienten eine untergeordnete Rolle spielen? Mir jedenfalls kommt es gerade so vor.

Später besucht mein Vater meine Mutter. Sie wacht ebenso wie gestern nur zweimal auf. Beim ersten Mal sind ihre Augen, so wie er es sagt, trüb. Als sie das zweite Mal aufwacht, sind die Augen klarer. Doch sie schläft jedes Mal nach kurzer Zeit wieder ein. Der Stationsarzt erklärt ihm, dass sie von der Lungenentzündung so geschwächt ist. Nun gibt es also eine Ursache für den seit Tagen wenig erbaulichen Zustand. Die Lungenentzündung. Für meinen Vater ist es, obwohl es die Sache nicht besser macht, gut zu wissen, wieso es meiner Mutter so schlecht geht. Denn da die Lungenentzündung, laut Aussage vom Arzt, weiter zurück geht, besteht wieder Hoffnung, dass es danach bergauf geht. Das wäre schön.

Tag 35
Da es äußerst wichtig ist, das meine Mutter von weiteren Infekten verschont bleibt, kann ich auch weiter nicht zu ihr. Meine Erkältung ist noch nicht überstanden. Ich bin gefährlich und frage mich, obwohl es nichts bringt oder gar ändert, ob ich vielleicht meine Mutter angesteckt habe und sie zu ihrer Lungenentzündung auch noch eine Erkältung bekommt. Das wäre fatal. So kann ich nur hoffen, dass das nicht der Fall ist.
Wichtig wäre, dass ich am Sonntag wieder zu ihr könnte, denn am Sonntag kann mein Vater nicht, weil er sich auf seine Magen- und Darmspiegelung, die am Montag stattfindet, vorbereiten muss. Ich denke nicht, dass ihn das in die Lage versetzt am Nachmittag zu meiner Mutter zu fahren. Und ich hoffe, dass er nicht auf die dumme Idee kommt, auf seine Magenspiegelung zu verzichten.

Wenn mein Vater mich zu einer Uhrzeit anruft, zu der er eigentlich bei meiner Mutter sein sollte, dann bekomme ich sofort Panik und Herzklopfen. Denn Anrufe außerhalb der vereinbarten Zeiten lassen immer Schlimmes befürchten. Und so bin ich natürlich äußerst besorgt und angespannt als mein Vater mich jetzt, wo er bei meiner Mutter sein sollte, anruft. Meine Mutter liegt nun in einem anderen Zimmer, teilt er mir mit. Außerdem ist sie gerade zum CT und es wird mindestens eine halbe Stunde dauern bis sie zurück ist.
Wir rätseln, warum eine erneute CT-Untersuchung notwendig geworden ist. Haben die keinen Bericht aus Lünen bekommen? Möchten sie schauen, ob es Unterschiede zur letzten Untersuchung gibt? Oder geht es einfach nur darum, dass eine CT-Untersuchung dem Krankenhaus Geld einbringt? Warum auch immer, ich entscheide mich zunächst für die letzte Variante. Schließlich sind Krankenhäuser ja Wirtschaftsunternehmen und ein Wirtschaftsunternehmen muss Gewinn abwerfen, sonst ist es unnütz. Ich kann nur hoffen, dass ich mich irre.
Natürlich macht mir jede weitere Untersuchung Angst. Schließlich kann ja irgendetwas dabei herauskommen, was uns nicht gefällt. Sie könnten irgendwas feststellen, dass uns der Hoffnung beraubt, dass doch noch alles irgendwie gut ausgeht. Und da ich als Optimist bekannt bin, warte ich voller Sorge darauf, dass mein Vater mich nach dem Besuch im Krankenhaus anruft, um mir zu sagen, dass es keine schlechten Nachrichten gibt. Sind ja nur noch etwa drei Stunden bis dahin.

Je näher der Anruf rückt, desto nervöser und angespannter werde ich. Natürlich schlägt mir diese Unruhe auf den Darm und ich muss zur Toilette. Da ich fürchte, dass der Anruf meines Vaters genau dann kommt, wenn ich dort bin, nehme ich das Telefon mit. Und natürlich kommt der Anruf genau zu der Zeit. Normalerweise würde ich nie ans Telefon gehen, geschweige denn das Telefon mitnehmen, wenn ich derart beschäftigt bin, doch derzeit ist nichts normal, und so gehe ich ans Telefon.
Meine Mutter liegt nun auf einem Zweibettzimmer. Mein Vater findet, dass sie heute klarer ist und ist sicher, dass sie ihn erkannt und auch verstanden hat, dass ich sie nicht besuchen kann, weil ich erkältet bin. Das klingt besser als es an den letzten beiden Tagen klang. Da es sogar einen Fernseher auf dem Zimmer gibt, hat mein Vater die Pflegerin gebeten, dass dieser angeschaltet wird, wenn „Alles was zahlt“ und „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ laufen. Denn das hat meine Mutter vor dem Zwischenfall immer gesehen. Die Pflegerin hat gesagt, dass sie den Wunsch erfüllen wird. Hoffentlich tut sie das. Gegen Ende des Gesprächs fragt mein Vater, was ich gerade mache. Weil ich ihm schlecht sagen kann, dass ich auf der Toilette sitze, sage ich ihm, dass ich fernsehe. Wir reden noch kurz über die Abendgestaltung, dann legt er auf und ich bin aus dieser unfassbar peinlichen Situation befreit.

Die Erkältung bringt mich irgendwie in die Situation, dass ich, dadurch, dass ich meine Mutter nicht besuchen kann, irgendwie von der Realität befreit bin. Teilweise vergesse, oder verdränge, ich, wie schlecht es um meine Mutter steht und lebe einfach so vor mich hin. Gedankenlos und isoliert in meiner kleinen, geschützten Welt. Flucht vor der Realität kann man das wohl nennen. Ich bin ein guter Flüchtling. Doch früher oder später packt mich das schlechte Gewissen, dann denke ich, dass ich ja nicht einfach so tun kann als wäre alles okay. Meine Mutter befindet sich seit Wochen auf der Intensivstation und niemand weiß, wie lange das noch sein wird und was danach sein wird erst recht nicht. Verdrängen kann also keine Lösung sein. Aber für mich macht es das Leben scheinbar erträglicher.

Tag 36
Am Vormittag telefoniere ich mit meinem Vater. Er ist, was das Krankenhaus angeht, heute viel positiver eingestellt. Er findet es dort hygienischer als in Lünen. Und er findet es gut, dass dort nur zwei Patienten auf dem Zimmer liegen und nicht vier, wie in Lünen. Außerdem ist die Intensivstation nicht wie in Lünen direkt unter dem Dach. Somit ist es nicht so heiß dort und die Luft ist auch viel besser. Der Gestank in Lünen war auch an manchen Tagen kaum zu ertragen und ich hatte ihn selbst als ich zu Hause war noch in der Nase. Selbst jetzt habe ich manchmal noch das Gefühl, dass der Geruch mich umgibt. Das Krankenhaus in Brackel wirkt steriler. Hoffentlich ist es das auch.
Meine Erkältung ist für mich ganz erträglich, aber noch zu gefährlich für meine Mutter. Und so werde ich auch heute nicht zu ihr können.

Als mein Vater meine Mutter besucht, liegt sie wieder in einem anderen Zimmer. Angeblich das extra Beatmungszimmer bzw. das Zimmer, wo die Entwöhnung von der Beatmungsmaschine optimal durchgeführt werden kann. Es ist erneut ein Zweibettzimmer. Die ersten zwei Stunden der Besuchszeit verschläft meine Mutter. Ob sie grundsätzlich so viel schläft oder nur zu dieser Zeit, weiß ich nicht. Gegen 17.00 Uhr wird meine Mutter anders gelegt und ist danach für einige Minuten wach. Mein Vater redet etwas zu ihr, dann schläft sie wieder ein.
Eine Pflegerin sagt meinem Vater, dass die Nieren zurzeit fast vollständig alleine arbeiten. Ob sie auch die Giftstoffe des Körpers filtern, sagt sie nicht. Lediglich, dass es nur noch gelegentlich eine leichte Dialyse zur Unterstützung gibt. Hoffentlich hat sie Recht und das Problem mit den Nieren verschwindet tatsächlich.

Ob ich morgen zu meiner Mutter kann? Ich glaube nicht. Mir geht es zwar besser, aber noch huste ich und produziere nebenbei ekelhaften Schleim. Das ist zu gefährlich für sie.

Tag 37
Direkt nach dem Aufstehen ist klar, dass ich auch heute nicht zu meiner Mutter kann. Eigentlich sollte mich das nicht überraschen, denn eine Erkältung dauert nun einmal, wenn sie eine richtige Erkältung ist, mehrere Tage. Und jetzt ist es erst der siebte Tag. Und auch wenn ich mich am Nachmittag besser fühlen sollte, bleibe ich eine Gefahr für meine Mutter.
Meinem Vater muss ich natürlich auch weiter absagen. Das tut mir natürlich leid, denn er ist ja auch den ganzen Tag alleine und ihm täte es sicher gut, wenn er etwas Gesellschaft hätte. Irgendwie fühle ich mich mies. Aber ich muss es akzeptieren, hier geht es ausschließlich um meine Mutter und ihre Genesung.
Die Entwicklung bedeutet aber auch, dass meine Mutter morgen keinen Besuch bekommen wird. Mein Vater muss sich auf seine Magen- und Darmspiegelung vorbereiten und ich werde sicher kaum innerhalb von 24 Stunden Virenfrei und steril sein. Das ist doch einfach Scheiße. Mein Timing ist alles andere als brauchbar.

Bei einem Gespräch mit meinem Vater erfahre ich, dass er heute den Kegelclub aufgelöst hat. Vermutlich vollkommen sinnvoll und logisch, für mich aber zunächst ein Schock. Vermutlich macht das nochmal deutlich, dass meine Mutter vielleicht nie wieder dazu in der Lage sein wird zu kegeln. Kein schöner Gedanke.

Wie immer ruft mein Vater mich nach dem Besuch bei meiner Mutter an. Er klingt besser als in den letzten Tagen. Meine Mutter war wohl mindestens zwei Stunden wach, hat seine Hand gedrückt und die Schultern bewegt. Es scheint als wären wir nun ungefähr an dem Punkt an dem wir vor der Lungenentzündung waren. Er sagt, dass meine Mutter fast permanent selbständig atmet. Es klingt fast so als würde das Beatmungsgerät nicht mehr lange benötigt werden. Das macht mir aber sogleich Angst, denn sobald sie alleine atmet, soll sie ja eigentlich zur Reha. Und nach der Reha? Davor habe ich Angst. Überhaupt scheine ich vor allem Angst zu haben.
Mein Vater sagt, dass wohl alle Werte besser werden, besonders die Nierenwerte. Das wäre natürlich super, wenn dem so ist. Dann stehen wir vor der letzten großen, hoffentlich nicht zu großen, Aufgabe. Meine Mutter so fit zu kriegen, dass sie ein selbständiges Leben führen kann. Das wäre ein Traum, wenn das gelingen würde.

Tag 38
Heute ist tatsächlich der erste Tag an dem meine Mutter ganz alleine bleiben wird. Mein Vater muss die Vorbereitungen für die Magen- und Darmspiegelung treffen. Und meine Erkältung lässt nicht zu, dass ich meine Mutter besuche. Ich frage mich, ob sie uns das übel nimmt, ob dieser Tag sie in ihrer Genesung zurückwirft. Aber würde es sie nicht noch viel weiter zurückwerfen, wenn ich sie mit meinen Erkältungsviren belaste?

Ansonsten stelle ich fest, dass ich in den letzten Tagen teilweise so gelebt habe, als wäre alles irgendwie in Ordnung. Dabei ist ja nichts in Ordnung. Meine Mutter liegt seit nunmehr 38 Tagen auf der Intensivstation. Zukunftsprognosen unmöglich. Was sein wird, ungewiss. Und ich lebe weiter, besuche meine Mutter nicht, meinen Vater auch nicht und lasse das Leben einfach laufen. Manchmal denke ich, dass ich Tatsachen verdränge und einfach ausblende, nur um es für mich leichter zu machen. Aber ist das nicht normal? Eine normale Art des Vorgehens, um selbst nicht verrückt zu werden?

Erschreckend finde ich, wie die Zeit vergeht. Und je älter ich werde, desto schneller scheint sie zu vergehen. Es ist kaum zu glauben, dass mittlerweile 38 Tage vergangen sind. Über fünf Wochen Lebenszeit einfach so verstrichen sind. 38 Tage befindet sich meine Mutter in diesem unwirklichen Zustand und wenn ich mir die Zahl nicht bewusst mache, dann kommt es mir, als ob die Zeit viel kürzer ist. Zeit ist auch so eine verdammte Sache, die man nicht kontrollieren kann. Ich hasse es, wenn ich etwas nicht kontrollieren kann. Zu viele Dinge im Leben lassen sich nicht kontrollieren.

Tag 39
Heute muss ich meinen Vater zur Magen- und Darmspiegelung bringen. Interessanterweise geht es mir so schlecht als müsste ich zu dieser Untersuchung. Sobald irgendwas meinen normalen Tagesablauf stört, geht es mir schlecht und ein unerklärlicher Druck lastet auf mir. Jede Abweichung macht mir Angst und eine belastende Gedankenspirale setzt sich in Gang. Dieser Wahnsinn begleitet mich fast mein Leben lang.

In den letzten Tagen meiner Erkältung habe ich mich weit in meine eigene Welt, in meine Traumwelt, zurückgezogen. Ich frage mich, wie viel meine Welt mit der realen Welt zu tu hat. Ich sitze vor bzw. über meinem Dampfbad, atme Minzöl ein, und spüre, wie dunkle Gedanken über mich kommen, von mir Besitz ergreifen wollen. Wie ein Schleier decken sie mich zu. Sie kommen scheinbar aus dem Nichts, doch vermutlich kommen sie direkt aus mir. Ich bin der Vater dieser Gedanken, doch unter Kontrolle habe ich sie nicht. Es scheint vielmehr so als hätten sie mich unter Kontrolle. Ich bin überfordert. Zweifellos. Es ist als hätte ich nun die Verantwortung für meinen Vater. Jetzt, wo ich das Gefühl habe, meine Mutter zurückgelassen zu haben, soll ich plötzlich Verantwortung für meinen Vater übernehmen. Das ist alles zu viel für mich. In meinem Kopf herrscht Chaos. Ich will raus aus meinem Kopf.

Kaum zwei Stunden später ist der ganze Spuk vorbei. Meinem Vater geht es gut und wir können zum normalen, strukturierten Leben zurückkehren. Und mein Vater will nun aufhören weiter abzunehmen, was ich gut finde, weil er in der Zeit, seit wir uns im Ausnahmezustand befinden, doch sichtbar abgenommen hat. Hoffe, er kann seinen Plan umsetzen.

Meiner Mutter geht es ähnlich wie am Vortag. Den Ärzten bereitet im Moment scheinbar die größte Sorge, dass meine Mutter ihren Kopf nicht nach links drehen kann, dass sie ihre linke Körperhälfte scheinbar nicht bewegen kann. Dabei war der linke Arm vor einiger Zeit der Arm, den sie am meisten bewegt hat.

Da es mir gesundheitlich besser geht, werde ich wohl morgen, zumindest kurz, zu meiner Mutter können. Und dieses Bewusstsein löst eine Angst in mir aus. Ich habe Angst wieder ins Krankenhaus zu fahren. Denn dort werde ich wieder mit dem konfrontiert, was ich während meiner Erkältung doch ein wenig von mir weggeschoben habe. Ich habe mir eine gewisse Distanz geschaffen. Damit konnte ich besser leben. Und während dieser Distanz war es wichtig, dass meine Mutter noch lebt, dass ich eine Mutter habe. Ihren Zustand habe ich nie vergessen, ihn aber vermutlich als veränderbar gesehen. Als Zustand mit dem ich nicht unmittelbar zu tun haben muss. Als Gegebenheit am Rande. Doch jetzt, da ich weiß, dass dieses Verschließen vor den Tatsachen morgen vorbei sein wird, geht es mir nicht mehr so gut. Es ist eine Art Panik, die ich ganz deutlich spüre. Und es ist eine Hoffnungslosigkeit, weiß ich doch, dass es in dieser Woche nicht wirklich aufwärts ging. Wie gerne würde ich vor dieser Realität davonlaufen? Doch leider läuft niemand der Realität davon. Ab Morgen ist wieder real, was ich während meiner Erkältung in den Hintergrund schieben konnte. Ab Morgen wird es wieder ernst.

Tag 40
Eine Woche nach meinem letzten Besuch, besuche ich meine Mutter wieder. Sie wurde gerade umgebettet, hat den Kopf, wie eigentlich immer, nach rechts geneigt und ist sehr unruhig. Ihr rechter Arm und ihre rechte Hand bewegen sich wild, aber auch irgendwie kreisend, umher. Sie scheint uns nicht wahrzunehmen. Ehrlich gesagt, scheint sie gar nichts mitzubekommen. Sie schlägt mit ihrer linken Hand gegen den Beatmungsschlauch an ihrem Hals. Ihr Gesicht zuckt, sie zieht Grimassen, streckt die Zunge raus. Eine wilde Abfolge unkontrollierter Bewegungen. Und das obwohl sie seit Tagen Morphin gegen die Schmerzen und zur Beruhigung bekommt. Ich frage eine Pflegerin, was für Schmerzen meine Mutter hat. Sie sagt, dass meine Mutter wundgelegen ist. Morphin ist aber ein super Medikament. Morphin bedeutet für mich nichts Gutes, was ich aber nicht erwähne.

Weil es nicht gut sein kann, dass meine Mutter ständig gegen den Schlauch in ihrem Hals schlägt, gehe ich zu einer Schwester, damit diese etwas unternimmt. Wie erwartet, bindet sie meiner Mutter die Hand fest. Meine Mutter indes macht ungehindert weiter mit den Bewegungen, nur dass sie nun nicht mehr gegen den Schlauch schlagen kann. Mein Vater versucht alles, um sie zu beruhigen. Aber nichts davon hilft. Wir rufen erneut eine Pflegerin. Mein Vater sagt, dass er sicher ist, dass meine Mutter nur anders gelegt werden muss. So dass sie aus dem Fenster sehen kann. Die Pflegerin sagt, dass sie nicht glaubt, dass das etwas nützt, ruft aber nach einer zweiten Pflegerin, um meine Mutter anders zu legen.
Kaum liegt meine Mutter anders, wird sie tatsächlich ruhiger. Mein Vater fühlt sich bestätigt, ich beruhige mich ein wenig. Meine Mutter schläft ein. Dann muss ich Husten, meine Mutter wird wach und ist genauso aktiv wie zuvor. Der Effekt des anderen Liegens ist vorbei. Ich mache mir Sorgen um meinen Vater, der verzweifelt alles versucht meine Mutter dazu zu bringen mit den unkontrollierten Bewegungen aufzuhören.

Ich stelle mich vor meine Mutter, rede beruhigend auf sie ein. Ich habe keine Ahnung, ob sie mich sieht oder nur in meine Richtung starrt. Für einen Moment scheint sie sich zu beruhigen. Mein Vater glaubt, dass meine Mutter mich ansieht. Ich bewege mich etwas zur Seite. Der Blick meiner Mutter folgt mir nicht. Nein, heute gibt es nicht eine erkennbare Reaktion, die uns Hoffnung macht, dass sich irgendwann was ändert. Ich betrachte meine Mutter, suche nach Hinweisen, nach Reaktionen, dass sie doch auf irgendwas reagiert. Doch da ist nichts, gar nichts.

Meine Mutter hat unfassbar trockene, teilweise rissige, Hände und Füße. In Lünen wurde sie, was das angeht, definitiv besser behandelt. Ich sage meinem Vater, dass er nun täglich Hände und Füße meiner Mutter eincremen muss.
Eine Pflegerin sagt, dass ein Medikament abgesetzt wurde und der Arzt, den sie gerade angerufen hat, meint, dass meine Mutter heute deshalb so nervös ist. Ich frage nach dem Namen des Medikaments und was es bewirkt. Paracefan. Zur Beruhigung. Wenige Minuten später verabreicht die Pflegerin meiner Mutter das Medikament als Infusion. Und so entsteht der Eindruck, dass es meiner Mutter nur scheinbar gut geht, wenn sie mit Medikamenten ruhiggestellt ist. Ist sie das nicht, wird sie allerdings nicht wirklich wacher, also im Sinne von positiver Entwicklung, sondern einfach nur nervöser und unkontrollierter. Nein, derart deprimierend hatte ich meinen ersten Besuch nach einer Woche Pause nicht vorgestellt. Das ist selbst für einen Pessimisten wie mich zu viel.

Meine vielen Fragen haben die Pflegerin wohl dazu gebracht einem Arzt zu sagen, dass er mal mit uns, mit mir, reden soll. Und so teilt sie mir mit, dass gleich ein Arzt zu uns kommt und mir sagt, welche Medikamente meine Mutter wofür oder wogegen bekommt. Ich habe das Gefühl, dass meine Fragen ihr nicht so gefallen haben.

Weil ich Hunger habe, nicht weiß, wann der Arzt kommt und wegen meiner nicht völlig abgeklungenen Erkältung nicht so lange bleiben will, verlasse ich um 16.30 Uhr ziemlich hoffnungslos und desillusioniert das Krankenhaus. Meine Mutter bewegt indes weiter wild ihre Arme und mein Vater versucht weiter sie zu beruhigen. Positiv ist mit heute nichts aufgefallen. Der vierzigste Tag wird mir als Tag in Erinnerung bleiben, an dem ich die Zukunft meiner Mutter plötzlich klar vor mir sah. Als Pflegefall. Ohne Hoffnung auf Wiederherstellung. Leider kann man vor der Realität nicht dauerhaft die Augen verschließen.

Kaum zu Hause angekommen, suche ich nach Informationen zu Paracefan. Ein Mittel gegen Hyperaktivität. Vorsicht ist unter andrem geboten bei Patienten mit Niereninsuffizienz und koronarer Herzkrankheit. Die Nebenwirkungen sind vielfältig, z.B. kurzzeitiger Blutdruckanstieg. Meine Mutter wird mit Mitteln vollgestopft, die so viele Nebenwirkungen haben, dass man eigentlich nicht wissen kann, welche Probleme von ihrem Körper und welche von den Medikamenten kommen. Die Medizin als Fluch und Segen zugleich. Doch wo sind die Grenzen? Und was macht hier noch Sinn?

Mein Vater spricht mit einem Arzt. Dass meine Mutter so aktiv ist, liege sicher am Absetzen des Paracefan. Interessanterweise bekam meine Mutter kein Paracefan als sie noch in Lünen lag. Und trotzdem war sie nie in solch einem Zustand. Die Ärzte wollen sich nochmal beraten, was sie meiner Mutter stattdessen geben können.

Wenn der Zwischenfall sie nicht schafft, dann vielleicht die Medikamente. Es scheint als würden die Ärzte einfach mal was probieren, ohne wirklich zu wissen, was sie erwarten und erreichen wollen. Aber dafür hat jeder Patient einen Fernseher. Dumm nur, dass die meisten Patienten davon nichts mitbekommen, weil sie in einer Zwischenwelt geparkt sind.
Mir fallen die Worte des Stationsarztes aus Lünen ein, der sagte, dass man einen Hirntod bei meiner Mutter definitiv ausschließen kann. Diese Worte wirken heute wie ein Schlag ins Gesicht und schweben wie ein Damoklesschwert über meiner Mutter. Wo ist meine Mutter wohl gerade? Noch da? Kämpft sie, um wieder zum Vorschein zu kommen? Oder ist der Mensch, der immer meine Mutter war, gar nicht mehr da? Ist außer ihrem Körper vielleicht nichts mehr von ihr da?

Es ist erschreckend, wie das Leben von einer Sekunde auf die andere eine solche Wendung nehmen kann. „Oh“ war das Letzte, was meine Mutter sagte, bevor sie einfach umfiel. Hat sie etwas gemerkt, bevor sie umfiel? Was hat sie gemerkt? Gab es Anzeichen, die sie vorher ignoriert hat? Und wieso soll es nun nicht mehr möglich sein, dass ich sie danach Frage? Was ist das für eine beschissene Welt? Und wie lange soll das alles noch so weitergehen?

Am Abend sehe ich noch oft meine Mutter, die jemand ganz anderes zu sein scheint, vor mir. Ich sehe ihre Grimassen, ihre wilden Bewegungen, ihre Augen, die irgendwohin starren, und frage mich, wie realistisch es ist, dass ich nochmal Kontakt zu meiner Mutter haben werde, dass wir tatsächlich miteinander kommunizieren.

Als ich später mit Agnes telefoniere, sagt sie, dass ich jedes Mal, wenn es einen Tag gibt, der wie der heutige ist, alles anzweifle und quasi aufgebe. Sie sagt, dass es durchaus sein kann, dass ich Recht habe und alles verloren ist. Aber solange das nicht gesichert ist, so lange es keiner ausspricht, so lange sollte ich nicht ständig alles hinschmeißen, aufgeben und nur schwarz sehen. Ja, da hat sie Recht, aber dennoch ist es nicht leicht nach einem solchen Schock, und ein Schock war es für mich heute definitiv, positiv oder zumindest nicht völlig deprimiert aus dem Krankenhaus zurückzukehren. Noch hat keiner gesagt, dass der Kampf endgültig verloren ist.

Tag 41
Wie weit muss man wohl in der Zeit zurückreisen, um zu verhindern, dass passiert, was passiert ist? Wie viele Tage vor dem Vorfall muss man ansetzen? Und wie könnte man es verhindern? Wie würden wir meine Mutter dazu kriegen, alle Vorsorgeuntersuchungen zu machen? Wie könnten wir ihr klar machen, dass gewisse Nahrungsmittel nicht gut für sie sind? Oder wäre dieser Vorfall auch dann nicht zu verhindern gewesen? Müßig darüber nachzudenken, denn soweit mir bekannt ist, gibt es Zeitreisen nur in Filmen oder anderen Spielen. In diesem Spiel, in dem wir die Spielfiguren sind, gibt es keine Zeitreisen. Zumindest jetzt noch nicht. Und so ist die verständliche, aber natürlich nicht zu beantwortende Frage, wie dieser Vorfall hätte verhindert werden könnte, nichts weiter als Ballast, der zusätzlich belastet. Denn die Frage, wie etwas hätte verhindert werden können, ist in gewisser Weise doch auch immer eine Schuldzuweisung. Denn wäre es zu verhindern, was natürlich nie auszuschließen ist, dann trägt auch irgendwer die Verantwortung. Und durch solche Gedanken gerät man schnell selbst ins Visier. Und so ist es vermutlich wenig verwunderlich, dass es Menschen gibt, die sich ihr Leben lang Vorwürfe machen, weil durch ihr Tun oder Unterlassen irgendwas passiert oder eben nicht passiert ist. Solche Gedanken nicht zu haben, wäre möglicherweise unmenschlich, doch was auch immer man denkt und Schlussfolgert, an der jetzigen Situation kann es nichts verändern. Es kann höchstens dafür gut sein, dass man sich in Zukunft vielleicht anders verhält. Doch ob damit solche Situationen der Vergangenheit angehören, darf bezweifelt werden. Denn das Leben, oder auch der Spieler, stellt immer neue Fallen. Schicksale, Unfälle und andere Grausamkeiten werden erst aufhören, wenn der Mensch aufhört zu existieren bzw. der Spieler das Spiel abschaltet.

Als wir meine Mutter am Nachmittag besuchen, liegt sie wieder so, dass ihr Kopf leicht nach rechts gedreht ist. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals leicht nach links gedreht war. Sie bewegt leicht ihre rechte Hand und ihr Gesicht. Aber sie wirkt auch ruhiger als gestern. Vorsichtig und mit gemischten Gefühlen nähere ich mich ihr. Mein Vater stellt sich an ihre rechte Seite und spricht sie an. Ich bleibe links. Heute ist es so als würde sie reagieren. Ihre Augen scheinen ihn zu fixieren, sie scheint ihn tatsächlich anzuschauen. Ich beobachte es sehr genau, da ich nach gestern sehr skeptisch bin. Mein Vater sagt, dass ich auch da bin und fordert mich auf, dass ich zu meiner Mutter auf die Seite komme, damit sie mich sehen kann. Zunächst starrt sie rechts an mir vorbei, wirkt nervös und bewegt ihren linken Arm. Dann wird sie ruhiger und scheint sich tatsächlich auf mich zu konzentrieren. Ich grinse sie an und sage, dass sie sich entspannen soll. Ebenso spontan, wie sie mich ansah, schaut sie nun wieder weg. Ihr Blick wandert kurz, wie ein Reflex, nach rechts oben und sie starrt scheinbar ins Nichts. Mein Vater stellt sich nun wieder zu ihr, spricht sie an und schon kehrt sie zurück und schaut ihn an.
Eine junge Pflegerin, die mir sofort sympathisch ist, betritt das Zimmer. Sie sagt, dass meine Mutter ganz deutlich auf uns reagiert. Obwohl es keinen Grund gibt, ihr nicht zu glauben, bleibt ein Teil von mir skeptisch. Vielleicht sagt sie das nur, damit wir uns besser fühlen. Aber weil die Pflegerin mir gut gefällt, grinse ich sie an. Attraktive und sympathische Pflegerinnen finde ich toll.

Während mein Vater mit meiner Mutter, bzw. zu meiner Mutter spricht, beobachte ich meine Mutter sehr genau. Sie ist definitiv anders als gestern. Das Paracefan mit all seinen Nebenwirkungen sorgt zumindest dafür, dass der Eindruck entsteht, dass meine Mutter auf einem guten Weg ist. Nur diese plötzlichen Ausfälle, die meine Mutter schlagartig wegschauen lassen und bei denen sie sichtbar unruhig wird, bereiten mir Sorgen. Dennoch ist unverkennbar, zumindest bilde ich mir als Laie und Sohn es so ein, dass meine Mutter ab und zu sehr konzentriert auf uns reagiert. Oder sind das Reflexe und mehr nicht? Folgen des Paracefan? Bedeutungslos? Nein, das will ich nicht glauben. Das darf nicht sein.
Die Pflegerin kommt zurück, um ein Gerät, welches ständig piept, was meine Mutter sehr wohl registriert und sie auch stresst, auszuschalten. Ganz angetan vom Anblick der jungen Pflegerin vergesse ich einen Moment die Schwere der Situation und beobachte wie ein kleiner Junge ganz konzentriert jede Bewegung der Pflegerin. Mein Vater sagt ich, dass es schön wäre, wenn sie später den Fernseher einschalten könnte, damit meine Mutter „Alles was zählt“ und „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ sehen kann. Die Pflegerin sagt, dass sie das macht und diese Serien auch immer guckt. Ich grinse sie an. Die denkt bestimmt, dass ich einen an der Waffel habe.

Abgesehen von den Momenten, in denen meine Mutter ziemlich nervös wird und schlagartig von uns ins Nichts schaut, macht ihr Zustand heute einen Eindruck, der uns hoffen lässt, dass sie doch irgendwann wieder mehr tun kann als das, was wir heute sehen. Es gibt jedenfalls wieder, hoffentlich berechtigte, Hoffnung. Doch die Geschehnisse von gestern zeigen, wie nah Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zusammen liegen.
Die junge Pflegerin sagt, dass meine Mutter gestern Morgen in einen Stuhl gesetzt wurde und das vielleicht ebenfalls damit zu tun haben könnte, dass sie gestern so nervös war. Wenn meine Mutter anders gelagert wird, dann ist sie für eine Weile immer total unruhig. Ob es daran liegt, dass jemand dies für sie tut und meine Mutter es hasst, solche Dinge nicht selber zu können, oder daran, dass sie mit veränderten Situationen derzeit nicht klarkommt, vermag ich nicht zu beurteilen.

Bevor ich gehe, zähle ich die Medikamente, die meine Mutter bekommt. Über zwanzig. Da muss man ja verrückt werden. Sorgen bereitet mir vor allem, dass sie alle sechs Stunden 5mg Morphin bekommt. Dabei sollte mir die hohe Anzahl an Medikamenten nicht weniger Sorgen bereiten. Der Blutdruck meiner Mutter geht nie über 120 zu irgendwas. Sicher eine Folge des Medikamentencocktails. Ich frage mich, wie der Zustand ihrer Nieren ist und ob diese Vielzahl an Medikamenten wirklich notwendig ist.

Tag 42
Als mein Vater mich am Abend besucht, erzählt er mir von seinem Besuch im Krankenhaus. Meine Mutter war heute wieder ziemlich unruhig und er ging zweimal zur Pflegerin, um sie darauf hinzuweisen, dass das so nicht geht. Als er das zweite Mal bei der Pflegerin war, beschloss diese, dass sie einfach das Morphin eher gibt. Normalerweise bekommt meine Mutter das ja alle sechs Stunden, was mir sowieso nicht gefällt. Kurze Zeit später ist meine Mutter dann eingeschlafen und mein Vater gegangen.

Nachdem er mir von seinem Besuch erzählt hat, bin ich natürlich wieder besorgter. Über zwanzig Medikamente machen meine Mutter vermutlich völlig fertig. Dazu dieses verdammte Morphin. Wie soll man so herausfinden, wie der Zustand meiner Mutter tatsächlich ist und wie eine Entwicklung erkennen? Dafür wurde in dieser Woche keine Dialyse durchgeführt, was mich schon etwas wundert, würde es doch bedeuten, dass die Nieren ganz alleine arbeiten und die Giftstoffe von über zwanzig Medikamenten filtern können. Wäre natürlich super, erscheint mir aber unwahrscheinlich. Aber vielleicht ist das auch der Pessimist in mir.

Meinem Vater geht es natürlich nicht gut. Er ist Gedankenverloren, klagt weiter darüber, dass er nicht durchschlafen kann und sieht natürlich freudlos aus. Ratlosigkeit ist auch sein ständiger Begleiter. Ich hoffe, dass ich ihn mit den Filmen heute etwas ablenken kann, fürchte aber, dass es maximal eine vorübergehende Ablenkung ist. Aber was kann ich für ihn tun, was ihn ein wenig aufbaut?
Als ich ihm später sage, dass er morgen nicht für mich kochen muss, weil ich einen Handwerker im Haus haben werde, ist er sichtlich enttäuscht. Für mich zu kochen und mit mir zu essen, scheint ihm Halt zu geben. Er braucht Aufgaben, um die abzulenken. Mir fällt nichts ein. Das ist alles so deprimierend, dass es kaum in Worte zu fassen ist.

Tag 43
Voller Zweifel startet der nächste Tag. Wie wird meine Mutter heute drauf sein? Was haben wir zu erwarten und welche Hoffnungen sind berechtigt und welche nicht? Weiß das überhaupt irgendwer?

Vor dem Besuch bei meiner Mutter ist mir plötzlich schlecht. Zunächst messe ich dem keine weitere Bedeutung bei, doch dann fühlt es sich an als würden wir heute eine schlechte Nachricht bekommen. Weil meine Mutter noch untersucht wird, müssen wir warten. Zwanzig Minuten etwa, so sagt man uns.
Als wir nach einer halben Stunde zurück sind, dauert die Untersuchung noch an. Erst eine weitere halbe Stunde später dürfen wir rein. Meiner Mutter wurden neue Zugänge gelegt. Sie wirkt etwas nervös, in etwa so wie am Mittwoch als ich zuletzt hier war.

Nach einer Weile kommt eine Pflegerin, fragt wer wir sind und sagt ohne Umschweife, dass sich der Zustand meiner Mutter nicht mehr ändern wird. Die Einwände meines Vaters, dass meine Mutter sehr wohl auf ihn reagiert, entkräftet sie damit, dass sie sagt, die Reaktionen meiner Mutter seien nicht adäquat. Als sie mitkriegt, dass wir diese Informationen bisher noch nicht hatten, weist sie darauf hin, dass sie gestern bei der Ärztebesprechung dabei war, uns aber nichts sagen darf, was wir noch nicht wüssten. Dennoch erzählt sie weiter, dass der Zustand sich nicht mehr viel verbessern wird. Mein Vater sagt ihr, dass der Arzt zuletzt nur von Verkalkungen im Gehirn gesprochen hat, von denen die Ärzte aber nicht wissen, woher die kommen. Die Pflegerin betont nochmal, dass sie weiß, dass wir uns da keine Hoffnungen machen sollen, da alle Reaktionen meiner Mutter nichts mit uns zu tun haben. Mein Vater kann seine Tränen nicht unterdrücken. Mehrmals wendet er sich ab. Ich stehe wie versteinert da und wirke vermutlich völlig gefasst. Aber natürlich bin auch ich geschockt. Die Pflegerin sagt, dass meine Mutter bis zu sechs Stunden ohne die Beatmung auskommt und bereits ein Antrag auf Verlegung gestellt wurde. Eine Klinik für Patienten mit Hirnschäden. Dort werden dann die endgültigen Zukunftsaussichten meiner Mutter festgelegt. Ich glaube, sie sagt, dass die Klinik in Hagen-Ambrock ist. Ich denke, es wäre besser, wenn die Pflegerin all diese Informationen für sich behalten hätte. Die Pflegerin ist ekelhaft.

Mein Vater sagt meine Mutter, dass die alle doch keine Ahnung haben und meine Mutter es schafft. Er fordert sie auf ihren Fuß zu bewegen. Sie bewegt ihn. Allerdings bewegt sie ihn auch, wenn er sich nicht dazu auffordert. Ich sage ihm das aber nicht. Er soll seine Hoffnung nicht verlieren. Nicht heute und nicht hier. Denn was bleibt, wenn er die Hoffnung verliert? Es ist doch alles so schon schlimm genug, da wäre der Verlust der Hoffnung zu diesem Zeitpunkt völlig falsch und womöglich fatal. Ich verlasse die Klinik, mein Vater bleibt noch dort. Die Pflegerin mögen wir beide nicht.

Als mein Vater mich später anruft, gibt er sich gewohnt entspannt. Doch entspannt kann er nicht sein. Wie sollte er auch? Stärke demonstrieren ist unnötig, aber da ich ähnlich bin, kann ich ihn verstehen. Und natürlich weiß ich, dass er mich mit seinem Verhalten stärken will. Ich soll mir nicht auch noch um ihn Sorgen machen.

Ich telefoniere mit Agnes. Auch sie ist natürlich frustriert. Seit Tagen baut sie mich auf, gibt mir Halt, ist für mich da. Ohne sie wäre vieles kaum zu ertragen. Agnes ist eine unglaublich tolle Frau. Ich weiß echt nicht, wie ich es ohne schaffen sollte.

Mein Vater ruft erneut an. Er sagt, dass er nun doch nicht den Abend auf dem Balkon verbringen wird. Er muss raus mit jemandem quatschen. Das kann ich gut verstehen. Ich ertrage die Einsamkeit auch nicht. Besonders nicht nach so einem Tag.

Später gehe ich mit Petra etwas trinken. Irgendwann reden wir natürlich über meine Mutter. Wir kommen auf das Morphin zu sprechen, welches meiner Mutter alle sechs Stunden injiziert wird. Und darauf, dass meine Mutter in Lünen eindeutig bessere Reaktionen auf die Situation gezeigt hat. Sie hat auf Bitten des Arztes dort die Augen geöffnet und geschlossen. Ich weiß noch, wie überrascht der Arzt von dieser, nicht für möglich gehaltenen Reaktion war. Und dann wurde es irgendwann schlechter. Meine Mutter hatte sich wundgelegen, bekam zum ersten Mal Morphin und wurde ruhiger. Etwa zeitgleich bekam sie eine Lungenentzündung. Ob es da einen Zusammenhang gibt? Es folgte die Verlegung nach Dortmund-Brackel. Dort schlief sie in den ersten Tagen fast nur, bekam täglich viermal Morphin und andere Medikamente, die sie vorher nicht bekam. Unter anderem Paracefan. Und seitdem wurde sie nie mehr, wie sie in Lünen war. Wacher vielleicht, aber nicht klarer. Entweder ist die Schädigung des Gehirns seit Lünen und der Lungenentzündung fortgeschritten, oder meine Mutter ist durch die vielen Medikamente, besonders das Morphin, so unkonzentriert und ohne weitere Entwicklung.

Es ist erstaunlich, aber nach diesem Gespräch schöpfe ich plötzlich längst verloren geglaubte Hoffnungen. Ich wie will nur noch, dass meine Mutter so schnell wie möglich in eine andere Klinik kommt. Dazu muss sie es schaffen, ganz alleine zu atmen. Denn dann erst kann sie verlegt werden. Und dann besteht vielleicht die Möglichkeit, dass sich ihr Zustand verbessert. In Dortmund-Brackel wird das kaum geschehen, denn dort wird man kaum damit aufhören, ihr Morphin zu injizieren.

Tag 44
Als ich am Samstag erwache bin ich total nervös. Und so stehe ich völlig unentspannt auf. Was genau ist der Grund für meine Anspannung? Die Aussage der Pflegerin gestern? Oder die Möglichkeit, dass meine Mutter ohne dieses verdammte Morphin und all die anderen Tabletten vielleicht besser drauf sein könnte? Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit? Was ist verantwortlich für meine Unruhe? Wo um alles in der Welt liegt die Wahrheit, was den Zustand meiner Mutter angeht? Weiß es wirklich niemand? Wissen es alle? Was weiß meine Mutter und wie viel von der ganzen Scheiße nimmt sie bewusst war und kann doch nichts dagegen tun? Ist ihr derzeitiger Zustand eine Folge der Medikamente, die sie einnimmt oder ihr ganz normaler Zustand? In meinem Kopf kreisen Fragen und Gedanken, geben sich die Tür in die Hand, lösen sich permanent ab. Wie es mir damit geht? Beschissen, würde ich mal sagen.

Gestern war ich für meine Verhältnisse sehr gefasst, konnte abends sogar ausgehen und über alle neuen Erlebnisse reden. Heute Morgen fühlt sich alles mies an. Nicht einmal die Sonne scheint, was mir mit Sicherheit auch aufs Gemüt schlägt. Sonne ist für mich tatsächlich wichtig. Sonne kann verhindern, dass ich in eine depressive Verstimmung gerate. Wo kriege ich jetzt Sonne oder etwas Ähnliches her?

Um 15.00 Uhr besuchen wir meine Mutter. Als wir das Zimmer betreten, werden wir von einer Pflegerin gegrüßt und gefragt, ob wir die Ergebnisse der Stuhlprobe schon kennen. Kennen wir nicht, Woher auch? In der Stuhlprobe wurden Clostridien entdeckt. Da diese ansteckend sind werden wir gebeten Schutzkittel und Handschuhe zu tragen. Meiner Mutter bleibt hier auch gar nichts erspart. Krank durchs Krankenhaus. Hier kommt echt alles zusammen.
Da mir das alles zu gefährlich erscheint, bleibe ich nur etwa zehn Minuten bei meiner Mutter. Sie schläft. Mein Vater bleibt noch gut eine halbe Stunde, dann verlässt er aus Sicherheitsgründen ebenfalls das Krankenhaus. Nicht auszudenken, wenn sich einer von uns auch noch infiziert.

Ich frage mich, was wohl gewesen wäre, wenn die Pflegerin nicht zufällig im Zimmer gewesen wäre. Dann hätten wir da ungeschützt und unwissend neben meiner Mutter gesessen, uns womöglich angesteckt, und am Ende nicht gewusst, was da eigentlich passiert ist. Das ist doch krank.

Später schreibt mir Agnes, das Clostridien sehr gefährlich sind. Im Internet lese ich, dass man infizierte Personen eigentlich in gesonderten Räumen unterbringt, weil die Ansteckungsgefahr doch sehr groß ist. Ich hatte nicht das Gefühl, dass die im Krankenhaus das ebenso sehen. Vielleicht ist das einfach nicht das richtige Krankenhaus für meine Mutter. Die ganze beschissene Situation ist nichts für meine Mutter.

Aufgrund meiner panischen Angst vor Ansteckung, werde ich in den nächsten Tagen wohl nicht ins Krankenhaus fahren. Clostridien sind einfach nichts für mich.

Tag 45
Es ist schon erstaunlich, da schafft man es, sich in dieser letztlich wohl doch hoffnungslosen Situation, Hoffnung zu machen, daran zu glauben, dass es doch besser werden kann, schon passiert wieder etwas, was einem ganz klar signalisiert, dass man sich doch besser keine Hoffnungen macht. So jedenfalls kommt es mir vor. Vorgestern fing ich an daran zu glauben, dass nach Absetzen gewisser Medikamente meine Mutter Fortschritte machen kann. Und gestern dann der nächste Niederschlag. Clostridien. Gefährlich für meinen Vater und mich, doppelt gefährlich für meine geschwächte Mutter. Wie soll man damit umgehen? Und was bedeutet dieser Bakterienbefall für meine Mutter?
Es ist mir durchaus bekannt, dass diese Clostridien zum Tod führen können. Und selbst wenn die Behandlung mit dem Antibiotikum anschlägt, heißt das nicht, dass die Gefahr vorüber ist. Clostridien haben die Angewohnheit zurückzukehren. Sie sind nicht nur gefährlich, sie sind miese Arschlöcher und für mich ein Beweis dafür, dass die Hygiene in deutschen Krankenhäusern oft zu wünschen übrig lässt. Aber das scheint niemanden zu interessieren. War es bis gestern die Angst, dass meine Mutter in ihrem jetzigen Zustand bleibt, so ist es nun die Angst, dass die verdammten Bakterien sie umbringen. Und so bleibt Angst ein ständiger Begleiter.

Bevor mein Vater zu meiner Mutter fährt, weise ich ihn nochmal darauf hin, wie gefährlich Clostridien sind. Er glaubt, dass meine Mutter schon wieder gesund und nicht mehr ansteckend ist. Ich erkläre ihm, dass das nicht sein kann und dass er sehr gut aufpassen muss, weil man davon nicht nur einen einfachen Durchfall bekommt.

Als mein Vater das Krankenzimmer betritt, liegen keine Schutzkittel bereit. Eine blonde Pflegerin sagt meinem Vater, dass meine Mutter nur Durchfall hatte und er deshalb keine Schutzmaßnahmen treffen muss. Das mit den Chlostridien war wohl ein Irrtum.

Als mein Vater mich nach dem Besuch meiner Mutter anruft, sagt er, dass es meiner Mutter heute sichtbar besser ging. Außerdem erzählt er, was ihm die blonde Pflegerin mitgeteilt hat. Ich bin irritiert. Gestern wurden Clostridien in der Stuhlprobe nachgewiesen, heute soll es ein Irrtum gewesen sein. Entweder man weist etwas nach, oder man tut es nicht. Und wieso wurde meine Mutter dann gestern mit zwei zusätzlichen Medikamenten gegen Clostridien behandelt? Da stimmt doch etwas nicht. Und wieso sind täglich neue Pflegerinnen da, die alle etwas anderes erzählen? Spielen die ein perfides Spiel oder ist dieses Chaos echt? Weiß die eine nicht, was die andere tut? Werden Patienten oder Untersuchungsergebnisse verwechselt? Was ist da los? Meine Einstellung zu dem Krankenhaus wird jedenfalls täglich schlechter. Ich fürchte, die ganze Situation ist nicht nur für die Patienten dort gefährlich, sie ist es auch für die Besucher. Meine Mutter muss da schnell weg, bevor die einen solchen Schaden anrichten, dass gar nichts mehr zu retten ist.

Tag 46
Mit gemischten Gefühlen starte ich in den Tag. Welche Diagnose werde ich heute präsentiert bekommen? Ist meine Mutter wirklich nicht ansteckend? Wer wird heute mit irgendwelchen Horrornachrichten vor uns stehen? Und war die Pflegerin, die am Freitag sagte, dass sich der Zustand meiner Mutter nicht mehr wirklich besser wird, wirklich vom Personal oder war es nur eine Spielfigur des Spielers, des Teufels, deren einzige Aufgabe darin bestand, uns mit ihren Aussagen einen Tiefschlag zu versetzen. Ich merke, dass mein Verstand mit der Situation ebenso überfordert ist, wie ich es schon seit Beginn dieses Alptraums bin.

Wie fast jeden Tag, betreten wir um kurz nach 15.00 Uhr das Zimmer meiner Mutter. Sie wirkt lebhaft, ist aber nicht hyperaktiv. Wie immer ist es mir nicht möglich, zu sagen, ob sie bewusst auf uns reagiert, oder ob ihre Bewegungen und Reaktionen nur den Anschein erwecken, sie würde uns tatsächlich wahrnehmen. Es ist und bleibt ein Trauerspiel, während dem mein Vater immer wieder mal weinend in sich zusammenbricht, sich aber schnell wieder zusammenreißt und weiter mit meiner Mutter redet und versucht sie dazu zu bringen, irgendwas zu tun, was er ihr sagt. Und immer wieder gibt es Momente, die darauf hinzudeuten scheinen, dass sie bewusst Dinge steuern kann. Denn als er sie anspricht und ihr sagt, dass sie seine Hand nun festhalten soll, macht sie es. Ihre kreisenden Bewegungen enden und sie hält tatsächlich seine Hand. Alles nur Zufall? Vielleicht. Und wenn nicht, vermutlich nur eine Randerscheinung, eines der wenigen Dinge, die tatsächlich kontrolliert ablaufen. Doch wissen, wissen wir es nicht.
Die Hände meiner Mutter sind heute nicht angebunden. Das Beatmungsgerät aus. Lediglich eine Zusatzversorgung mit Sauerstoff findet über einen Schlauch statt. Ich sehe das einfach als Fortschritt. Weniger erbaulich hingegen ist der nicht ausgewertete Zettel vom EKG. Dort steht etwas von unregelmäßig und irgendwelchen Warnhinweisen. Ob hier schon die nächste Gefahr droht?

Eine Pflegerin, natürlich wieder eine andere, die vierte in den letzten vier Tagen, kommt ins Zimmer. Ich frage sie nach den Clostridien. Kann sie nicht wirklich beantworten, sagt aber, dass es derzeit ungefährlich ist. Ich frage, wie das sein kann. Sie sagt, dass meine Mutter seit drei Tagen keinen Durchfall und auch sonst keinen Stuhlgang hatte, weshalb man davon ausgeht, dass erhöhte Vorsicht nicht angebracht ist. Sollte sie wieder Stuhlgang haben, wird dieser natürlich untersucht. Ich soll aber, wenn ich gehe meine Hände desinfizieren. Super Hinweis. Als ob ich das nicht sowieso ständig machen würde.

Eine kleine, blonde Frau kommt ins Zimmer. Osteuropäischer Akzent. Irgendeine Ärztin ist sie wohl. Verstehe nicht ganz, was für eine genau. Sie möchte mit uns reden. Meine Mutter ist ja bekanntlich wundgelegen. Nun ist die Wunde größer geworden. Sie möchten unsere Erlaubnis für einen kleinen chirurgischen Eingriff. Gerne würden sie ein Polster, oder eine Absaugvorrichtung, in die Wunde einbauen. Eine Art Kissen. Damit kann man dann den Eiter leicht absaugen und die Wunde wird schneller heilen. Wir sind Einverstanden.

Wenige Minuten später kommt eine Frau mit einer mobilen Röntgenstation herein. Sie möchte, dass wir kurz draußen warten, weil sie die Lunge meiner Mutter röntgen möchte. Ich verabschiede mich, mein Vater wartet selbstverständlich draußen bis er wieder rein darf.

Später erzählt er mir, dass meine Mutter hinterher gut drauf war. Er hat das Gefühl, dass sie ihn verstanden hat als er ihr erklärte, sie solle nicht immer mit der linken Hand über ihren Oberkörper wischen. Er erklärte ihr, dass da ein paar Schläuche sind, die da sein müssen und irgendwann hörte meine Mutter auf mit der Hand über den Oberkörper zu wischen. Außerdem sagt er, hat sie zum ersten Mal die Finger der linken Hand bewegt. Als er sich später verabschiedet hat, hob sie die linke Hand. Ob das ein Gruß war oder eine ihrer normalen Bewegungsabläufe, wissen wir nicht. Eine Pflegerin, die er nach der Dialyse gefragt hat, sagte, dass meine Mutter, seit sie dort ist, noch gar keine Dialyse bekam. Das überrascht mich schon sehr, da die Dialyse in Lünen zum festen Bestandteil gehörte. Trotzdem ist das eine gute Nachricht und mein Vater ist zuversichtlicher als er es noch zu Beginn unseres Besuches war. Und das ist gut.

Tag 47
Der nächste Tag beginnt und wie immer stellt sich die Frage, ob meine Mutter auf einem guten Weg ist, ob es aufwärts geht und vor allem, wie sie heute sein wird, wenn wir sie besuchen. Und gibt es wieder irgendwelche Hiobsbotschaften, die den kleinen Keim der Hoffnung, der gestern aufblühte, sofort wieder zunichtemachen?

Die blonde Ärztin mit dem osteuropäischen Akzent ruft meinen Vater an. Er soll zu einer Besprechung vorbeikommen. Es geht um den chirurgischen Eingriff am Steißbein. Sie schlägt halb zwölf vor. Mein Vater sagt ihr, dass das nicht geht, weil es bereits zwanzig vor zwölf ist. Klingt für die Ärztin wohl sinnvoll, weil sie nun halb zwei vorschlägt.

Als wir die Intensivstation erreichen werden wir von einer blonden Pflegerin in Empfang genommen. Mein Vater sagt, dass sie öfter hier ist und eine nette Pflegerin ist. Die Pflegerin sagt, dass meine Mutter heute richtig gut drauf ist. Sie hat vier Stunden in einem Stuhl gesessen und WDR4 gehört. Das klingt doch schon mal gut.
Als wir ins Zimmer meiner Mutter kommen, liegt sie tatsächlich entspannt in ihrem Bett, hat Kopfhörer auf und hört WDR4. Zunächst nimmt sie uns nur am Rande wahr. Wie begrüßen sie dennoch, doch sie scheint sich nicht für uns zu interessieren. Und dann kommt auch schon die kleine, blonde Ärztin mit dem fehlenden Zeitgefühl und sagt uns, dass wir jetzt hoch zur Chirurgie müssen. Dort erklärt uns ein Chirurg den Eingriff und mein Vater muss etwas unterschreiben. Der Eingriff nennt sich Wundrevision, Fremdkörperentfernung, Vakuumversiegelung und wird unter Vollnarkose durchgeführt. Vollnarkose bedeutet oft Rückschritt, lässt sich aber nicht vermeiden.

Zurück im Zimmer, erwartet uns der Narkosearzt. Er ist so jung, dass ich das Gefühl habe, einen Azubi vor mir zu haben. Er spricht mit starkem osteuropäischen Akzent und ist nur zu verstehen, wenn man sich sehr konzentriert. Er erzählt uns was und liest uns mögliche Risiken vor. Mein Vater sieht nicht so aus als würde er ihn verstehen. Ich habe den Vorteil, dass ich mitlesen kann, was er vorliest. Ansonsten hätte ich wohl auch nur Bahnhof verstanden. Aber nett ist er. Während er noch irgendwelche Sachen ausfüllt, höre ich der blonden Pflegerin zu, wie sei einer Kollegin etwas zu meiner Mutter erzählt. Meine Mutter hat gestern 11,5 Stunden selbstständig geatmet. Heute vier Stunden entspannt und ohne jegliche Hilfe in einem Stuhl gesessen. Das findet sie unglaublich und kann es sich nicht wirklich erklären. Nun kommt der Teil mit den Clostridien. Sie sagt, dass diese am Samstag im Stuhl nachgewiesen worden sind. Da meine Mutter aber seitdem keinen Stuhlgang mehr hatte, hat sie beschlossen, dass der Befund falsch war. Wer Clostridien hat, der hat auch Stuhlgang. Zumindest interpretiere ich ihre Aussage so. Nun erzählt sie noch etwas über die Wundversorgung. Da mich das nicht interessiert, beobachte ich meine Mutter. Sie ist in der Tat erstaunlich ruhig heute. Ob das an WDR4 liegt? Mein Vater spricht zu ihr. Und immer wieder scheint es so vor als würde sie aufmerksam verfolgen, was er sagt. Immer wieder kommt es vor, dass sich mein Vater während eines Krankenbesuchs wegdrehen, die Tränen unterdrücken und sich die Nase putzen muss. Diese Hilflosigkeit ist erdrückend und scheint kein Ende nehmen zu wollen.
Kaum hat mein Vater sich wieder gefasst, spricht er wieder mit meiner Mutter. Er möchte, dass sie seine Hand drückt. Sie macht es tatsächlich. Verzögert zwar, aber sie macht es. Und sie hält seine Hand danach fest. Ein Greifreflex oder eine bewusste Handlung? Dann macht sie den Eindruck als würde sie uns etwas mitteilen wollen. Da wir nicht verstehen, was sie will, sieht sie plötzlich unzufrieden aus. Einbildung? Oder ist sie wirklich unzufrieden? In meiner Traumwelt sind das natürlich Zeichen, dass es doch noch Fortschritte geben kann. Ich erzähle ich von Agnes und dem kleinen Moppel. Der kleine Moppel ist der Hund von Agnes, den sie sehr mochte und scheinbar auch noch mag. Denn immer, wenn ich ihr davon erzähle, scheint sie sehr aufmerksam zu sein und gespannt zuzuhören. Bilde ich mir das vielleicht nur ein? Und werde ich es je wissen?

Als meine Mutter wenig später einschläft, gehen wir ins Cafe, um etwas zu trinken. Mein Vater erzählt von einer Pflegerin, die meiner Mutter abends den Fernseher nicht anmachen wollte, weil meine Mutter eh nichts davon mitbekäme und es deshalb nichts bringt. Die Arroganz mancher Pflegerinnen ist echt widerlich. Die sollten sich einen anderen Job suchen, wenn sie ihren Frust loswerden wollen. Widerliche Krücken.

Während des weiteren Besuchs meines Vaters, passieren unschöne Dinge mit der Zimmernachbarin. Auch sie litt seit Tagen unter einem extrem dicken Bauch. Heute wird festgestellt, dass sie einen Darmverschluss hat. Sofort wird sie für den OP vorbereitet, während mein Vater mit dem Mann und dem Sohn der Frau spricht. Der Mann ist, wie sollte es anders sein, am Boden zerstört. All das Leid, was leider alltäglich ist, ist nur schwer zu ertragen. Das Leben an sich ergibt so noch weniger Sinn. Zumindest für mich.

Den Zustand meiner Mutter beschreibt mein Vater später wie folgt „Sie war heute ganz gut drauf“. Und ich hoffe, dass das auch so bleibt. Da die OP morgen unter Vollnarkose stattfinden wird, denke ich aber, dass sie morgen wieder weniger gut drauf sein wird.
Während des Abends ist mein Vater, wie so oft in den letzten Tagen, immer wieder gedanklich ganz weit weg. Er sieht ratlos und erschöpft aus. „Alles Scheiße“, sind die Worte, die ihm dann immer wieder über die Lippen kommen. Da hat er Recht. Wie es wirklich in ihm aussieht, kann ich vermutlich nicht annähernd nachempfinden. Das Leben ist ein Arschloch und schlägt einen gerne zu Boden.

Tag 48
Der Tag der Operation. Wie eine Endlosschleife präsentieren sich die Dinge, die immer wieder als Hindernisse der Genesung auftauchen. Wenn es keine Pflegerinnen, die einen mit ihren Prognosen schocken, sind, dann sind es Eingriffe, die plötzlich notwendig sind. Dabei spielt es keine große Rolle, ob es kleine, sogenannte Routineeingriffe, sind oder andere unvorhersehbaren Komplikationen auftreten. Es ist jedes Mal ein Schlag ins Gesicht, wenn zu der mittlerweile gewohnten Unsicherheit, neue Unsicherheiten auftauchen. Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen? Wie viel Leid steht meiner Mutter noch bevor? Und wie viel Leid erträgt mein Vater noch? Alles Fragen, die derzeit vermutlich niemand beantworten kann. Die Zeit wird alle Antworten mit sich bringen. Vielleicht ist die Zeit auch ein Arschloch.

Was immer meine Mutter gestern entspannt hat, es ist verschwunden. Ihre Hände sind wieder angebunden und sie reagiert scheinbar weniger als gestern auf uns. Wobei wir ja gar nicht wissen, ob unsere Mutter gestern auf uns oder einfach nur so reagiert hat. Wir wissen eigentlich gar nichts. Außer dass die Zimmernachbarin ihre OP ebenso überstanden hat, wie meine Mutter ihre. Ich vermute, dass meine Mutter von der Narkose so aufgewühlt ist.
Den Eingriff hat meine Mutter also gut überstanden. Diese Saugvorrichtung wurde allerdings nicht eingebaut. In vier Tagen wird entschieden, ob die normale Wundversorgung reicht. Die kleine Ärztin mit dem osteuropäischen Akzent sagt, dass am 19. Juli Clostridien festgestellt wurden, dann bis heute kein Stuhlgang mehr war. Heute wurde eine erneute Probe ins Labor geschickt. Es bleibt abzuwarten, was das Ergebnis bringt.

Zeit einen Blick in die Krankenakte zu werfen. Mäßig viel Staphylococcus haemolyticus wurde bei einer Untersuchung auf pathogene Keime festgestellt. Was auch immer das zu bedeuten hat. Eine Pflegerin, die in den nächsten Tagen für dieses Zimmer zuständig ist, kommt herein, um kurz mit uns zu reden. Sie sagt, dass meine Mutter heute ein Gerät zum sprechen angeschlossen bekam, doch außer einem stöhnen nichts hervorgebracht hat. Mein Vater sagt, dass es eben Zeit braucht. Die Pflegerin mit ihrer praktischen Frisur sieht es wohl anders. Als mein Vater sie davon überzeigen will, dass meine Mutter sehr wohl auf uns reagiert, ist deutlich zu sehen, dass sie ganz anderer Meinung ist. Da meine Mutter heute im Gegensatz zu gestern, sollte sie gestern tatsächlich auf uns reagiert haben, viel nervöser und unkonzentrierter ist, scheitert sein Versuch, sie vom Gegenteil zu überzeugen kläglich. Trotzdem sagt er der Schwester, dass meine Mutter reagiert hat. Diese sagt leise zu mir „Davon lässt er sich auch nicht abbringen.“ Ich habe nicht den Eindruck, dass irgendwer hier im Krankenhaus auch nur von der kleinsten Zustandsverbesserung meiner Mutter ausgeht. Meine Mutter wird ein Pflegfall bleiben und ich fürchte, mein Vater daran zerbrechen. Jede kleine Hoffnung, an die wir uns hier klammern, scheint nichts weiter zu sein als ein Akt, der es uns leichter machen soll mit der Situation klarzukommen. Denn wenn der letzte Hauch von Hoffnung verschwunden ist, was bleibt dass übrig? Nichts als Leere und totale Hilflosigkeit. Was seit Wochen unausweichlich scheint, wird durch solche kleinen Bemerkungen des Pflegepersonals immer wieder bestätigt. Und alles, was wir in das Verhalten meiner Mutter hineininterpretieren scheint nichts weiter zu sein als ein ganz normaler Vorgang, der nichts mit dem Ist-Zustand meiner Mutter zu tun hat. Und doch werden wir weiter Hoffnung schöpfen, jede kleine Veränderung als Zeichen sehen, dass doch noch etwas geht. Anders erscheint es auch gar nicht auszuhalten zu sein. Die letzen Hoffnungen werden uns noch früh genug geraubt. Das scheint so sicher, wie etwas eben sicher sein kann.

Alleine die Liste der Medikamente, die meine Mutter derzeit bekommt, ist abendfüllend.
1. Euthyrox 1x täglich
2. Pantozol 40mg 1x täglich
3. Beloc Zok 2x täglich
4. Carmen 10mg 2x täglich
5. Nepresol 25mg 3x täglich
6. Monoxidin 0,3mg 1x täglich
7. Delix 5mg 1x täglich
8. Amiodaron 200mg 1x täglich
9. Sab simplex 15ml 1x täglich
10. Lasix 20mg 1x täglich
11. Heparin 7500 3x täglich
12. Motilium 10mg 3x täglich
13. Morphin 5mg 3x täglich
14. Movicol Btl 1 2x täglich
15. Catapresan 0,075m 3x täglich
16. Protein 88 1ML 3x täglich
17. Vanco 250 4x täglich
18. Fortum 1g 3x täglich
19. Inh. Sult/Atr. 4x täglich

Vermutlich gibt es dazu keine Alternativen, aber erschreckend ist das dennoch. Davon kann niemand wirklich gesund werden. Das kann keinem Körper gut bekommen. All diese Medikamente halten den Körper meiner Mutter am Leben, nur für ihr Gehirn scheint es keine Hilfe zu geben. Wo liegt da der Sinn?

Tag 49
Während ich im Büro sitze, ist mein Vater auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich frage mich, was passiert, wenn endgültig feststeht, dass meine Mutter ein Pflegfall sein wird. Wird mein Vater sie dann selber pflegen wollen, wird er dann jeden Lebensmut verlieren? Wie soll es weitergehen? Leider sind ja die Reaktionen verschiedener Pflegerinnen alles andere als erbaulich. Es ist als würden sie uns begreiflich machen wollen, dass für meine Mutter gar keine Hoffnung mehr besteht. Doch was haben sie davon? Ohne Hoffnung wird es uns kaum besser gehen. Wie sollte es auch?

Obwohl es unwahrscheinlich, vermutlich auch unbegründet ist, keimt auch in mir immer wieder Hoffnung auf, sehe ich Reaktionen meiner Mutter als Zeichen, dass sehr wohl noch nicht alles verloren ist. Aber wie soll man auch sonst damit umgehen? So viel Abstand, dass ich jegliche Hoffnung für immer verliere, habe ich nicht. Und mittlerweile bilde ich mir sogar ein, dass manche Bewegungen, manche Blicke, meiner Mutter auch meine Mutter sind. Vorher erschien sie mir oft sehr fremd. Nun frage ich mich, ob ich wirklich meine Mutter, so wie sie vor dem Zwischenfall war, erkenne, oder ob ich nur nach all den Wochen diese ganzen Ausdrücke einfach als neue Ausdrücke meiner Mutter anerkannt habe. Ich frage mich, wo der Sinn dieser ganzen lebensrettenden Maßnahmen ist, wenn das, was danach von einem übrig bleibt, nicht zu erklären ist? Wenn man danach nichts mehr bewusst wahrnimmt oder nicht mehr zum Ausdruck bringen kann, was man zum Ausdruck bringen möchte, weil Teile des Gehirns ihre Mitarbeit verweigern. Kann medizinischer Fortschritt mehr Fluch als Segen sein? Im Fall meiner Mutter scheint es in der Tat so zu sein. Oder gibt es diese winzige Hoffnung tatsächlich noch, die all diese Maßnahmen vom medizinischen Standpunkt aus vertreten kann? Dass wir als Angehörige zunächst einmal nichts anderes wollen als das Leben meiner Mutter zu retten, ist klar. Schließlich konnten wir unter keinen Umständen davon ausgehen, dass meine Mutter einen derartigen, wie es derzeit aussieht, irreparablen Schaden, davontragen würde. Und wären wir in der Lage gewesen uns anders, gegen die vielen Wiederbelebungsversuche, zu entscheiden, wenn wir gewusst hätten, dass meine Mutter zwar überleben, aber nie wieder leben wird? Vermutlich nicht. Denn wenn auch nur der Hauch einer Chance besteht, dass das Leben danach wieder einigermaßen normal geführt werden kann, dann entscheidet man sich doch automatisch fürs Leben weil man alles andere ausblendet, fest davon überzeugt ist, dass alles gut wird. Wäre alles anders gekommen, wenn meine Mutter eine Patientenverfügung unterschrieben hätte? Was hätte sie wohl gewollt für sich? Müßig über all diese Dinge nun nachzudenken, denn diese Gedanken ändern nichts am tatsächlichen Zustand und der Schwere der Schäden, die dieser Vorfall bei meiner Mutter angerichtet hat. Und obwohl es vermutlich nicht von Bedeutung ist, wüsste ich dennoch gerne, was diesen Vorfall ausgelöst hat, wie es dazu kam und ob es zu verhindern gewesen wäre. Vermutlich nutzloses Wissen. Doch die Fragen sind nun einmal in meinem Kopf.

Mein Vater fährt natürlich zu meiner Mutter. Weil die Zimmernachbarin eine Infektion hat, muss er Schutzhandschuhe, Mundschutz und natürlich Schutzkittel tragen. Bei meiner Mutter wurde eine Speichelprobe entnommen. Sollte sie den Keim, oder was auch immer die Nachbarin hat, nicht haben, muss die Zimmernachbarin unbedingt verlegt werden. Mit dem Verlegen lassen die sich meiner Meinung nach zu viel Zeit. Der Zustand meiner Mutter ist unverändert. Mein Vater glaubt aber, dass meine Mutter die Hand zum Abschied gehoben hat. Wäre schön.

Tag 50
Der Staubsauger meiner Eltern gibt seinen Geist auf. Mein Vater will für den Übergang einen einfachen Staubsauger kaufen. Er sagt, dass meine Mutter dann später selber entscheiden soll, welchen Staubsauger sie möchte. Er sagt das mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit, als gäbe es keinen Zweifel daran. Ich wünsche sehr, dass er Recht behält.

Am Nachmittag besuchen wir meine Mutter. Bevor wir ins Zimmer gehen, fühle ich mich unwohl. Passiert mir immer öfter. Ich ertrage diese Ausnahmesituation nur schwer und würde gerne so lange davor die Augen verschließen bis meine Mutter alles überstanden hat.
Die Pflegerin mit der praktischen Frisur sagt uns, dass wir Handschuhe, Mundschutz und Schutzkittel anziehen müssen, bevor wir das Zimmer betreten können. Grund für diese Maßnahme sind Clostridien, die im Stuhl meiner Mutter nachgewiesen worden sind. Hat die blonde Schwester nicht angezweifelt, dass meine Mutter Clostridien hat, weil sie ja keinen Stuhlgang hatte? Wurde deshalb nicht auf diese Vorsichtsmaßnahmen verzichtet? Und hat meine Mutter auch die gleichen Keime, oder was auch immer, die in der Zimmernachbarin wüten? Dazu erfahren wir nichts. Dafür erzählt und die praktische Frisur nun, dass Clostridien in Krankenhäusern völlig normal sind. Das kommt vom Pantozol, welches die Darmflora meiner Mutter zerstört hat. So können die Clostridien ungestört im geschwächten Körper wüten. Aber da die Clostridien mit Antibiotika bekämpft werden, wurde bereits festgestellt, dass diese wirken und die Clostridien weniger geworden sind. Während die praktische Frisur zu uns redet, frage ich mich, ob sie da nicht etwas verwechselt. Liegt es wirklich am Pantozol, dass die Darmflora nicht mehr so gut ist oder eher an den vorher verabreichten Antibiotika? Und was ich so gar nicht verstehen kann ist die Aussage, dass Clostridien vollkommen normal sind in deutschen Krankenhäusern. Wieso kommt in einem Land, dass sich für so fortschrittlich hält, niemand auf die Idee, die geschädigte Darmflora wieder aufzubauen? Präparate dazu gibt es doch genug. Kann man damit vielleicht nicht genug Geld verdienen? Gibt es keine Studien darüber oder waren die Ergebnisse solcher Studien ganz zufällig negativ, damit man sich nicht weiter damit beschäftigen muss? Alles ist möglich, alles aber auch normal. Denn wozu vorbeugen, wenn man doch alles mit Antibiotika bekämpfen kann?

Wenige Momente später stehen wir in unseren Schutzanzügen vor meiner Mutter. Da irgendwer meinem Vater gestern gesagt hat, dass die Schutzkleidung nicht zu unserem Schutz, sondern zum Schutz der Patienten ist, denkt mein Vater, dass uns nichts passieren kann. Schließlich haben wir uns ja auch nicht mit Clostridien angesteckt, als wir in den letzten Tagen keine Schutzkleidung getragen haben. Vielleicht hatten wir einfach nur Glück. Mein eindringliches Warnen vor den Clostridien erreicht meinen Vater irgendwie gar nicht. Gar nicht gut.

Meine Mutter liegt recht ruhig in ihrem Bett. Mein Vater ist davon überzeugt, dass meine Mutter nicht richtig sehen kann und lediglich hell und dunkel unterscheiden kann. Außerdem meint er, dass sie es gar nicht mag, wenn man sie zu laut anspricht, weil sie sich dann immer erschreckt. Ich habe keine Ahnung, ob er Recht hat. Ich weiß nichts. Ich habe nur Angst, dass unser Leben nun immer so weiter gehen wird.

Am Abend erzählt mein Vater mir, dass meine Mutter, nachdem er ihr Kopfhörer aufgesetzt hat, viel entspannter wurde. Früher hat meine Mutter Musik nicht so gemocht, sondern war oft davon genervt. Dieser Vorfall hat meine Mutter sehr verändert, aber das wusste ich auch schon vorher. Manchmal sind es die kleinsten Begebenheiten, die mich aus meiner Traumwelt wecken und mir klarmachen, dass meine Mutter vermutlich nie wieder sein wird, wie sie mal war. Schlimmer noch, diese kleinen Dinge lassen klar werden, was ich immer wieder mehr oder weniger erfolgreich ausblende. Meine Mutter hat einen viel schwereren Schaden davongetragen als wir uns je vorstellen konnten. Und vermutlich erkennt meine Mutter uns gar nicht mehr. Und nun ist Platz für kindlich, naive Gedanken. Wenn meine Mutter nun ganz neu anfängt, dann muss das ja nicht zwangsläufig bedeuten, dass sie für immer auf Hilfe angewiesen ist. Babys können ja auch immer mehr tun, je älter sie werden. Warum also soll meine Mutter nicht auch lernen können erneut ein selbständiges Leben zu führen? Wieder ein Strohhalm an den ich mich klammere oder tatsächlich ein realistischer Gedanke? Ich weiß es nicht. Woher auch?

Mein Vater erzählt mir erneut seine Theorie, dass meine Mutter nicht sehen kann. Ich sage ihm, dass es nicht so sein muss. Es kann auch sein, dass meine Mutter so sehr in ihrer eigenen Welt lebt, dass sie ihre Umgebung nur gelegentlich bewusst wahrnimmt. Natürlich ist der Gedanke, dass meine Mutter nichts sieht meinem Vater angenehmer als der, dass sie in ihrer eigenen Welt lebt. Das zumindest glaube ich ihm anzusehen. Hätte ich meine Meinung besser für mich behalten?

Dass mein Vater noch immer voller Hoffnung und Zuversicht ist, merke ich beim Thema Staubsauger. Er will extra nicht viel ausgeben, weil er glaubt, dass meine Mutter später einen Staubsauger nach ihren Wünschen aussuchen wird. Wie schön ich es fände, wenn er damit Recht behält, muss ich nicht erneut erwähnen.

Tag 51
Laut Wetterbericht stehen uns zwei ekelhaft heiße Tage bevor. Trotzdem gibt es keinen Grund meine Mutter zu beneiden, weil sie in einem gut gekühlten Zimmer untergebracht ist.

Kaum habe ich beschlossen, dass ich am Sonntag, also morgen, nicht ins Krankenhaus fahre, sagt mein Vater, dass ich doch heute zu Hause bleiben soll. Ich überlege kurz und bin einverstanden. Es ist irre heiß und die Verkleidung im Krankenhaus macht es nicht besser. Also ist heute Ruhetag. Später stellt sich heraus, dass es vermutlich auch gar nicht möglich gewesen wäre, heute meine Mutter zu besuchen. Mein Kreislauf ist von der Hitze überfordert und ich verbringe den Nachmittag im Bett.

Mein Vater muss auch heute wieder Handschuhe, Mundschutz und Schutzkittel tragen. Die Pflegerin, heute wieder eine andere als gestern, sagt, dass sie keine Informationen diesbezüglich hat. Auch dazu, ob meine Mutter nun die gleichen Keime, Bakterien oder was auch immer, wie die Zimmernachbarin hat, weiß sie nicht. Was das angeht, gibt es sicher besser informiertes Personal. Irgendwie scheint in dem Krankenhaus ein Kommunikations- oder Organisationsproblem zu herrschen. Ich frage mich immer wieder aufs Neue, was diese Rotation beim Pflegepersonal soll. Einen Tag ist das Personal für meine Mutter zuständig, am nächten wieder nicht, aber zwei Tage später dann doch wieder für einen Tag. Als würden die würfeln.

Mein Vater will der Pflegerin zeigen, dass meine Mutter sehr wohl auf ihn reagiert. Er sagt meiner Mutter, dass sie seine Hand drücken soll. Und sie macht es. Die Pflegerin ist ganz verwundert und sagt, dass meine Mutter das bei ihr nie macht. Vielleicht findet meine Mutter es ja doof, dass ständig anderes Personal um sie herum ist. Vielleicht macht die Pflegerin ihren Job auch nicht mit dem nötigen Ernst. Oder sie ist überfordert, schlecht ausgebildet, abgestumpft, träge, faul und dumm. Was weiß denn ich?

Mein Vater erzählt mir später, dass meine Mutter total entspannt, sobald sie Kopfhörer aufhat und WDR4 hört. Das finden wir echt erstaunlich, weil sie früher immer wollte, dass die Musik ausgemacht wurde. Irgendwie ist das schön. Aber irgendwie auch beängstigend. Diese Nacht wird die dritte in Folge sein, in der sie ohne Beatmungsgerät schlafen muss. Was das angeht, macht sie deutliche Fortschritte. Wenn sich das so weiterentwickelt, wird sie in einigen Tagen vermutlich gar kein Beatmungsgerät mehr brauchen. Dann wird sie verlegt und dann folgt die vielleicht schwerste Behandlungsphase. Dann geht es ums Gehirn. Und da wünsche ich mir nichts mehr als das sie damit ebenso erfolgreich sind, wie auf dieser sogenannten Weaning Station in Dortmund-Brackel. Doch bis es soweit ist, geht es auch noch darum, dass meine Mutter die verdammten Clostridien los wird und sich keine neuen Krankheiten einfängt. Denn davor kann man im Krankenhaus ja leider gar nicht sicher sein.

Tag 52
Ich bleibe erneut dem Krankenhaus fern. Eine Idee meines Vaters, die mir so gut gefällt, dass ich sofort einverstanden war. Allerdings, und das ist typisch für mich, habe ich schon ein schlechtes Gewissen. Aber das ist normal, da ich ja nicht wirklich einen Grund habe, meine Mutter nicht zu besuchen.

Der Zustand meiner Mutter ist vergleichbar mit dem am gestrigen Tag. Die Clostridien konnten angeblich nicht mehr nachgewiesen werden. Meine Mutter bekommt auch „nur“ noch ein Antibiotikum. Dennoch muss mein Vater auch heute Handschuhe, Mundschutz und Schutzkittel tragen. Wegen der Zimmernachbarin vielleicht? Denn sonst würde es ja keinen Sinn machen. Oder trauen die den Laborergebnissen nicht? Vielleicht werden in der nächsten Stuhlprobe ja wieder Clostridien festgestellt. Ausschließen kann man das jedenfalls nicht.
Später muss die Zimmernachbarin erneut operiert werden. Zu den Keimen, Bakterien, oder was auch immer, erfährt mein Vater nichts. Aber da die Zimmernachbarin auf dem gemeinsamen Zimmer liegen geblieben ist, muss ich davon ausgehen, dass meine Mutter ebenfalls infiziert ist. Andererseits kann es natürlich auch sein, dass die Speichelprobe meiner Mutter vergessen wurde. Oder es wurde schlicht vergessen, dass die Zimmernachbarin von meiner Mutter entfernt wird. Was solche Dinge angeht, scheinen die in diesem Krankenhaus doch etwas unkoordiniert zu sein. Aber da ich es nicht wirklich weiß, sind das alles nur unbestätigte Vermutungen.

Meine Mutter kann mittlerweile seit vier Tagen völlig ohne Beatmung leben. Wenn die nächsten Tage so weitergehen, dann wird keine weitere Beatmung mehr nötig sein. Der Luftröhrenschnitt kann somit in den nächsten Tagen geschlossen werden. Gleichzeitig bedeutet das wohl auch, dass meine Mutter dann schon bald in die nächste Klinik verlegt wird. Und dann werden wir bald Gewissheit haben, wie weit sich der geistige Zustand meiner Mutter noch verbessern kann und ob es vielleicht doch eine Chance gibt, dass sie ihr Leben nicht als totaler Pflegefall verbringen muss.

Tag 53
Mir fällt auf, dass die Angst, dass meine Mutter an den Folgen des Zwischenfalls stirbt, derzeit fast gar nicht mehr vorhanden ist. Und wenn sie sich nicht erneut mit irgendwelchen Keimen ansteckt, sollte diese Gefahr auch nicht bestehen. Wobei das möglicherweise etwas naiv gedacht ist, da wir noch immer nicht die Ursache für den Zwischenfall kennen. Außerdem, und das wurde seit sie in Brackel liegt, gar nicht mehr erwähnt, müssen ihre Herzrhythmusstörungen ja behandelt werden. In Lünen wurde von einem Herzschrittmacher gesprochen, der, sollte der Zustand meiner Mutter nicht mehr lebensbedrohlich sein, deingebaut werden muss. Hier im Krankenhaus scheint das irgendwie vergessen worden zu sein. Da müssen wir definitiv noch nachfragen.

Bevor wir ins Zimmer dürfen, müssen wir uns verkleiden. Handschuhe, Mundschutz und Schutzkittel sind angesagt. Meine Mutter schläft. Allerdings sehr unruhig. Sie verzieht ihr Gesicht, sieht unentspannt aus und manchmal auch als würde sie Schmerzen haben. Der Versuch, sie mit Musik zu beruhigen, scheitert. Ich gebe ihr meine Hand. Sie nimmt sie und macht nun irgendwelche Bewegungen, die sie vorher schon ohne meine Hand gemacht hat. Allerdings funktioniert der Greifreflex, denn sie lässt meine Hand nicht einfach los. Ob sie uns allerdings bewusst wahrnimmt, kann ich absolut nicht sagen.
Eine Pflegerin bittet uns das Zimmer zu verlassen, weil meine Mutter umgelegt werden muss. Als wir vor dem Zimmer warten, kommt die Visitegruppe. Vor dem Zimmer sagt jemand aus der Gruppe folgendes. „Hier nicht rein. Das sind die heiligen Zimmer. Mit Seuche.“ Ich bin begeistert. Ärzte meiden also dieses Zimmer. Pflegepersonal und Besucher dürfen der Seuche allerdings ausgesetzt werden. Vielleicht sollte generell über Maßnahmen nachgedacht werden, welche die Seuchengefahr minimieren. Aber so etwas ist im deutschen Heil- und Kostenplan wohl nicht vorgesehen.
Ein Pfleger schiebt ein Beatmungsgerät aus dem Zimmer. Ich vermute, dass es das von meiner Mutter ist. Wir sind wohl diesen Schritt, wegen dem meine Mutter hierher verlegt wurde, weiter. Mein Vater darf wieder rein. Ich verlasse die Seuchenstation.

Wird meine Mutter je wieder sprechen, lesen, laufen können? Kann sie irgendwann wieder alleine essen? Alleine zur Toilette? Wie viele dieser für den gesunden Menschen selbstverständlichen Dinge, dazu zähle ich lesen, obwohl mir bewusst ist, dass viele es nicht können, wird sie, wenn sie in einer Spezialklinik weiterbehandelt wird, noch lernen können und was wird nie mehr möglich sein? Werden wir je erfahren, ob sie uns als ihre Familie wahrnimmt? Werden wir je wieder mit ihr über diese und andere Dinge reden können? Und wann werden diese Fragen beantwortet sein? Werden sie es jemals sein? Und wann hören sie auf?

Am Abend sagt mein Vater, dass es tatsächlich das Beatmungsgerät meiner Mutter war, welches aus dem Zimmer gebracht wurde. Sie kann wohl nun durchgehend alleine atmen. Es wird ihr lediglich noch Sauerstoff durch einen Schlauch über den Trachialkatheter zugeführt. Es sieht so aus als könnte meine Mutter bald verlegt werden.
Da Ärzte das verseuchte Zimmer komplett meiden, bekommt mein Vater seine Informationen seit Tagen nur noch vom Pflegepersonal. Mich würde interessieren, was gegen die Herzrhythmusstörungen unternommen werden soll. Ob meine Mutter einen Herzschrittmacher braucht. Ein Gespräch mit einem Arzt erscheint mir nun langsam sinnvoll. Ich mag Gespräche mit Ärzten nicht.

Ich weiß nicht, ob mein Vater mir immer alles erzählt, was er weiß, oder ober er negative Informationen bewusst für mich herausfiltert. Ich sehe nur, dass er besonders in den letzten Tagen abends, wenn er mich besucht, immer sehr müde ist und einschläft. Meine Fragen, ob er denn nachts schläft, beantwortet er leicht ausweichend. Er gibt zwar zu, dass er nicht durchschläft, sagt aber dass es normal und schon okay ist. Sobald er dann gegangen ist, weil er zu müde ist, wird er wieder wach und guckt noch Fernsehen.

Heute schläft er zunächst nicht ein, dafür muss er sich mehrfach die Nase putzen. Und es ist kein Schnupfen, der ihn dazu bringt. Meinem Vater kommen die Tränen, doch er versucht sich nichts anmerken zu lassen. Ich sitze ratlos neben ihm und fürchte, dass er, wenn er nicht langsam eine Pause bekommt, bald nicht mehr kann. Ich kann natürlich irgendwie nachvollziehen, wie beschissen es ihm geht und würde ihm auch gerne helfen. Doch meine Ideen, was ich tun kann, sind mehr als begrenzt. Ehrlich gesagt, habe ich gar keine Ideen. Vielleicht hat er Angst davor, dass meine Mutter bald nach Hagen-Ambrock verlegt wird und er dann nicht täglich bei ihr sein kann. Vielleicht Angst vor der Fahrt dorthin, Angst davor, dass meine Mutter nicht mehr so weit gesund wird, dass er zusammen mit ihr leben kann. Es gibt so viele Dinge vor denen er in dieser Situation Angst haben kann, doch er wird so etwas vermutlich nie aussprechen. Das hat er nie.

Tag 54
Seitdem dieses Unglück passiert ist und wir uns in dieser Ausnahmesituation befinden, habe ich nicht, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, von meiner Mutter geträumt. Diese Nacht ändert es sich. Ich träume davon, dass meine Mutter, nachdem ihr das Beatmungsteil entfernt wurde, wieder mit mir spricht, dass sie weiß, wer ich bin, dass sie meine Mutter ist, wie ich sie kannte. Es fühlt sich sehr real an und es fühlt sich gut an. Vermutlich spiegelt dieser Traum einen großen Wunsch wider. Ich wache auf und behalte den Traum noch eine Weile als schönes Gefühl in mir. Es fühlt sich sehr gut an und ich bin ganz entspannt als ich wieder einschlafe.

Mein Vater sagt, dass ich nur jeden zweiten Tag ins Krankenhaus fahren soll. Ich weiß leider nicht, warum er das sagt. Möchte er, dass ich Benzin spare? Ist es, weil er möchte, dass ich weniger Stress habe? Oder weil ich eh nichts machen kann und meine Mutter mich vermutlich sowieso nicht wahrnimmt? Oder weil ich dieses ganze verkleiden nicht mag und Angst vor den Bakterien habe? Was auch immer seine Gründe sind, ich nehme seinen Vorschlag an und bleibe heute zu Hause.

Den Besuch meines Vaters verschläft meine Mutter größtenteils. Die Pflegerin, die mein Vater dazu fragt, kann nichts sagen, außer dass der Blutdruck gut ist. Was gar nicht gut ist, ist die Wunde am Steißbein. Die Heilung macht keine Fortschritte, so dass es wahrscheinlich ist, dass meine Mutter nochmal in den OP muss und dann dieses Vakuumkissen, wie genau das heißt, habe ich längst vergessen, eingesetzt bekommt. Wieder eine neue Belastung und eine Verzögerung des Heilungsprozesses. Die Clostridien sind auch noch da. Diesem Tag etwas Positives abzugewinnen ist schwer. Außer meinem Traum und der Tatsache, dass es keine neuen Hiobsbotschaften gibt, können wir heute keine guten Ereignisse vermelden. Aber vermutlich ist das schon eine ganze Menge.

Tag 55
Nachdem ich gestern davon geträumt habe, dass alles wieder irgendwie gut wird, ist mein heutiger Traum eher ein Alptraum. Denn in diesem Traum wird mir mitgeteilt, dass sich am Zustand meiner Mutter nichts mehr ändern wird. So startet der Tag alles andere als angenehm und ich fürchte, dass mir heute im Krankenhaus tatsächlich mitgeteilt wird, dass wir uns keine Hoffnungen mehr machen müssen. Es bleibt zu hoffen, dass der Tag ganz anders läuft als mein Traum. Denn nur dann kann es ein guter Tag werden.

Weil man Vater schlecht einschlafen und noch schlechter durchschlafen kann, redet er mit seinem Arzt darüber. Dieser verschreibt ihm Zopiclon. Verdammt. Ich hätte nie gedacht, dass mein Vater mal so etwas braucht. Hoffentlich hilft es ihm.

Später im Krankenhaus heißt es, dass wir eine halbe Stunde warten müssen, weil meine Mutter anders gelegt wird. Wir gehen etwas trinken. Als wir zu meiner Mutter dürfen, liegt sie einfach so da und starrt zur Decke. Das kenne ich von mir, doch ist das nicht zu vergleichen. Wir sagen ihr, dass wir da sind. Wirklich sagen, ob sie das wahrnimmt, können wir nicht. Zumindest zeigt sie keine Reaktion, die das vermuten lässt. Weil mein Vater vermutet, dass meine Mutter wegen ihrer Bakterien den ganzen Tag nur im Bett liegt, fragt er eine Pflegerin. Diese sagt, dass meine Mutter sehr wohl in den Stuhl gesetzt wird und ein Therapeut mit ihr arbeitet. So ganz mag ich ihr das allerdings nicht glauben. Sie sagt es meiner Meinung nach eher fragend. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

Bei der Zimmernachbarin muss ein Medikament gewechselt werden. Eine kleine Pflegerin kommt herein und erledigt das. Allerdings völlig ohne Schutzkleidung. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Der Mann der Zimmernachbarin fragt etwas zum Blutdruck der Frau. Dieser ist zu hoch und schwankt enorm. Die kleine Pflegerin sagt, dass irgendwas mit dem Gerät wohl nicht stimmt und der Blutdruck so hoch nicht sein kann. Dann verlässt sie das Zimmer.

Meine Mutter bekommt von alldem scheinbar nichts mit. Sie schläft unruhig, schlechte Träume vielleicht. Eine Pflegerin kommt herein, um den Schleim abzusaugen. Als die Pflegerin und mein Vater ihr den folgenden Vorgang erklären, reagiert sie nicht. Erst als die Pflegerin ihre Arbeit macht, sieht man meiner Mutter ihre Unzufriedenheit darüber an. Zumindest bilden wir uns ein, es ihr anzusehen. Der Blick ist in etwa so wie ich ihn von früher von ihr kannte. Nur damals hätte sie sicher etwas dazu gesagt. Heute muss sie es still ertragen.

Der Blutdruck meiner Mutter schwankt zwischen 143/70 und 189/70. Mehrmals schlägt deshalb der Alarm an. Niemand kommt. Liegt vielleicht daran, dass das Zimmer verseucht ist. Oder daran, dass hier einfach zu wenig Personal ist. Sommerloch halt. Hätte ich doch nur die absaugende Pflegerin gefragt. Ging aber nicht, weil ich das mit dem Blutdruck erst jetzt bemerkt habe.

Auf dem Flur sehe ich die verdammte Schwester, die uns vor etwa zwei Wochen erzählt hat, dass das mit meiner Mutter nichts mehr wird und dann, nachdem sie gemerkt hat, dass wir nichts wissen, sagte, dass sie das eigentlich nicht sagen darf. Ich verspüre große Lust, ihr etwas über den Schädel zu schlagen oder mit Clostridien zu infizieren. Oder sie anzuspucken. Sie ist nicht nur eine dumme Kuh, sie ist auch unattraktiv wie eine verschrumpelte Frucht. Vielleicht weiß sie das ja und ist deshalb eine so dumme Kuh geworden. Obwohl ich denke, dass sie schon immer so war. Ich bin froh, dass sie nicht ins Zimmer kommt. Ich verachte sie und wäre sicher nicht besonders nett zu ihr.

Da diese Blutdruckschwankungen nicht gut sein können, gehe ich zu der Pflegerin, die hier vorhin so schön abgesaugt hat, und teile es ihr mit. Sie sagt, dass das vermutlich an dem Gerät liegt und geht zu meiner Mutter, um den Blutdruck mit Manschette zu messen. Sie vergisst dabei ihre Schutzkleidung. Alles sehr fragwürdig.

Während ich das Krankenhaus verlasse, frage ich mich, ob es tatsächlich so sein kann, dass beide Blutdruckmessgeräte auf dem Zimmer kaputt sein können. Oder sagen die das nur, um uns zu beruhigen?

Später spricht mein Vater mit einer Pflegerin. Sie sagt, dass meine Mutter, wenn die Clostridien nicht mehr nachweisbar sind, auf ein anderes Zimmer verlegt wird, da die Zimmernachbarin das eigentliche Problem ist. Die Zimmernachbarin ist so voller Keime, dass sie isoliert liegen muss. Warum die Zimmernachbarin nicht verlegt wurde und auch nicht wird, kann oder will sie nicht sagen. Ich verstehe absolut nicht, wie dort vorgegangen wird. Schließlich war ja vor einigen Tagen schon angedacht, dass meine Mutter verlegt wird. Dann hörten wir nichts mehr zur Speichelprobe. Ärzte meiden das Zimmer und das ständig wechselnde Pflegepersonal ist auch keine große Hilfe. Wer auch immer diese Station, die Dienstpläne und alles weitere managt, scheint für seinen Job wenig geeignet und sollte vielleicht besser ausgetauscht werden. Denn gute Leistungen sehen anders aus.

Tag 56
Der Tag verläuft zunächst ganz gut. Mein Vater hat das Gefühl, dass meine Mutter gut drauf ist und sogar zu sprechen versucht. Doch dann kommt eine Frau vom sozialen Dienst zu meinem Vater, um ihm mitzuteilen, dass wir uns keine großen Hoffnungen auf eine Reha für meine Mutter machen sollen. Das bedeutet wohl, dass meine Mutter dann vom Krankenhaus direkt in ein Pflegeheim kommen wird. Damit werden letzte Hoffnungen schlagartig zerstört. Meine Mutter ist also für die Krankenkasse, die Bundesknappschaft, ein hoffnungsloser Fall für den es sich nicht lohnt, weiteres Geld zu investieren.

Mich wirft dieses Wissen ziemlich zurück. Doch das ist nichts dagegen, wie mein Vater sich fühlen muss. Hilflos und von allen im Stich gelassen.
Als er später bei mir sitzt, ist er zwischendurch, wie auch in den Tagen zuvor, immer wieder gedankenverloren und den Tränen nah. Wir reden über den Tag und die Frau vom sozialen Dienst. Eine Diplom-Soziologin. Das macht sie gleich noch unsympathischer. Der größte Teil des Personals im Knappschaftskrankenhaus in Dortmund-Brackel scheint jegliche Menschlichkeit verloren zu haben. Oder nie besessen zu haben. Diese sachliche Kälte, gepaart mit sichtlichem Desinteresse, ist schlicht zum kotzen. Ich habe schon lange nicht mehr das Gefühl, dass meine Mutter dort richtig behandelt wird. Ich vermute, dass sie sogar während der Therapie, die angeblich jeden Morgen stattfindet, lediglich in einen Stuhl gesetzt wird. Und da sie das kann, ohne dass sich jemand weiter um sie kümmern muss, wird es vermutlich dabei belassen. Komisch auch, dass bisher kein Therapeut mit uns gesprochen hat. Auch die Präsenz der Ärzte lässt mehr als zu wünschen übrig. Gab es in Lünen noch Assistenzärzte, die sich wirklich für den Fall und den Mensch hinter dem Fall interessierten, so lässt diese Station alles vermissen. Niemand kann wirklich etwas zu meiner Mutter sagen. Es scheint so als wäre meine Mutter nichts weiter als eine Sache. Als sie vor einigen Wochen hier eingeliefert wurde, erschien mir das Krankenhaus steril, irgendwie kalt. Steril ist es allerdings nur bedingt, denn Keime und Bakterien verteilen sich hier ganz prima und gedeihen prächtig. Ich könnte in so einem Krankenhaus nicht arbeiten. Noch weniger wollte ich hier abgelegt werden. Ich kann dieses kalte Haus nicht weiter empfehlen. Die meisten der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hier bräuchten dringend ein paar Schulungen in Sachen Menschlichkeit und angemessenes Verhalten am Arbeitsplatz.
Bevor die Tussi vom sozialen Dienst sich verabschiedet hat, sagte sie meinem Vater noch, dass es noch lange dauern kann bis über den Antrag entschieden worden ist. Vielleicht ist diese Mitteilung die Beste, die wir von ihr bekommen werden.

Wir versuchen einen Film zu gucken. Diese Art der Ablenkung funktioniert heute aber überhaupt nicht. Mein Vater ist gedanklich woanders. Es geht ihm nicht gut. Was in seinem Kopf vorgeht, kann ich nur erahnen. Er nestelt an seinem Kragen, scheint schwer Luft zu bekommen, steht auf, öffnet die Balkontür, um zu atmen. Da das nicht hilft, geht er raus auf den Balkon und weint. Ratlos bleibe ich im Wohnzimmer sitzen. Mein Vater sitzt nun auf dem Stuhl und weint. Ich bin nicht in der Lage angemessen zu reagieren. Ich schreibe Agnes eine Nachricht. Sie rät mir, dass wir einen Spaziergang machen. Gute Idee. Mein Vater hat auch nichts dagegen und wir gehen los.

Mein Vater erzählt mir etwas, zwischendurch fasst er sich an den Hals, fängt fast an zu weinen, putzt sich die Nase und versucht zu reden. Ich höre ihm zu. Mehr habe ich nicht drauf. Mehr kann ich nicht tun.
Später fahren wir gemeinsam tanken und ich sage ihm, dass es nicht gut ist, wenn man niemanden zum reden hat und alles für sich behält. Vermutlich eine total unpassende Aussage. Hätte ich eine Ausbildung zum Sozialpädagogen, dann könnte ich sicher adäquat kommunizieren. Ach ne, das ist falsch. Ich würde dann nur glauben, dass ich es kann und vielleicht sogar ein Diplom haben. Auf ein solches Diplom kann man getrost scheißen.

Morgen wollen wir nach einem Gespräch mit einem Arzt und einem Therapeuten fragen. Vielleicht redet ja jemand mit uns und versetzt uns einen weiteren Tiefschlag. Lange kann es dann sicher nicht mehr bis zum endgültigen KO dauern.

Neben der Sorge um meine Mutter und der allgemeinen Sorge um meinen Vater, kommt nun noch echte Angst um meinen Vater. Je länger es dauert und je mehr Nachrichten, die nichts Gutes zu bedeuten haben, wir erhalten, desto schlechter geht es ihm. Er wirkt so verloren. Er scheint gar keine Ziele mehr zu haben, keine Perspektiven zu sehen. Er hat den größten Teil seines Lebens mit meiner Mutter verbracht, nun muss es sie in so einem Zustand sehen. Und dann immer wieder hören, dass es für meine Mutter keine Hilfe mehr gibt. Man kann sie dazu bringen allein zu atmen, vielleicht die Wunde am Steißbein dazu bringen, zu verheilen und es eventuell schaffen, sie von den Clostridien zu befreien, aber an ihrem Geisteszustand, da kann scheinbar niemand was tun. So sehr man sich auch um die körperlichen Dinge zu bemühen scheint, so wenig Interesse scheint an den geistigen Fähigkeiten zu bestehen. Gibt es definitiv keine Hoffnung? Hat man vergessen es uns zu sagen? Oder hat man es meinem Vater längst gesagt und er hat es einfach verdrängt, nicht wahrhaben wollen? Und kann irgendwer mit Sicherheit sagen, möglichweise auch beweisen, dass meine Mutter total verloren ist? Und wenn das so ist, wieso macht man sich dann die Mühe, ihren Körper zu heilen? Für mich ist das alles unverständlich und im Moment absolut nicht nachvollziehbar. Vielleicht bin ich aber auch nur zu nah dran, um es realistisch und sozialpädagogisch kühl zu betrachten.

Ich versuche mir vorzustellen, wie es sich für meinen Vater anfühlen muss. Doch das ist Blödsinn, so etwas geht nicht. Ich frage mich, wie es sich anfühlt, nach so vielen gemeinsamen Jahren plötzlich alleine da zu stehen. Und vor allem, wie schrecklich es sein muss, wenn man auch sonst niemanden hat, mit dem man reden kann. Alle Verwandten, zumindest die, zu denen sie Kontakt hatten, sind längst verstorben. Abgesehen von einem Bruder meiner Mutter, der aber als meine Mutter im Jahre 2000 ihren Schlaganfall hatte, nicht ein einziges Mal zu ihr ins Krankenhaus kam, und spätestens seitdem niemand mehr ist, mit dem man solche Dinge teilt. Ich habe viele Freunde und Bekannte, die für mich da sind. Mein Vater eigentlich nur mich. Und welcher Vater klagt seinem Sohn schon sein Leid? Und so bleibt mein Vater letztlich völlig alleine mit seinem Schmerz. Für mich unvorstellbar, aber doch real. Was, wenn er mit meiner Mutter, seiner Frau, auch allen Lebensmut verliert? Ausschließen kann ich das nicht, wenn ich ihn mir so anschaue. Verdammtes Leben.

Kann man es als positiv verzeichnen, dass mein Vater gestern dank Zoficlon schnell eingeschlafen ist und auch fast sieben Stunden durchgeschlafen hat? In Anbetracht der beschissenen Gesamtsituation müssen wir das wohl als positives Ereignis verbuchen und besonders hervorheben. Auf der Suche nach dem Guten im Schlechten. Traurig, aber wahr.

Tag 57
Mein Interesse an dem Tag ist etwa so groß, wie das Interesse an einem abgefaulten Bein. Was kann dieser Tag schon bringen, dass ihn lebenswert macht? Temperaturen bis 38 Grad sind angekündigt. Auch das ist nichts, wofür ich mich auch nur im Geringsten begeistern kann. Und dann ist es noch ein Freitag. An einem Freitag fing das ganze Elend an.

Diese Angst, die ich in den letzten Tagen verdrängt habe, ist nun vollumfänglich zurück. Was ist, wenn das Gespräch mit dem Arzt nun so verläuft, dass wir danach sicher wissen, dass der Zustand meiner Mutter sich nicht verbessert? Was, wenn er von irreparablen Hirnschäden redet, die bei irgendwelchen Untersuchungen zweifelsfrei bewiesen wurden? Was machen wir dann? Wenn meine Mutter den Rest ihres Lebens in einem Pflegeheim vor sich hinvegetieren muss. Wie sollen wir das ertragen? Wie vor allem soll mein Vater das ertragen? Ich habe Angst vor dieser Wahrheit, Angst davor, dass mein Vater damit nicht klarkommt. Angst, dass ihm etwas passiert. Angst, dass ich bald alleine bin. Alleine in einem Leben, mit dem ich doch schon jetzt nicht wirklich klarkomme. Es scheint als wäre der Untergang meiner Mutter der Untergang von uns dreien. Als würde das Leben einen weiteren Knick machen, ein weiteres Loch schaufeln, aus dem es kein entkommen gibt. Meine Bach Rescue Tropfen, die ich nun schon länger nicht mehr brauchte, werden nun wieder mein ständiger Begleiter sein. Und ich darf nicht verschweigen, dass ich jetzt gerne Diazepam nehmen würde. Nur, um es besser zu ertragen. Zur Sicherheit. Trügerische Sicherheit.
Kaum sind wir im Krankenhaus, sprechen wir auch schon mit einer Ärztin. Und kaum hat das Gespräch begonnen, verläuft es so, wie ich es seit langem erwartet habe. Der Hirnschaden meiner Mutter ist irreparabel, ihre Reaktionen willkürlich. Sicher kann es sein, dass sie einiges mitbekommt, doch das Großhirn kann keine bewussten Reaktionen mehr erzeugen. Alles, von dem wir glaubten, es könnte ein gutes Zeichen sein, ist unbewusst und unkontrolliert. Mein Vater erklärt der Ärztin, dass das nicht sein kann, weil es ja in den letzten Tagen mit meiner Mutter aufwärts ging. Erneut erklärt die Ärztin die Fakten. Mein Vater wiederholt, dass es nicht sein kann. Die Ärztin erklärt sich bereit, einen erneuten Test durchzuführen. Wie befürchtet, bringt der Test keine neuen Erkenntnisse. Sicherlich greift meine Mutter eine Hand, die ihr gereicht wird, aber sie drückt sie dann aus Reflex. Auch dass sie ihre Zehen dermaßen hochstellt, deutet auf einen Hirnschaden hin. Die Ärztin nennt es Hypoxischer Hirnschaden. Mein Vater ist nun völlig fertig. Verständlicherweise. Er geht kurz weg. Als er zurück ist, sagt die Ärztin, dass meine Mutter durchaus gute Überlebenschancen hat und vielleicht auch irgendwann gar keine Unterstützung beim Atmen mehr braucht. Ihr Körper lebt. Sie aber nicht. Ich stelle mir vor, dass meine Mutter jahrelang in einem Pflegeheim liegt oder auch mal sitzt, mein Vater täglich bei ihr sitzt und an jedem verdammten Tag hofft, dass dies der Tag sei, welcher den Durchbruch bringt. Daneben besteht sein Leben nur noch daraus, dafür zu sorgen, dass es mir gut geht. Er kauft immer wieder für mich ein, besucht mich und hat sonst keinerlei Freuden oder Ziele. Irgendwann zerbricht es ihn und er stirbt oder wird selbst krank. Nein, so einfach kann ich dem Zustand meiner Mutter nichts Gutes mehr abgewinnen. Und ich frage mich, was wohl schlimmer wäre, ihr jetziger Zustand oder wenn sie damals gestorben wäre. Ich kann das nicht wirklich beantworten.
Die Ärztin sagt, dass meine Mutter vermutlich keine Reha bekommt. Denn Reha gibt es nur, wenn Hoffnung auf Wiederherstellung besteht. Die besteht hier nicht. Hier hilft nur ein Wunder, was die Ärztin auch zum Ausdruck bringt. Mein Vater kann nicht mehr und geht weinend weg. Die Ärztin sagt, dass er noch nicht so weit ist, es zu akzeptieren, meine Mutter aber noch eine Zeit lang hier sein wird und er selbst entscheiden kann, ob er es akzeptiert. Sie fragt, ob es besser wäre, wenn sie nun geht. Ja, das wird das Beste sein. Ich sage ihr das auch und gehe zu meinem Vater, frage ob wir etwas rausgehen sollen. Er will zu meiner Mutter. Natürlich.

Meine Mutter hört Musik, mein Vater sucht nach Anzeichen, dass die Ärzte sich irren. Ich suche mit. Wir sagen ihr, dass sie kämpfen muss, versuchen muss etwas zu tun, aber sie kann nicht. Es wirkt zwischendurch zwar als würde sie uns verstehen, doch immer nur für einen kurzen Moment. Und ja, auch ich habe, so wie mein Vater, das Gefühl, dass sie uns etwas sagen will. Doch auch das haben die Ärzte ja ausgeschlossen. Zu lange war meine Mutter ohne Sauerstoff. Ratlos stehe ich am Bett meiner Mutter, die mittlerweile eingeschlafen ist. Ich beobachte, wie mein Vater versucht, sie zu Reaktionen zu bewegen. Was soll ich sagen? Er tut mir Leid. Ich würde ihm gerne helfen. Doch wie geht das?

Wie schrecklich muss es sein, wenn man plötzlich alleine dasteht und der geliebte Mensch mit dem Mann fast sein ganzes Leben verbracht hat, so vor einem liegt? Vielleicht ist es gut, dass ich nie heiraten wollte, eine dermaßen enge Beziehung nie eingegangen bin. Dieses Leid, dass meine Partnerin vor mir stirbt oder ein Pflegefall wird, möchte ich niemals erleben. Schlimm genug, dass ich meine Eltern in dieser Situation erleben muss.

Zwei der drei Säulen, die ich mein ganzes Leben hatte, sind nun weg. Um meinen Vater bin ich sehr besorgt. Vor fünf Jahren starb mein Onkel. Schon das war ein schwerer Schock, der ebenso plötzlich kam, wie das mit meiner Mutter. Sicherlich hätten beide gesünder Leben können, aber ich weiß auch, dass das nicht so einfach ist. Und letztlich ist der Tod nichts, was sich aufhalten lässt. Vielleicht kann man ein wenig am Zeitpunkt drehen, aber am Ende, da holt er dich ein.

Viele Dinge gehen mir durch den Kopf, die ich meine Mutter hätte noch sagen sollen, doch hatte ich 43 Jahre Zeit es zu tun, da sind solche Gedanken nun wenig hilfreich. Das einzige, was mich etwas trösten kann, ist die Tatsache, dass mir meine Mutter in den letzten Tagen vor dem Zwischenfall gelöst und glücklich erschien. Ich sehe ihr Lachen an meinem Geburtstag. Wie sehr hätte ich ihr gegönnt, dass sie von dieser schönen Zeit noch mehr gehabt hätte. Sie wirkte unbeschwert. Als wäre sie zufrieden mit sich und dem Leben. Es gab nicht viele Momente, die meine Mutter mir so entspannt vorkam. Oft wirkte sie unzufrieden. Ich bin auch oft Unzufrieden. Vielleicht eine Erbkrankheit. Wenige Stunden vor dem Zwischenfall hatten wir noch telefoniert. Auch da war sie gut gelaunt und wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Dann ging sie kegeln, hatte auch dort Spaß und fiel einfach um. Und ich frage mich, ob sie es nicht verdient gehabt hätte, dass es anders gekommen wäre als es gekommen ist. Am Schönsten wäre es, wenn sie keinen Hirnschaden erlitten hätte, das steht fest. Aber wenn das die einzige Alternative war, warum musste sie dann ins Leben zurückgeholt werden? Konnte ihr dieses Leid denn nicht erspart bleiben? Fragen auf die es nie eine Antwort geben wird, denn das Leben interessiert sich nicht dafür.

Was wird uns die Zukunft bringen? Wird mein Vater loslassen können, ohne daran zu zerbrechen? Welche Schwierigkeiten hat das Leben mit dieser Situation noch für uns parat? Und wird mein Vater eines Tages so weit darüber hinwegkommen, dass er sein Leben noch genießen kann?

Exakt neun Wochen nach dem Zwischenfall ist es so als wäre meine Mutter erneut zusammengebrochen. Doch dieser Kampf ist verloren, noch bevor er beginnt. Hier scheint es nichts zu kämpfen zu geben.

Es sind drückende 36 Grad und mir ist übel. Ich fühle mich in meiner Wohnung gefangen, das Leben ist nur eine einzige Qual. Ich kriege kaum genug Luft zum atmen und bin kurz vor einer Panikattacke. Und schon kommen die Bach Rescue Tropfen zum Einsatz. Irre und wirre Gedanken besetzen meinen Kopf. Meine Mutter ist 71. Sie hatte große Angst mit 69 zu sterben. Ihr Bruder und ihre Cousine starben mit 69. Die Cousine starb vermutlich qualvoll. Zumindest wirkte es von außen so. Das war vor vier Jahren. Vor zwei Jahren als meine Mutter 69 war, war sie besorgt. Ich bin immer davon ausgegangen, dass meine Mutter mindestens so alt wie ihre ältere Schwester wird. Ihre Schwester wurde 76. Oder 78. Selbst das weiß ich nicht. Solche Gedanken oder gar ein Plan, wie lange jemand noch zu leben hat, sind völlig sinnlos und meist weit an der Realität vorbei.

Jetzt fühle ich mich einsam. Ich würde gerne meine Freundin umarmen, sie einfach nur halten und mich beruhigen. Mein Vater ruft an und fragt, ob er vorbeikommen soll. Ich sage ihm, dass das nicht notwendig ist. Er geht dann zum Mann der Cousine meiner Mutter in den Garten. Gute Idee.

Ich telefoniere mit Agnes. Wir reden über das Gespräch mit der Ärztin und meine Mutter. Ich bin mehrfach kurz davor innerlich zusammenzubrechen. Aber durch Schweigen und ignorieren wird meine Mutter auch nicht gesund. Irgendwann muss man die Realität anerkennen. Und unsere Realität ist, dass meine Mutter ein Pflegefall ist. Nicht tot, aber auch nicht lebendig.

Nach dem Gespräch bin ich noch immer unruhig. Meine Wohnung erdrückt mich. Meine Gedanken ziehen mich runter. Noch mehr Rescue Tropfen, aber schnell. Ich muss hier raus.

Trotz der unangenehmen Hitze begebe ich mich auf einen Spaziergang. Mein Vater ruft an. Zum Glück hat er nur eine Frage, die nichts mit meiner Mutter zu tun hat. Er sitzt mit Helmut, so der Name des Mannes der Cousine meiner Mutter, im Garten. Ich sage, dass ich kurz vorbeikomme.

Ich war seit Jahren nicht mehr wirklich hier. Früher als ich klein war, waren wir oft hier. Und haben oft Ausflüge zusammen gemacht. Es war eine schöne Zeit, die aber unendlich weit weg erscheint. Heute fühle ich mich hier fremd. Es fehlen zu viele Leute, die früher einfach dazugehörten. Helmut ist 75 Jahre und irgendwie noch gar nicht so alt. Er will ständig mit seinem Cabrio fahren, immer etwas unternehmen und findet seinen 64jährigen Kumpel doof, weil dieser immer zu Hause abhängen will. Außerdem sucht er ständig nach einer Frau. Ich finde das für einen 75jährigen echt cool. Er scheint sich nicht ständig Gedanken über den Tod zu machen. Beneidenswert. Warum nur muss ich mir ständig um alles Gedanken machen?
Gegen 21.45 Uhr habe ich Hunger und bin müde. Zeit zu gehen. Mein Vater hat auch keine Lust mehr und bringt mich nach Hause. Er will noch etwas Fernsehen. Ich will auf den Balkon und dort auf Abkühlung warten.

Um halb zwölf bin ich total müde, nehme eine Schmerztablette, lege mich hin und schlafe sofort ein.

Tag 58
Der Tag danach. Mein Interesse an dem Tag ist gering. Warum sollte ich auch irgendein Interesse haben?

Meine Mutter gehört zu den Menschen, die zweimal sterben, aber keinen zweiten Geburtstag feiern werden. Sie ist am 07.06.2013 zum ersten Man gestorben. Zumindest ihr Geist, Ihre Fähigkeit zu kommunizieren und sich auszudrücken, vielleicht auch ihre Fähigkeit Dinge bewusst wahrzunehmen. Doch da die Medizin ihren Körper stabilisiert hat, lebt dieser weiter. Ob meine Mutter ihre Umwelt noch bewusst wahrnimmt oder ob sie nur noch funktioniert, ohne aber noch sie zu sein, dass weiß niemand. Sie befindet sich in einem rätselhaften Zustand. Nicht tot, aber auch nicht wirklich lebendig.

Dadurch, dass ich heute nicht ins Krankenhaus fahre, mich irgendwie beschäftige und vielleicht ein wenig verdränge, was mit meiner Mutter ist, geht es mir besser als gestern. Ich komme ohne meine Rescue Tropfen aus und hoffe, dass das so bleibt. Die Wahrheit, das Schicksal meiner Mutter, schwebt aber dennoch über allem. Das Leben ist grausam, egal von welcher Seite man es betrachten mag. Schlimm, dass man früher oder später stirbt, dass man Angehörige und Freude verliert und das man mit jedem Tag näher an sein Ende kommt. Krankheiten und Zustände, in dem meine Mutter sich jetzt befindet, runden das Grauen weiter ab. Das Leben ist nichts für Leute wie mich. Doch auch das kümmert das Leben einen Dreck. Und der Glaube an ein Leben nach dem Tod, ist doch für viele nur eine Art Schutz, um das Leben erträglicher zu machen und nicht daran zu verzweifeln. Auch ich denke oft, dass es doch nach dem Ableben auf dieser Erde nicht einfach vorbei sein kann, weil das doch keinen Sinn hat. Doch wer sagt, dass das Dasein einen Sinn haben muss? Der Mensch sucht doch nur nach einem Sinn im Leben, um es sich so irgendwie erträglicher zu gestalten. Denn das Leben hat am Ende immer nur den Sinn, den man ihm gibt. Und wenn man das nicht kann oder will, dann ist das Leben vollkommen sinnlos. Jeder entscheidet für sich, womit er besser leben kann und was er zum überleben braucht. Wobei es am Ende ja doch kein Überleben gibt. Ganz schön verrückt und grausam so ein Menschenleben.

Mein Vater ruft mich nach jedem Besuch meiner Mutter an. Fast immer sagt er auf die Frage, wie es war, dass meine Mutter ganz gut drauf war. So auch heute. Er erzählt, dass sie irgendwann ganz entspannt war, nachdem er ihr mehrfach gesagt hatte, dass sie entspannen soll. Dass er mit ihr trainiert, Hände und Füße nach seinen Vorgaben zu bewegen. Er glaubt daran, dass sie ihn versteht und macht, was er sagt. Das klingt gut. Aber er sagt auch, dass er meiner Mutter mehrfach sagen muss, was sie tun soll, bevor sie es tut. Dies wiederum kann natürlich bedeuten, dass sie nur zufällig tut, was er sagt, er es aber anders deutet. Er tut mir unendlich Leid, doch ich sage nichts dazu. Vielleicht hat er ja Recht und meine Mutter ist doch nicht verloren. Und wenn es nicht so ist, darf ich dann seine Hoffnungen und Wahrnehmungen kritisieren und anzweifeln? Und würde ich nicht genauso vorgehen? Werde ich nicht bei meinen Versuchen weiter ganz genau beobachten, ob da nicht doch noch Hoffnung besteht? Und werde ich nicht versuchen, meine Mutter zu irgendwelchen Reaktionen zu bewegen? Ich denke, dass ich all das tun werde. Auch wenn mein Glauben nicht so stark ist, wie sein Glauben. Ich werde sicherlich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht völlig aufgeben. Irgendwas in mir will noch an meine Mutter glauben auch wenn der Verstand weiß, dass es vermutlich nichts bringt und alle Anzeichen dagegen sprechen. Dieses Versuchen und Hoffen ist vermutlich eine ganz normale menschliche Reaktion. Und die Zeit wird es zeigen, wie lange wir daran festhalten. Vielleicht für immer. Vielleicht ist es für uns nur so zu ertragen. Denn die Gedanken daran, dass alles verloren ist, sind derzeit einfach zu zerstörend, um sie nicht ab und zu zur Seite zu schieben. Meine Mutter würde uns ja auch nicht aufgeben, wenn einer von uns dort liegen würde. Wir kennen die Realität, wissen, dass nur ein Wunder helfen kann. Doch wenn wir bei meiner Mutter sind, dann suchen wir nach diesem Wunder. Alles andere würde einfach zum jetzigen Zeitpunkt für uns keinen Sinn machen.

Tag 59
Der nächste Sommertag bricht an. Es ist Sonntag und ich beschließe, dass meine Besuchstage Montag, Mittwoch und Freitag sind. Ich weiß nicht, wann ich das wieder ändere, doch im Moment denke ich, dass es richtig ist.

Mein Vater berichtet mir am Abend von seinem Besuch. Er sagt, dass er mit meiner Mutter geübt hat. Sie war am Anfang verkrampft, doch später wieder lockerer. Ich weiß nicht, ob das Zufall ist oder ob es, wenn es nicht so ist, eine große Bedeutung für die Entwicklung meiner Mutter hat. Ich habe aber Angst, dass sich mein Vater da in etwas verrennt. Angst, dass er Dinge erkennt, die gar nicht da sind. Natürlich ist es wichtig, dass wir unsere begrenzten Möglichkeiten nutzen, um meiner Mutter zu helfen. Wir müssen nur aufpassen, dass es uns nicht wahnsinnig macht und wir am Ende völlig enttäuscht sind, weil es nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen. Aber Recht hat er, wir dürfen auch nicht aufgeben. Denn was bleibt, wenn die Hoffnung gestorben ist?

Tag 60
Zur üblichen Zeit am üblichen Ort. Meine Mutter schläft. Wir tragen auch weiter unsere Schutzkleidung. Da uns am Freitag gesagt wurde, dass die letzten beiden Stuhlproben meiner Mutter ohne Clostridien waren, fragen wir heute nach dem Ergebnis der letzten Untersuchung und sind überrascht. Die Stuhlprobe vom Freitag war ohne Clostridien. Nun ist die Stuhlprobe vom heutigen Tag entscheidend, da die letzten beiden Proben ja negativ waren. Ich bin verwirrt. Zwei Proben und die Probe vom Freitag ergibt also zwei. Hier scheint niemand wirklich zu wissen, was tatsächlich wahr ist. Früher nannte man so etwas Chaos. Heute ist das normal und gehört wahrscheinlich zum Qualitätsmanagement.

Ich nutze die Gelegenheit, um die Akte meiner Mutter anzuschauen. Unten steht in unleserlicher Schrift etwas zur Stuhlprobe vom Freitag. Ich kann erkennen, dass eine weitere Probe nötig ist. Ich bin mir nicht sicher, aber es sieht so aus als wäre die Probe vom Freitag positiv gewesen. Entweder jemand meint mit diesem positiv, dass alles gut war. Oder aber, was für mich logisch erscheint, die Stuhlprobe wurde positiv auf Clostridien getestet. Vielleicht ist das, was ich sehe, aber auch etwas ganz anderes. Und da hier Chaos herrscht, ist das vermutlich auch nicht von Bedeutung.

Meine Mutter wacht langsam auf. Und ich beobachte sie noch intensiver als sonst. Jede Bewegung, jede Reaktion, betrachte ich genau. Immer auf der Suche nach einer Reaktion, die eindeutig wiederlegt, dass meine Mutter ein hoffnungsloser Fall ist. Mein Vater tut dies ebenso. Unsere Auswertung der Reaktionen ist allerdings etwas unterschiedlich. Vielleicht haben wir aber auch andere Erwartungen und Ansprüche.
Ich denke schon, dass man davon ausgehen kann, dass meine Mutter uns und die Geschehnisse in ihrer Umgebung wahrnimmt. Aber ob sie uns wirklich erkennt, oder ob sie uns nur als irgendwen erkennt, vermag ich nicht zu beurteilen. Es gibt Momente, da wirkt es als würde sie sich konzentrieren, aber dann denke ich wieder, dass ich mir das nur einbilde. Mein Vater schafft es immer wieder, dass meine Mutter ihre Hand hochhält. Doch wenn er möchte, dass sie ihre Hand wieder ablegt, macht sie es erst, wenn er sie leicht runter drückt. Er sieht das als Zeichen, dass meine Mutter ihn versteht. Ich bin da skeptisch. Hätte sie es ohne seine Hilfe getan, wäre es etwas anderes, aber so erscheint auch das eher wie ein Reflex. Ob sich das mit viel Geduld ändert und sie irgendwann ohne Hilfe die Hand ablegt, kann ich nicht beurteilen.

Während ich meine Mutter intensiv beobachte, kommen mir Gedanken an behinderte Menschen. Und ich denke ganz plötzlich, dass meine Mutter geistig behindert ist. Sie ist meine Mutter, doch ob sie das weiß, weiß ich nicht. Ob sie noch irgendwas für mich empfindet? Kann sie überhaupt Gefühle dieser Art haben? Wie soll es weitergehen?

Es ist absolut nicht so, dass ich sie nicht mehr Liebe, dass ich denke, sie ist jetzt anders, also ist sie nicht meine Mutter. Es ist unmöglich mich soweit zu distanzieren, nichts mehr zu empfinden. Ich kann mich distanzieren, wenn ich nicht bei ihr bin, aber sobald ich hier bin, ist es meine Mutter. Das Wissen, dass nur ein Wunder helfen kann, ändert nichts an der Tatsache, dass der Wunsch und der Glaube, dass es nicht so bleibt, wie es jetzt ist, weiter bestehen. Von außen betrachtet ist das sicherlich schwer zu verstehen. Und ich glaube nicht, dass ich es von außen betrachtet verstehen würde. Weil ich einfach denke, dass es von außen betrachtet weder zu verstehen noch irgendwie nachzuempfinden ist. Es ist eine neue Situation entstanden. Und es gibt keine andere Wahl als sich dieser Situation zu stellen, sie anzunehmen und damit zu Leben. Die Option davonzulaufen gibt es vermutlich auch. Und ich will nicht behaupten, dass ich den Gedanken nicht auch ab und zu habe. Aber wohin sollte ich fliehen? Egal, wohin es mich führt, die Situation meiner Mutter ist unverändert. Das Leben, der Spieler, der Verantwortliche, hat so entschieden, ich habe es zu akzeptieren und einen Weg zu finden, damit zu leben.

Wir fragen die Pflegerin, ob es möglich ist, dass sie meiner Mutter zweimal täglich, die von uns mitgebachten Augentropfen geben kann. Sie sagt, dass sie dazu den Arzt befragen muss, es aber eigentlich kein Problem geben dürfte. Es handelt sich um Conisan A Augentropfen. Die Pflegerin, heute ist es übrigens eine kleine blonde, die sehr aktiv ist, sagt, dass, wenn der Arzt zustimmt, die Augentropfen dann auch immer vom Krankenhaus bestellt werden. Irgendwie kann ich das nicht glauben und bin skeptisch. Warten wir es ab.

Meine Mutter beobachtet manches, was um sie herum passiert scheinbar sehr genau. Manchmal erschreckt sie sich. Und an ihrem Gesichtsausdruck ist auch deutlich zu erkennen, wenn sie etwas nicht mag. Oder interpretiere ich da jetzt zu viel rein? Ist das überhaupt von Bedeutung, was ich denke zu sehen? Ich weiß es nicht.
Mein Vater setzt ihr den Kopfhörer auf. Sie scheint kurz überrascht und lauscht dann scheinbar konzentriert, was sie zu hören bekommt. Die Musik endet und ein Moderator spricht. Der Gesichtsausdruck meiner Mutter ändert sich. Ja, sie nimmt es wahr. Fasziniert beobachte ich sie und freue mich über diese kleinen sichtbaren Reaktionen. Und ja, verdammt, solche Reaktionen machen Hoffnung. Worauf genau, kann ich gar nicht sagen, aber sie machen Hoffnung und sie tun gut. Wir leben in einer völlig extremen Situation und solche Kleinigkeiten dürfen uns freuen, auch wenn es von Außenstehenden vermutlich belächelt und sicher nicht verstanden wird.

Tag 61
Mit mir war ja schon vor diesem Zwischenfall wenig los. Aber seitdem das mit meiner Mutter passiert ist, bin ich noch träger geworden. Das Wetter, das fast immer schön ist, bekomme ich nur am Rande mit. Meistens sitze ich träge in der Wohnung. Selbst auf den Balkon, um dort zu lesen, gehe ich viel zu selten. Vormittags zum Sport? Kein Interesse. Ich werde immer schlapper und mein Bauch immer runder. Es stört mich, aber anstatt etwas zu tun, esse ich einfach weniger. Essen war eh nie etwas, wofür ich mich begeistern konnte. Fünfmal in der Woche kocht mein Vater für mich. Das muss er nicht, zumal ich eh nur wenig bei ihm esse. Aber weil ich zu faul bin, mich selbst ums Essen zu kümmern, und weil ich denke, dass er sonst auch nichts essen würde, unternehme ich nichts dagegen. So muss ich kein Geld für Essen ausgeben und was noch wichtiger ist, mir keine Gedanken darüber machen. Mein normalerweise am Nachmittag traditionelles zweites Mittagessen, vergesse ich auch gerne. Weiß meist auch gar nicht, was ich essen sollte. Essen ist lästig. Spaziergänge fallen auch aus. Ich sitze lieber lethargisch in der Wohnung und warte auf den nächsten Tag. Und auf den nächsten und nächsten und nächsten. Und es scheint so als hätte ich für alles einen guten Grund. Die Situation ist Schuld. Nur an mir liegt es nicht. Auch dass ich es ziemlich reduziert habe, mal mit irgendwem etwas zu unternehmen, oder jemanden zu besuchen, liegt nicht an mir. Ich lehne mich faul zurück und nehme die Situation scheinbar dankend an, um mich mehr und mehr zurückzuziehen. Die Antriebslosigkeit hat sich über mich gelegt wie eine kuschelig weiche Decke. Und ich habe nicht das Bedürfnis diese Decke abzuwerfen.

Während mein Vater im Krankenhaus ist, versuche ich herauszufinden, was auf uns zukommt, wenn meine Mutter ins Pflegeheim kommt. Ich finde zwar verschiedene Angaben, aber die grobe Richtung ist unschwer zu erkennen. Mein Vater wird wohl von seiner Rente lediglich eine Summe zwischen 700 und 800 Euro behalten dürfen. Er liegt dann finanziell etwa auf meinem Niveau. Als hätte er nie gearbeitet. Da die Wohnung in der ich lebe meiner Mutter gehört, muss ich ausziehen und mein Vater hier einziehen, sonst ist die Wohnung futsch. Als einfacher Durchschnittsbürger musst Du nicht nur das Schicksal der Ehepartnerin ertragen, Du steuerst auch direkt in den finanziellen Ruin. Sollte meinem Vater etwas zustoßen, dann ist die Wohnung wohl komplett weg. Das ist dann doppelt tragisch, da ich damals diese Wohnung von meinem Onkel übernommen habe, die Restschuld bezahlt habe und sie meiner Mutter überschrieb, damit ein Elternteil hier wohnen kann, wenn der andere mal stirbt. Was passiert, wenn einer ein Pflegefall wird, hatte ich nicht bedacht. Und so werde ich am Ende die Wohnung verlieren, die für mein Alter vorgesehen war. Das ist bitter.
Weil ich nun zwar in etwa weiß, was auf uns zukommt, aber mehr Details brauche, werden wir demnächst zu einer Rechtsberatung gehen müssen. Danach wissen wir vielleicht wirklich dann Bescheid.

Mit diesen Informationen ist der Tag endgültig versaut. Ich frage mich, wie das alles weitergehen soll. Dieser ganze Mist wird uns völlig ruinieren. Nicht nur finanziell. Ich merke, dass meine depressiven Verstimmungen mehr und mehr Besitz von mir ergreifen. Appetitlosigkeit und Lustlosigkeit immer größer werden. Ich mag nicht mehr. Wo ist die Tür? Ich will aussteigen.

„Mutter war ganz gut drauf heute, eigentlich.“ Mit diesen Worten antwortet mein Vater auf die Frage, wie es im Krankenhaus war. Es ist fast immer dieser Satz, den ich nach meiner Frage zu hören bekomme. Und jeden Tag macht es mich mehr fertig, ihn zu hören. Denn anschließend folgt eine Zusammenfassung des Besuchs, die sich immer sehr ähnelt. Mein Vater redet viel mit meiner Mutter, trainiert etwas und erreicht, dass meine Mutter zwischenzeitlich ihre Hände und Füße weniger verkrampft. Wie lange noch wird ihm das reichen, bevor er daran zerbricht und aufgibt? Warum schmeißen wir nicht einfach alles hin? Was hält uns am Leben? Und wozu? Es hat doch alles sowieso keinen Sinn mehr. Für keinen von uns.

Tag 62
Ich schlafe schlecht in der Nacht. Mir ist schlecht, ich bin leer, mag nicht im Bett liegen, mag nicht schlafen. Wenn das so weiter geht, dann muss ich vielleicht wieder eine Therapie machen. Ich kann mir gerade absolut nicht vorstellen, dass ich alleine aus diesem Loch herauskomme. Ich glaube auch nicht, dass ich da wieder heraus will. Ich will mich in dem Leid suhlen, ich mag nicht kämpfen. Dieser ständige Kampf des Lebens hat mich schon früher oft zermürbt. Jetzt reicht es mir. Ich sehe keine adäquate Zukunft mehr. Es ist alles endgültig verloren seit dem 07. Juni 2013. Ich wollte es nur nicht erkennen. Jetzt, da ich es endlich sehe, möchte ich aussteigen. Einfach aussteigen.

Ich rufe im Pflegstützpunkt an, um mich grob über die Kosten zu informieren, die es mit sich bringen wird, wenn meine Mutter in ein Pflegheim kommt. Meinem Vater bleiben etwa 750 Euro plus angemessener Mietkosten von seiner Rente übrig. Da ich die Wohnung bewohne, wird sie weg sein. Es sei denn, wir können glaubhaft versichern, dass die Wohnung dafür vorgesehen ist, dass der überlebende Partner, später dort einziehen sollte und die Wohnung nur deshalb angeschafft wurde. Ich weiß nicht, ob wir das können. Ich weiß gar nichts.

Mittags rede ich mit meinem Vater darüber, dass uns die Wohnung, wenn er nicht dort einzieht, weggenommen wird. Er sagt, dass er nicht ausziehen kann, weil meine Mutter ja irgendwann wieder kommt und dann alle ihre Sachen weg wären. Ich denke, ich muss akzeptieren, dass er so denkt. Und ich kann ihn sogar irgendwie verstehen. Die Wohnung zu verlassen würde nur verdeutlichen, dass meine Mutter vermutlich nie wieder zurück kommt. Dazu ist er nicht bereit. Das ist okay für mich.

Später rufe ich die Dame vom sozialen Dienst des Knappschaftskrankenhauses an, um sie nach den weiteren Abläufen zu fragen. Auf mich macht sie einen freundlichen Eindruck. Zunächst erzählt sie mir von dem Gespräch, welches sie vor einigen Tagen mit meinem Vater hatte. Er war, wie sie sagt, sehr aufgebracht und hat mit der Presse gedroht, sollte meine Mutter keine Reha bekommen. Er versucht alles, was er kann, um meine Mutter wiederzubekommen. Irgendwie können wir beide ihn verstehen.
Sie Frau vom sozialen Dienst sagt weiter, dass sie neben dem Antrag auf Reha auch einen Antrag auf eine Pflegestufe gestellt hat. Die Reha wird wahrscheinlich abgelehnt, dann will das Krankenhaus meine Mutter loswerden und sie wird einen Antrag auf ein Pflegeheim in Gahmen stellen. Dort ist es wohl nicht ganz so teuer. Was nicht ganz so teuer zu bedeuten hat, frage ich besser nicht. In der nächsten Woche wird vermutlich über die Reha entschieden sein. Dann ruft sie mich an, um einen Termin mit mir und meinem Vater zu vereinbaren. Wieder ein Gespräch, welches die schreckliche Situation meiner Mutter bestätigt.
Kaum ist das Gespräch vorbei, brauche ich meine Rescue Tropfen. Mir ist schlecht. Ich bin überfordert. Die Gedanken drehen sich im Kreis und ich beschließe, dass ich meine Wohnung aufgebe. Ich wohne noch so lange hier bis wir quasi enteignet werden, dann suche ich mir irgendwo anders eine kleine Wohnung. Der Traum vom Eigentum ist nach vier Jahren ausgeträumt.
Die Wohnung war vermutlich eh verflucht, seit mein Onkel vor fünf Jahren vor der Wohnungstür umfiel und verstarb. Es folgte ein dummer Erbstreit, der ein Jahr dauerte. Die übrigen Geschwister waren danach zerstritten. Da die Wohnung noch nicht komplett abgezahlt war und niemand bereit war die Wohnung abzuzahlen und scheinbar niemand ein echtes Interesse an der Wohnung besaß, kaufte ich sie mit meinem Ersparten und überschrieb sie meiner Mutter. Mit der Miete, die ich an sie zahlte, wollte ich sie für all die Jahre, die ich auf ihre Kosten lebte, etwas entschädigen. Natürlich steckte sie mir fortan noch mehr zu, so dass ich meine „Schulden“ nie abzahlen konnte. Nun entpuppt sich die Idee als doppelt blöd. Ich verliere neben meiner Mutter auch meine Wohnung. Vielleicht sollte es einfach nicht sein.

Vor dem Besuch bei meiner Mutter, erzähle ich meinem Vater von dem Gespräch. Als ich ihm sage, dass Mutter nach Lünen-Gahmen soll, ist er zunächst geschockt. Er hatte gehofft, dass sie bei uns im Ort einen Platz finden wird. Ich sage ihm, dass nicht alle Pflegeheime Patienten, die einen Beatmungsschlauch haben, aufnehmen können. Ich denke, damit ist Gahmen zunächst einmal akzeptiert. Ob es am Ende auch so kommen wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt eh niemand sagen.

Später im Krankenhaus müssen wir weiter Schutzkleidung tragen. Ob meine Mutter noch Clostridien hat, erfahren wir nicht. Mein Vater übt mit meiner Mutter. Er hebt ihre Hand, sie hält sie oben und er ist zufrieden. Sie soll die Hand senken. Nichts passiert. Er drückt die Hand herunter, meine Mutter lässt sie unten und er sagt, dass sie Fortschritte macht. So ähnlich geht es immer weiter. Ich beobachte es und bin total schockiert und ratlos. Er ist absolut überzeugt davon, dass meine Mutter gut mitmacht. Er wird niemals aufgeben, so sieht es jedenfalls aus. Wenn meine Mutter etwas verstanden hat, soll sie die Hand heben. Er hebt ihre Hand und weist mich darauf hin, dass sie verstanden hat. Ich sage nichts. Als er einmal irgendwas sagt, sie ihre Hand einfach hebt, sagt er, dass sie verstanden hat und ist zufrieden. Aber er sagte nichts, worauf sie hätte reagieren sollen. Sie hob einfach ihre Hand, so wie sie es öfter tut.
Natürlich habe auch ich oft das Gefühl, dass ihr etwas nicht gefällt, das sie sich erschreckt, aber ich kann nicht erkennen, dass sie mich bewusst wahrnimmt. Sicherlich gibt es immer wieder Reaktionen auf Aktionen, doch viel zu oft, gibt es diese eben nicht.
Mein Vater weint viel, während er bei meiner Mutter ist. Ich verstehe das. Der Druck, der auf ihm lastet, muss unendlich sein. Wie immer stehe ich einfach nur ratlos daneben. Immer wieder weist er mich darauf hin, dass meine Mutter verstanden hat. Ich wünsche mir so sehr, dass er Recht hat. Doch leider glaube ich es nicht. Meine Mutter wird in ein Pflegeheim kommen. Und sollte es irgendwann ein Wunder geben, spielt es keine Rolle, wo es stattfindet. Aber er muss irgendwann akzeptieren, dass nicht zwangsläufig alles gut werden muss.

Abends gehe ich mit meinem Vater spazieren. Er erzählt mir, dass meine Mutter aus seiner Sicht heute anders war. Ihre Augen haben nicht gezuckt. Dieses Zucken hatte er schon mal erwähnt, ich habe es allerdings nie bemerkt. Außerdem, so ist er ganz sicher, hat meine Mutter mich heute intensiver als sonst gemustert. Ich weiß es nicht. Er ist täglich da und kann das besser beurteilen. Und selbst, wenn es so ist, muss es noch lange nicht bedeuten, dass meine Mutter sich auf dem Wege der geistigen Erholung befindet. Ich habe Angst davor, wie enttäuscht mein Vater sein wird, wenn er eines Tages erkennen muss, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Ich will das alles eigentlich gar nicht erleben. Ich würde gerne etwas Stärkeres einnehmen, um die Situation für mich erträglicher zu machen. Agnes muss davon ja nichts erfahren.

Tag 63
Ich weiß gar nicht genau, was mich mehr deprimiert. Die Tatsache, dass ich die Wohnung verliere oder die Tatsache, dass ich umziehen muss. Ich glaube aber, die Tatsache, dass ich bald umziehen muss, macht mich mehr fertig. Der gestrige Besuch bei meiner Mutter wirkt auch nach. Sie wirkte manchmal so aufmerksam, dann wieder so weit weg. Die Intensität des Besuches ist nicht zu beschreiben. Und so ist es vermutlich wenig verwunderlich, dass ich auch in dieser Nacht nicht besonders gut schlafe und immer wieder aufwache. Ich träume sogar von meiner Mutter, wie sie plötzlich reden will, wie sie kämpft, um aus ihrem Zustand herauszukommen. Ich wache auf. Magenschmerzen.
Der Rest der Nacht ist alles andere als erholsam. Einschlafen, aufwache, einschlafen, aufwachen. Das ist nicht schön. Die Ungewissheit, wie schnell wir die Wohnung verlieren, wie mein Vater den Umzug meiner Mutter in ein Pflegeheim verkraftet und die Frage, wie das alles für meine Mutter sein muss, lassen mich angespannt und aufgekratzt hier liegen. Ich will doch nur zur Ruhe kommen. Doch Ruhe ist erst mal nicht in Sicht. Vielleicht wird es besser, wenn ich eine andere Wohnung gefunden habe und meine Mutter im Pflegeheim gut untergebracht ist. Der Gedanke, dass die Wohnung bald irgendwem anders gehört, und ich mangels Alternativen, doch hier wohnen bleibe und jemandem dann Miete für diese Wohnung, die eigentlich mir gehört, bezahle, finde ich erschreckend. Und nach langer Zeit habe ich wieder intensive Gedanken, nicht mehr leben zu wollen. Mir wird das alles zu viel.

Kaum bin ich wach, nehme ich Calmvalera. Ich habe Sodbrennen. Das hatte ich nun schon längere Zeit nicht mehr. Ich glaube, der Stress und der kommende Verlust der Wohnung, werden mich auch in nächster Zeit noch arg beuteln. Wenn das so weiter geht, brauche ich mindestens Diazepam.

Im Büro geht es einigermaßen. Doch kaum zu Hause angekommen, finde ich alles nur noch übler.
Später besucht mich mein Vater. Er bringt das Navy mit, dass ich ihm bestellt und heute Morgen gebracht habe. Er sagt, dass er es nicht braucht und schenkt es mir. Ich kann es ihm ja leihen, wenn er es mal braucht. Mir ist das peinlich. Das Navy kostet fast 200 Euro und wenn ich gewusst hätte, dass es für mich ist, hätte ich sicher kein so teures gekauft. Mein Vater sagt, dass meine Mutter mir immer ein Navy schenken wollte. Nun ist ihr Wunsch erfüllt. Das rührt mich und macht mich traurig. Ich kann nichts sagen, sonst müsste ich weinen.

Wir reden kurz über meine Mutter, die heute wieder ganz gut drauf war. Ich sage, dass wir nicht wissen können, ob sie uns erkennt oder ob alle Reaktionen unbewusst passieren und sie uns nicht erkennt. Ich sehe, wie mein Vater mit den Tränen zu kämpfen hat. Das möchte ich nicht und so reden wir nicht weiter darüber.
Mein Vater sagt, dass er zu Hause noch ganz viel für mich zu essen hat. Ich sage ihm, dass ich noch genug dahabe. Er macht sich Sorgen, dass ich nicht genug esse. Ich esse nicht genug, aber das liegt nicht daran, dass ich nicht genug zum Essen dahätte. Ich habe nur keine Lust etwas zu essen. Mir tut das alles nur noch Leid. Meine Mutter, mein Vater. Das haben sie nicht verdient. Und ich kann nur hilflos zusehen, wie es meinen Vater quält und kann doch nichts tun. Und nichts tun zu können ist für mich sowieso nur schwer zu ertragen. Ich will Dinge regeln, Situationen klären. Doch hier kann ich nichts klären, kann ich nichts tun. Ich muss es einfach geschehen lassen und meinem Vater die Zeit geben, die r braucht, um besser mit der verfluchten Situation umgehen zu können. Ich habe Angst, dass er an der Situation zerbricht. Ich würde stattdessen lieber daran zerbrechen. Ihm den Rest meiner Kraft und Energie übertragen und dann irgendwann wieder etwas unbesorgter schlafen.

Ich spüre, wie meine Kräfte schwinden. So sehr ich versuche, alles sachlich zu betrachten, Gefühle nicht über mich hereinbrechen zu lassen, so sehr zerrt es an meinen Kräften. Ich lebe wie in einer Blase, die bald zerplatzen wird. Und dann?

Tag 64
Es ist nicht so, dass ich nur schlecht schlafe, ich wache mittlerweile auch jeden Morgen mit Magenschmerzen auf. Dazu kommt, dass ich schon seit fast zwei Wochen nicht mehr genug esse. Es fällt mir schwer, ausreichend zu entspannen. Die Antriebslosigkeit breitet sich weiter aus. Hoffnungslosigkeit ist mehr und mehr zugegen.

Wenn ich mir vor Augen führe, wie es meinem Vater geht, die beschissene und unerklärliche Situation meiner Mutter betrachte, die ungeklärte Wohn- und finanzielle Situation betrachte, desto mehr muss ich mit den Tränen kämpfen. Es ist in der Tat so als würde alles verloren sein. Es scheint so als ginge es nur noch in eine Richtung bis es gar nicht mehr weiter geht. Es gibt kein Licht am Ende dieses Tunnels. Vielleicht gibt es auch gar kein Licht mehr. Die unerbittliche Grausamkeit des Lebens hat uns voll erwischt.

Meine Mutter liegt in einem anderen Zimmer. Die Zeit der Schutzkleidung ist vorbei. Im neuen Zimmer liegt noch ein Mann. Statt des kleinen eigenen Fernsehers gibt es einen großen Fernseher im Zimmer. Und leider kein Radio mehr. Da müssen wir bis Morgen Abhilfe schaffen. Meine Mutter wirkt abwesend und genervt. Auch unser Besuch scheint keine Veränderung zu bringen. Sie zeigt die bekannten Reaktionen. Mehr leider nicht und leider auch nicht immer, wenn man versucht mit Ihr in Kontakt zu treten.

Die Krönung ist aber die Pflegerin, die heute für dieses Zimmer zuständig ist. Es ist unsere Lieblingsschwester. Wobei ich gar nicht weiß, ob mein Vater das noch weiß und einen solchen Groll gegen die kalte Dame hegt, wie ich es tue. Ich glaube auch nicht, dass sie mir sympathisch wäre, wenn sie uns damals nicht auf ihre Art mit Informationen versorgt hätte, die sie gar nicht hätte verbreiten dürfen. Ihre Sonnen(bank)gebräunte Haut und ihre Falten passen für mich prima zusammen. Ich schätze sie ist über 50 Jahre alt. Mitleid habe ich dennoch nicht für sie. Ihre Anwesenheit löst Unbehagen aus. Auch wenn sie heute auf den ersten Blich freundlich und verständnisvoll erscheint, ist sie für mich ein rotes Tuch und eine falsche Schlange. Immer, wenn sie im Zimmer ist und sich uns nähert, fühle ich mich unwohl. Nein, diese Frau werde ich niemals mögen. Egal, wie freundlich sie auch tut. Ich weiß, dass sie sich für ganz toll hält und ich mag solche Menschen nicht. Habe ich nie gemocht.

Meiner Mutter erzähle ich vom Navy und dass ihr neues Zimmer den Vorteil bietet, dass sie, weil sich das Zimmer am Anfang der Station befindet, so alles mitbekommt, was es zu sehen gibt. Einen Augenblick scheint es als würde sie genau verstehen, was ich sage. Dann bin ich mir wieder unsicher. Nein, das ist alles nicht zu begreifen. Meine Mutter ist da und auch wieder nicht. Und selbst, wenn sie nicht da ist, sie bleibt meine Mutter.
Da meine Mutter schon nach kurzer Zeit einschläft, scheinbar erneut schlecht träumt, bleibe ich nur bis kurz vor vier. Ich fühle mich schlecht, weil ich so früh gehe.

Tag 65
In der Nacht schlafe ich zunächst ganz gut. Dann wache ich irgendwann auf und kann fortan nicht mehr schlafen. Daran muss ich mich wohl gewöhnen. An das Unbegreifliche der Gesamtsituation wohl auch. Doch heute tue ich mich schwerer als sonst damit. Ich will, dass diese Situation sich auflöst. Die Kräfte sind verbraucht. Meine Mutter und wir haben nun genug gelitten. Wieso hat der Spieler kein Erbarmen mit uns?
Für mich scheint es derzeit nur zwei akzeptable Lösungen zu geben. Entweder wacht meine Mutter und alles ist wieder gut. Oder ich wache nicht mehr auf, dann ist wenigstens für mich alles gut. Aber das kann ich meinem Vater nicht antun, also muss meine Mutter unverzüglich aufwachen, damit wieder alles gut sein kann.

Ich erinnere mich, dass ich auch in dieser Nacht davon geträumt habe, dass meine Mutter plötzlich wieder sprechen kann. Ich weiß noch, wie sehr mir das im Traum gefiel. Dann kommt aber immer der Moment, in dem mir bewusst wird, dass es nur ein Traum war. Und von dem Moment an, fühlt es sich nur noch beschissen an. Kann ich nicht einfach in der Traumwelt weiterleben? Können wir das nicht alle?

Am Vormittag kaufen wir ein Radio und einen Ball für meine Mutter. Beim Mittagessen reden wir darüber, was mir machen, wenn die Reha abgelehnt wird. Obwohl es wenig Aussicht auf Erfolg hat, wollen wir Widerspruch einlegen, um so etwas Zeit zu gewinnen. Das Gespräch verläuft ganz ruhig. Mein Vater dreht sich um, um weiter zu spülen. Kaum ist er an der Spüle, wirft er den Putzlappen weg, sagt Scheiße und verschwindet völlig aufgelöst im Bad. Ratlos bleibe ich in der Küche zurück. Als er später zurück ist, sage ich ihm, dass wir alles tun, was wir tun können. Was anderes fällt mir nicht ein.

Später suche ich das Pflegheim, welches die Sozialarbeiterin uns vorgeschlagen hat, im Internet. Es soll ja im Gegensatz zu anderen Pflegeheimen günstig sein. Ich finde nur ein Pflegeheim, weiß aber nicht, ob es das richtige ist. Fast 4000 Euro im Monat für den Aufenthalt dort, sind für mich zwar nicht wenig, aber was weiß ich schon? Der Eigenanteil liegt nur knapp über 2400 Euro. Ich frage mich, wer so etwas bezahlen soll. Mein Vater kann das sicher nicht. Er hat jahrelang gearbeitet, nur um schon bald wie ein ALG II-Empfänger da zu stehen. Das nenne ich glücklichen Lebensabend. Frau ein Pflegefall, finanziell ruiniert. Ich werde nicht heiraten. Andererseits gehe ich nicht arbeiten und habe nichts gespart. Bei mir gäbe es nie etwas zu holen. Und wird es auch nie geben. Ich wüsste nämlich nicht einen Grund, der dafür spricht, mein Leben mit Arbeit zu versauen. Am Ende bleibt doch eh nichts übrig.

Und so wird es vielleicht nicht mehr lange dauern, bis ich mir eine neue Bleibe suchen muss. Nein, derzeit gibt es einfach gar nichts, was den Blick in die Zukunft lohnt.

Vielleicht wäre es besser, wenn man zu seinen Eltern und auch sonst zu niemandem eine Bindung einginge. Dann bliebe einem so etwas erspart. Man stirbt vermutlich ein paar Jahre früher, aber das interessiert ja dann auch keinen.

Tag 66
Der Wecker, der mich täglich um 08.00 Uhr weckt, damit ich nicht den ganzen Vormittag im Bett bleibe, geht mir mehr und mehr auf die Nerven. Ebenso, wie mein schlechter Schlaf.

Agnes ist auch alles andere als zufrieden mit mir und meinem Verhalten. Sie sagt, dass sie gar nicht mehr an mich rankommt und ich mich immer mehr entferne. Und doch ist sie mein einziger Grund, nicht völlig abzudriften. Mein Versprechen, kein Diazepam und Co. Zu nehmen, ist tatsächlich der einzige Grund, dass ich es bisher nicht getan habe. Und das, obwohl es Momente gibt, in denen es mir unglaublich schwer fällt, dieses Versprechen einzuhalten.

Normalerweise wollte ich heute zum Training. Regelmäßig wollte ich nun wieder trainieren. Doch daraus wird nichts. Mein Vater hat gestern einen Brief von der Knappschaft erhalten. Wir müssen irgendwas ausfüllen. Und weil mein Vater wollte, dass wir es heute Morgen tun, verzichte ich darauf zu trainieren und werde nachher zu ihm gehen, um zu schauen, was die Knappschaft von uns will und natürlich, um alles auszufüllen. Hoffentlich ist es nichts, was uns noch weiter demotiviert.

Mein Vater ruft an. Er sagt mir, dass es in dem Brief von der Krankenkasse um die Verlegung ins Pflegeheim geht. Von der Reha steht da nichts. Er sagt, dass er eine Ablehnung der Reha nicht akzeptieren wird. Es gibt ein Verfahren, irgendwas mit Nervenstimulation, welches bisher nicht bei meiner Mutter angewendet wurde. Er besteht darauf, dass das noch gemacht wird, bevor sie in ein Pflegeheim abgeschoben wird. Nun ist es meine Aufgabe herauszufinden, was für ein Verfahren er meint und ob das überhaupt im Falle meiner Mutter angewendet werden kann. Obwohl ich nicht weiß, was genau ich suche, mache ich mich auf die Suche.
Integrale Neurorehabilitation nennt sich etwas, was dem, was ich suche, entsprechen könnte. Da ich nicht wirklich etwas Verwertbares finde, gehe ich zu meinem Vater. Das Schreiben, welches wir ausfüllen sollen, entpuppt sich als Standardschreiben, welches die Krankenkasse verschickt, wenn ein Antrag auf Pflegestufe gestellt wurde. Hat also nichts mit der Reha zu tun. Da meine Mutter dieses Schreiben ausfüllen soll, kann ich jetzt nichts tun und werde morgen bei der Krankenkasse anrufen, um das zu klären.
Mein Vater sagt, dass eine Pflegerin ihm sagte, dass in der Klinik in Hagen irgendeine Elektrostimulation durchgeführt wird, wenn man dort zur Reha kommt. Er will, dass das gemacht wird und notfalls mit einem Anwalt erreichen, dass meine Mutter diese Behandlung bekommt. Nun gilt es für mich herauszufinden, was für eine Behandlung das überhaupt ist.

Während ich wieder über den Erhalt der Wohnung nachdenke, kommt mir die Idee, die Schenkung rückgängig zu machen. Ich stelle mir vor, dass das geht. Aber ob das wirklich geht, weiß ich nicht. Und so werde ich wohl einen Termin bei dem Anwalt machen müssen, mit dem wir schon damals diese Wohnungsangelegenheiten geregelt haben. Vielleicht ist er meine letzte Hoffnung aus dieser hoffnungslosen Wohnungslage herauszukommen.

Meine Mutter zu besuchen, fällt mir nicht leicht. Auf der einen Seite freue ich mich, wenn sie auf mich reagiert und mich ansieht, dann aber frage ich mich, wie bewusst ihr ihre Lage wohl ist und wie sehr sie darunter leidet. Manchmal wirkt sie, als wolle sie uns was sagen. Manchmal macht sie kleine Gesten, die sie früher auch schon machte. Mit früher meine ich vor dem Vorfall. Wenn sie unzufrieden ist, dann sieht man es ihr an. Freude, sollte sie welche empfinden, sieht man ihr leider nicht an. Jede kleine, wenn auch vermutlich zufällige, Reaktion auf uns, freut uns. Da spielt es keine Rolle, zu wissen, dass das vermutlich nichts zu bedeuten hat.
Die blonde Pflegerin, die heute zuständig ist, vermittelt mir ein gutes Gefühl. Das macht es doch leichter als wenn diese komische Person von vorgestern heute noch hier wäre.
Zwischendurch hat meine Mutter Schluckprobleme, ausgelöst durch Schleim und diese Zugang im Hals. Sie sieht dann sehr verzweifelt aus und tut mir sehr leid. Ich hole eine Pflegerin, die den Schleim absaugt. Dann geht es wieder. Wie sehr muss meine Mutter es hassen, dass all diese Dinge mit ihr angestellt werden? Es ist ihr anzusehen, aber nicht zu vermeiden. Und das soll jetzt ihr Leben sein. Immer wieder unvorstellbar, doch leider auch die scheinbar einzige Wahrheit.

Weil das Radio welches wir für sie gekauft haben, keinen Empfang im Krankenhaus hat, werde ich es morgen umtauschen und einen CD-Player oder ein MP3-Abspielgerät besorgen. Musik schien meiner Mutter zu gefallen. Also muss sie Musik bekommen. Ich nehme vorsorglich schon mal deutsche Schlager auf einem USB-Stick auf.

Tag 67
Auch heute bin ich wenig motiviert aufzustehen. Ich sehe meine Mutter, wie sie so daliegt, empfinde Trauer, Wut und Mitleid. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird bis mich der Zustand meiner Mutter nicht mehr so stört. Sicherlich kann ich es immer wieder verdrängen, doch sobald es mir wieder wirklich bewusst wird, ist es nur noch grausam. Das ist meine Mutter, was soll denn das?

Heute muss ich mich um einige Dinge kümmern. Anrufe bei der Krankenkasse und beim Anwalt, Radio umtauschen, Wohnung putzen und dann kommt auch schon Agnes. Ich hoffe, dass ihre Anwesenheit mich entspannt und ich etwas aus meinem Hamsterrad rauskomme.

Der Anruf beim Anwalt bringt nicht die erhofften Antworten. Die Schenkung der Wohnung kann nicht rückgängig gemacht werden. Ich erkläre dem Anwalt die ganze Situation und das uns dann die Wohnung weggenommen wird. Er sagt, dass es ein Märchen sei, dass so etwas passiert. So leicht ist das nicht. Und außerdem ist die Wohnung vermietet, das bringt ja zusätzlich Geld. Ich sage ihm, dass genau dies das Problem sei und die Wohnung nur behalten werden darf, wenn mein Vater darin wohnt. Er wiederholt, dass das Quatsch sein und die Wohnung so leicht gar nicht weggenommen werden kann. Ich glaube ihm zwar nicht, aber das ändert nichts daran, dass ich diesen Plan nun verwerfen darf. Nach dem Gespräch bin ich dennoch etwas optimistischer. Der Mensch glaubt, was er glauben will. Obwohl ich nicht wirklich sicher bin, dass der Anwalt Recht hat. Aber zu ändern ist es eh nicht.

Am Abend ruft mich mein Vater an. Er hat mit der Ärztin, die uns an unserem schwarzen Freitag erzählt hat, dass meine Mutter verloren ist, gesprochen. Zu ihrer Überraschung wurde die Reha wohl genehmigt. Statt vor Freude fröhlich zu sein, bin ich völlig irritiert. Damit hatte ich gar nicht mehr gerechnet. Außer meinem Vater hat damit scheinbar niemand gerechnet. Und so keimt plötzlich wieder Hoffnung auf. Und das nachdem schon alles verloren schien.

Tag 68
Zum ersten Mal seit Tagen schlafe mehr als acht Stunden. Die Anwesenheit von Agnes entspannt mich doch sehr. Und vielleicht spielt die Genehmigung der Reha auch eine Rolle.

Den Tag verbringe ich ganz ohne Krankenhaus. Nachmittags entspannen in der Salzgrotte, abends im Kino. Einfach mal raus aus meinem Trott. Das tut mir gut.

Vor dem Kino besuchen wir kurz bei meinen Vater. Er sagt, dass das Pflegepersonal im Krankenhaus ebenfalls überrascht ist, dass meine Mutter die Reha bekommt. So viele überraschte Menschen. Ich frage mich, wie es nach den miesen Prognosen sein kann, dass die Reha genehmigt wurde. Will der Spieler uns etwas Luft verschaffen? Will er uns Hoffnung machen, um diese dann zu zerstören? Was ist hier los?
Mein Vater ist natürlich weiter, nun vermutlich sogar noch mehr, voller Zuversicht. Das freut mich auf der einen Seite natürlich sehr, auf der anderen Seite macht es mir Angst. Denn je mehr Hoffnung man hat, desto tiefer wird der Fall, wenn diese Hoffnung sich nicht erfüllt. Meine Mutter war, so sagt mein Vater, heute wieder ganz gut drauf.

Tag 69
Noch ein Tag Pause. Noch ein Tag mit Agnes und ohne Krankenhausbesuch. Mein Vater ruft an. Er hat einen Anruf von der Krankenkasse bekommen. Die Reha ist nun offiziell genehmigt. Mein Vater muss Geduld haben, weil es lange dauern kann. Ich bin mir nicht sicher, ob die Frau mit lange dauern gemeint hat, dass es lange dauern kann, bis es meiner Mutter besser geht oder ob es lange dauern kann, bis ein Platz zur Reha frei wird. Mein Vater ist sicher, dass die Frau von der Krankenkasse sagte, dass es lange dauern kann bis es meiner Mutter besser geht. Ich hoffe, dass er Recht behält.

Abends erzählt er mir vom Besuch bei meiner Mutter. Sie war wieder gut drauf, hat heute ihre Arme mehr bewegt und war zu Scherzen aufgelegt. Das klingt gut, aber auch etwas unglaublich. Interessanterweise hat eine Pflegerin auch erkannt, dass sich bei meiner Mutter etwas tut. Ganz deutlich will sie erkannt haben, dass es Veränderungen zum Positiven gibt. Ob das stimmt, sie das nur sagt, um meinen Vater aufzubauen oder ob es daran liegt, dass die genehmigte Reha nun bedeutet, dass das Pflegepersonal optimistisch ist oder wenigstens so tun muss als wäre es optimistisch, kann ich nicht sagen. Ausschließen kann ich keine der Möglichkeiten.

Ich hoffe einfach nur, dass mein Vater Recht behält und es tatsächlich endlich in eine Richtung geht, die dafür sorgen wird, dass es am Ende ganz anders kommt als von den meisten, die an der Genesung und Pflege meiner Mutter beteiligt sind, gesagt haben. Mögen all die miesen Pessimisten, die uns das Leben immer wieder extra schwer gemacht haben, Lügen gestraft werden und in Zukunft ihre dummen Schandmäuler geschlossen halten.

Tag 70
Der Tag hat kaum begonnen, da ruft mich mein Vater an und sagt, dass große Scheiße passiert ist. Mein Kopf rattert, ich frage mich, was er meint. Ist meine Mutter gestorben? Gab es einen Rückfall? Hat das Krankenhaus angerufen? Noch bevor ich mir weitere Fragen stellen kann, löst er das Rätsel auch schon auf. Die Waschmaschine hat sich verabschiedet und lässt sich nicht mehr einschalten. Das ist sicherlich nicht schön, nachdem schon der Staubsauger kaputt gegangen ist, aber mich am Telefon mit einem solchen Satz zu begrüßen und in Panik zu versetzen, wäre dafür wirklich nicht nötig gewesen.
Kaum zwei Stunden später hat mein Vater eine neue Waschmaschine gekauft, die morgen geliefert wird.

Direkt nach meinem Bürotag, fahre ich zu meiner Mutter. Sie liegt ziemlich abwesend in ihrem Bett, während mein Vater versucht zu ihr durchzudringen. Es sieht nicht aus als hätte er großen Erfolg dabei. Und obwohl meine Mutter nicht so viel anders ist, wie an den anderen Tagen, bin ich geschockt oder niedergeschlagen. Ich glaube, die drei Tage, die ich nicht hier war und die positiven Berichte meines Vaters sind daran nicht ganz unschuldig. Die Berichte und die Tatsache, dass meine Mutter zur Reha kommt, haben mich vermutlich träumen lassen. Ich bin unbewusst der Realität entschwunden und habe mir die Situation positiver ins Gedächtnis gebrannt. Nun stehe ich hier und bin von der Realität erschlagen. Mein Vater sieht auch alles andere als positiv aus. Fast verzweifelt versucht er, meine Mutter dazu zu bringen, ihre Hand zu bewegen. Aber da kommt heute nicht viel. Dann sieht er wieder eine Reaktion, die mir verborgen bleibt, und macht mich darauf aufmerksam. Ich nicke nur. Das ist hart. Ich bin überfordert und beobachte meine Mutter. Manchmal, so scheint es mit, schaut sie mich konzentriert an. Und wie schon seit Tagen, scheint es so als würde sie reden wollen, was aber nicht möglich ist. In der linken Hand hält sie den Ball fest. Ein unbedeutender Greifreflex? Ich fürchte es fast. Ich bin traurig.

Mein Vater sagt, dass meine Mutter morgen operiert wird. Dieser Anschluss für die Dialyse wird entfernt. Das hätte laut Arzt schon längst passiert sein sollen. Da meine Mutter am Samstag verlegt werden soll, wird das nun morgen gemacht. Die Ärzte möchten nicht, dass meine Mutter mit diesem Anschluss verlegt wird. Fällt denen echt früh ein. Andererseits hatten die ja auch nicht damit gerechnet, dass meine Mutter eine Reha bekommt und meine Mutter sowieso aufgegeben, da wäre so ein Angriff vermutlich verschwendete Zeit gewesen. Zumindest denke ich, dass es so ist. Wohin meine Mutter verlegt wird, hat mein Vater vergessen. Macht ja nichts, wird uns sicher erneut mitgeteilt.

Ich werfe einen Blick in die Akte meiner Mutter. Ein Vermerk vom 09. August fällt mir auf. Clostridien sind weg. Dafür ein geringer Anteil Pseudomonas. Ich weiß nicht, was das ist. Ein neues Medikament bekommt sie auch. Eubiol. Muss ich beides nachher mal googeln.

Meine Mutter ist weiter sehr abwesend. Das Blutdruckmessgerät schaltet sich automatisch ein. Es gibt zwar ein Blutdruckmessgerät, welches permanent den Blutdruck anzeigt, aber dieses Ding funktioniert anscheinend noch immer nicht richtig, weshalb ein zweites Gerät an ihrem Arm ist. Blutdruck 90/70. Kein Wunder, dass meine Mutter dermaßen schlapp und abwesend in ihrem Bett liegt. Wer kann bei solchen Werten schon besonders aktiv sein? Sie schläft kurz ein und wacht rasch wieder auf. Mein Vater will mir unbedingt zeigen, dass meine Mutter ihre Arme bewegen kann. Erneut hebt er ihren linken Arm, den Ball hat sie mittlerweile in der rechten Hand, und hebt ihn an. Er fordert sie auf den Arm oben zu halten. Im dritten Versuch klappt es. Sie hält ihn hoch und legt ihn auch nicht nach einem kurzen Moment wieder ab. Erst als ich ihr zweimal sage, dass sie ihn ablegen soll, macht sie es. Zufall? Bewusste Handlung? Ich weiß es nicht, aber diese kleine Geste gibt mir Hoffnung. Natürlich weiß ich, dass das nichts bedeuten muss und vielleicht auch keine Aussagekraft hat. Doch für den Moment ist es gut, denn für mich war das eine deutliche Handlung, die ich mitnehmen kann.

Als ich später bei meinem Vater bin, um mit ihm die Waschmaschine rauszustellen, wirkt er irgendwie niedergeschlagen auf mich. Ob der Tag im Krankenhaus dafür verantwortlich ist? Er sagt nichts und wir bringen die Waschmaschine raus. Anschließend muss ich gehen.

Später besucht mich mein Vater. Wie so oft, wenn er mich besucht, hat er eine Flasche Bier mitgebracht. Er legt sie auf den Tisch, rührt sie aber nicht an. Die Flasche hat er in Zeitungspapier eingewickelt. Ich entferne das Papier und stelle die Flasche vor ihm auf den Tisch. Er fragt nicht nach einem Öffner. Irgendwas stimmt nicht mit ihm. Während ich mir etwas zu essen machen mache, sitzt er auf dem Sofa und schüttelt immer wieder den Kopf und ist abwesend. Ich gebe ihm einen Flaschenöffner. Er macht keine Anstalten den Öffner zu benutzen.
Ich setze mich aufs Sofa. Mein Vater wirkt weiter völlig niedergeschlagen. Ich glaube nicht, dass wir hier einen entspannten Abend verbringen werden. Mein Vater schüttelt den Kopf, stammelt etwas von Arzt und sagt weiß ich nicht. Er muss weinen. Ich frage ihn, was denn los sei. Das macht es nur noch schlimmer. Ich verstehe nicht viel. Es scheint darum zu gehen, dass er vergessen hat, in welche Klinik meine Mutter am Samstag verlegt werden soll.
Nach einer Weile setzt sich mein Vater wieder hin. Ich frage ihn, was denn nun war und ob es nur darum geht, dass er nicht mehr weiß, wohin meine Mutter verlegt wird. Er wird sofort panisch, steht auf, sagt Scheiße und Hör auf, geht in der Wohnung auf und ab, ist sichtlich verzweifelt und ich sage dennoch, dass er mir sagen muss, was passiert ist, was ihn nur noch mehr belastet. Mich stresst das total. Mein Magen rebelliert und mein Herz rast. Was kann passiert sein? Hat ihm ein Arzt gesagt, dass er sich nur keine Hoffnungen machen soll? Ist etwas passiert, was er mir unbedingt verschweigen muss? Ich brauche Tropfen zur Beruhigung. Ich habe nicht unbedingt ein Problem, wenn man mir etwas verschweigt, wenn es aber so deutlich ist, dass man mir etwas nicht mitteilt, dann macht es mich fertig. Ich male mir die übelsten Dinge aus und mir geht es schlecht. Ich hasse es, wenn man mich so sitzen lässt. Aber es war schon immer ein Problem, dass in unserer Familie nicht über Probleme kommuniziert werden konnte. Zumindest nicht mit mir. Aussitzen und irgendwann ist das Problem dann weg. Dass es mich wahnsinnig macht, damit musste ich schon immer leben. Und so werde ich heute bestimmt nicht mehr erfahren, was eigentlich los ist.
Mein Vater sitzt mittlerweile auf dem Balkon. Er weint, schüttelt den Kopf, putzt sich die Nase. Später sagt er „Ich weiß nicht“. Mehrmals sagt er das und schüttelt verzweifelt den Kopf. Ich werde ihn nicht fragen. Ich brauche weitere Tropfen. Um nicht völlig durchzudrehen, schreibe ich während der ganzen Zeit mit Agnes.

Nach einer Zeit kommt mein Vater vom Balkon und beginnt ein Gespräch über meine Fliegengittertür am Balkon. Alles so, wie es immer war, wenn es eigentlich etwas zu besprechen gibt. Es wird ein neues Thema erfunden, das eigentliche Thema ist damit erledigt. Weil ich das kenne und weiß, dass ich keine Chance habe dagegen anzukommen, gebe ich den Gedanken, dass ich irgendwas erfahre, endgültig auf. Verdrängen wir einfach alles. Ich rede mir einfach ein, dass gar nichts Schlimmes passiert ist, mein Vater „nur“ so reagiert hat, weil die letzten Wochen einfach total Kräfteraubend waren und es einfach raus musste. Alles ist, wie es vorher war. Es gibt keinen neuen Grund zur Beunruhigung und sein kleiner Zusammenbruch ist ganz normal.
Mein Vater möchte, dass wir einen Film gucken. Ich lege eine Blu Ray ein und wir schauen Oblivion. Ich sehe zwar, dass mein Vater zwischendurch gedanklich woanders ist, frage aber nicht nach. Die letzte halbe Stunde des Films verschläft er dann komplett. Schlaf ist gut. Später frage ich ihn, ob er nachts immer noch nicht schlafen kann. Nein. Und seine Tabletten sind auch alle. Sein Arzt diese Woche noch im Urlaub, weshalb er sich auch keine neuen Tabletten aufschreiben lassen kann. Die Tabletten waren eh zu schwach. Er musste 1,5 Tabletten nehmen, um schlafen zu können. Meiner Meinung nach immer noch besser als diese schlaflose Zeit.

Mein Vater braucht dringend eine Pause. Das wird aber nicht möglich sein, so lange meine Mutter nicht wieder gesund ist. Eubiol ist gegen Durchfall und Pseudomonas sind Bakterien. Ansteckend, wie Agnes sagt. Wieso man uns im Krankenhaus davon nichts erzählt hat, wüsste ich schon ganz gerne. Aber vermutlich werden solche Dinge in den Krankenhäusern als normal betrachtet und sind nicht der Rede wert. Ich brauche keine weiteren Tage dieser Art, sonst muss ich zur Kur.

Tag 71
Von den drei Tagen Erholung mit Agnes ist schon heute nichts mehr übrig. Die getankte Kraft war schon gestern verbraucht. Der Schlaf weniger gut. Es ist fast so als hätte es die drei Tage Erholung gar nicht gegeben. Ich sollte heute zum Training gehen, doch ich kann nicht. Ich bin angespannt und nicht in der Lage zum Training zu gehen. Der Stresslevel ist zu hoch, um zu entspannen und erst recht zu hoch, um nicht zu entspannen. Das Hamsterrad ist wieder da.
Heute wird die Waschmaschine geliefert. Hoffentlich läuft das problemlos und mein Vater kann die Maschine leicht bedienen. Wenn nicht, dann ist das sicher nicht gut für ihn und seine Gesundheit. Gar nicht gut.

Als ich mittags meinen Vater besuche, wird gerade die neue Waschmaschine angeschlossen und ich erfahre, warum die alte Waschmaschine sich nicht mehr einschalten ließ. Das alte Verlängerungskabel war kaputt und der Kauf der neuen Waschmaschine somit nicht vonnöten. Das ist natürlich übel. Über 500 Euro zu einem Zeitpunkt ausgegeben, der noch gar nicht gekommen war. Mein Vater ist einfach zu ungeduldig, was aber in diesem Fall dieser verdammten Gesamtsituation geschuldet ist.

Am Nachmittag besuchen wir meine Mutter zum letzten Mal im Knappschaftskrankenhaus. Zumindest gehen wir davon aus, weil sie ja morgen verlegt werden soll. Sie schläft. Der Eingriff hat auch schon stattgefunden. Der Blutdruck ist okay. Wie auch gestern schon, riecht es sehr übel in dem Zimmer. Eigentlich muss man sogar sagen, dass es stinkt. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht zu würgen.
Nach einer Weile wacht meine Mutter auf. Sie wirkt müde und nimmt uns nur am Rande zur Kenntnis. Zumindest scheint es so. Ich frage mich, ob meine Mutter möglicherweise alles voll wahrnimmt, aber keine Möglichkeit hat, sich zu äußern. Vielleicht ist sie eine Art Gefangene im eigenen Körper. Schreckliche Vorstellung.
Wir sind der Meinung, dass die OP schon viel früher hätte stattfinden sollen und jetzt nur gemacht wurde, weil das Krankenhaus noch etwas Geld verdienen wollte, bevor meine Mutter verlegt wird. Sie scheint mich manchmal sehr genau zu beobachten, manchmal wird sie auch, so scheint es jedenfalls, sehr unruhig, als wolle sie dringend etwas mitteilen. Doch leider funktioniert das nicht. Gibt es dennoch Hoffnung, dass sie zu uns zurückkehrt? Oder machen wir uns völlig unnötig diese neue Hoffnung, die die Verlegung mit sich bringt?

Später ruft mein Vater mich an, um mir zu sagen, dass meine Mutter am Montag nach Hagen-Ambrock verlegt wird. Also doch Hagen. Und natürlich nicht, wie erst angekündigt, schon morgen, sondern am Montag. Würde eigentlich passen, da meine Mutter auch an einem Montag nach Dortmund-Brackel verlegt wurde.

Tag 72
Wie mittlerweile fast jeden Morgen, wache ich zwischen sechs und sieben wach und bleibe bis zum klingeln des Weckers um 08.02 Uhr im Bett. Es ist deutlich zu erkennen, dass die Tage langsam kürzer werden. Den möglicherweisen schönen Sommer, von einigen extrem heißen Tagen abgesehen, verbrachte meine Mutter im Krankenhaus. Und mein Vater und ich irgendwie auch.

Beim Mittagessen sagt mein Vater, dass die normale Dauer der Reha vier bis sechs Wochen ist. Und danach entschieden wird, wie es weiter geht. So hat es ihm die Ärztin, die meine Mutter behandelt, gesagt. Außerdem sagt er, dass meine Mutter gestern zweimal auf seine Fragen mit einem Kopfschütteln reagiert hat. Die Frage, ob er ihr die Kopfhörer aufsetzen soll, damit sie Musik hören kann, beantwortete sie negativ. Eine andere positiv. Er sagt fragend, dass das doch kein Zufall sein kann. Ich weiß es nicht, wünsche jedoch, dass es tatsächlich kein Zufall war. Denn vier bis sechs Wochen sind keine so lange Zeit, wenn man an die letzten zehn Wochen zurück denkt. Auf der einen Seite unfassbar lang, auf der anderen aber nicht lang genug, um den Zustand meiner Mutter entscheidend zu verbessern. Und so beginnt ab Montag eine neue Zeitrechnung. Teil 3 auf dem Weg zurück ins Leben. Möge der Weg ein guter sein.

Als mein Vater mir später von seinem Besuch berichtet, sagt er, dass meine Mutter die Frage, ob sie die Kopfhörer aufgesetzt bekommen möchte, erneut mit einem Kopfschütteln verneint hat. Zumindest ist er der Meinung, dass sie den Kopf geschüttelt hat. Und natürlich hoffe ich, dass er das richtig erkannt hat und meine Mutter tatsächlich in der Lage ist, sich per Kopfnicken zu verständigen.

Der neue Zimmernachbar meiner Mutter hat beobachtet, dass sich die Pflegerinnen gut eine Stunde mit meiner Mutter beschäftigt haben. Waschen und umlegen und andere Kleinigkeiten. Der Zimmernachbar wurde am Donnerstag zu meiner Mutter gelegt und hat sich nun quasi selbst entlassen, weil er es nicht mehr aushält, von den Ärzten nur negative Sachen zu hören. Er hat Krebs. Er hat vermutlich nicht mehr viel Zeit. Diese möchte er nicht im Krankenhaus verbringen und schon gar nicht möchte er täglich hören, dass er sich keine Hoffnung machen soll. Es scheint fast so als wäre es eine Aufgabe der Ärzte, möglichst nur negative Nachrichten zu verbreiten und die Patienten und deren Angehörige immer weiter runterzuziehen. Ob es wirklich nötig ist, ständig zu wiederholen, dass nichts mehr gut wird, erscheint mir falsch. Man muss ja nicht gleich unrealistisch positiv sein und alles schönreden, aber den Patienten täglich aufs Neue zu deprimieren, kann auch keine Lösung sein. Und warum die Ärzte darauf bestehen, dass jemand, der nach deren Aussagen sowieso sterben wird, nicht nach Hause darf, um dort wenigstens in gewohnter Umgebung und ohne ständig darauf hingewiesen zu werden, dass er eh keine Chance hat, seine letzten Tage zu verbringen, kann ich absolut nicht verstehen. Wenn sie einem nicht helfen können, was nützt es dann, wenn er bis zum Tod im Krankenhaus lebt? Hat vermutlich lediglich finanzielle, ich meine, rein wirtschaftliche Gründe. Und wer im Krankenhaus stirbt, ist vielleicht auch leichter zu entsorgen. Was weiß denn ich schon davon?

Tag 73
Der für meine Mutter vermutlich letzte komplette Tag in Dortmund-Brackel. Als wir sie besuchen, liegt sie auf der Seite und sieht sehr unzufrieden aus. Außerdem scheint sie uns nicht wirklich wahrzunehmen. Oder will sie uns nicht wahrnehmen? Eine Frage, die nur sie uns beantworten kann, wenn sie es könnte. Sie reagiert nur wenig auf Ansprache und meinem Vater geht es sehr schlecht damit. Ständig muss er sich die Nase putzen. Und immerzu versucht er, meine Mutter dazu zu bringen, ihre Arme zu bewegen. Doch irgendwie kann oder will sie nicht. Ihren linken Arm hat sie schwer und steif gemacht, ob bewusst oder nicht, weiß ich nicht, und lässt ihn selbst mit Hilfe nicht heben. Für meinen Vater ist das alles furchtbar schwer.
Der Geruch im Zimmer ist auch sehr streng. Eine Mischung aus Urin und Kot, vermute ich. Ich muss immer wieder ein paar Schritte zurückgehen, um nicht würgen zu müssen. Ich bin echt ein Weichei. Ob meine Mutter den Geruch auch wahrnimmt? Mein Vater sagt ihr, dass sie nicht traurig sein soll und alles wieder gut wird. Sie scheint ihm nicht zu glauben. Die Pflegerin bittet uns das Zimmer für fünfzehn Minuten zu verlassen.
Als wir nach zwanzig Minuten wiederkommen, dürfen wir noch nicht wieder rein. Man will uns Bescheid geben, wenn wir rein dürfen. Nachdem wir weitere zwanzig Minuten gewartet haben, verlassen die Besucher der Frau, bei der meine Mutter vorher auf dem Zimmer lag, das Krankenhaus. Sie sagen uns, dass meine Mutter schläft und niemand vom Pflegepersonal im Zimmer ist. Da hat man uns am letzten Tag einfach wieder vergessen. Mein Vater ist sauer und kündigt an, die Besuchszeit zu verlängern. Er ist insgesamt sehr unzufrieden, weil meine Mutter ja noch immer diese Stelle am Steißbein hat und so auch in der neuen Klinik wohl nicht in einen Stuhl gesetzt werden kann. Ich hoffe, dass man sich in Hagen besser um meine Mutter kümmern wird.
Meine Mutter schläft. Mein Vater will ihr die Kopfhörer aufsetzen, damit sie Musik hören kann. Ich sage ihm, dass er sie schlafen lassen soll. Insgesamt ist er heute sehr aktiv und will immer irgendwas mit meiner Mutter machen. Doch so, wie er sich das vorstellt, geht das leider nicht. Ich fürchte, dass er immer ungeduldiger wird.

In Hagen-Ambrock ist die offizielle Besuchszeit wohl von 10.00 Uhr bis 21.00 Uhr. Wie ich meinen Vater kenne, wird es diese Zeiten, soweit möglich, ausnutzen wollen. Das heißt für mich, dass ich, wenn ich meine Mutter besuche, ebenfalls sehr lange dort sein werde, weil es bei der Entfernung wenig Sinn machen würde, wenn ich mit meinem Wagen fahre. Das wären dann zu jedem Besuch nämlich fast 100 Kilometer. Finanziell nicht gerade einfach zu stemmen.
Sollten diese Besuchszeiten auch für meine Mutter gelten, wird mein Vater dort wohl die meiste Zeit des Tages verbringen. Ich weiß nicht, ob es so gut wäre, wenn es so kommt. Natürlich kann ich verstehen, dass er wann immer es möglich ist, bei meiner Mutter sein will, aber ich weiß nicht, ob es für seine Gesundheit zuträglich wäre. Denn irgendwann muss er sich mal ausruhen. Er schläft ja derzeit eh kaum. Unter anderem, weil er keine Tabletten mehr hat, die ihm beim schlafen helfen könnten.

Die Liste der Medikamente, die meine Mutter bekommt, hat sich leicht verändert, aber nicht verkürzt. Mit folgenden Medikamenten wird meine Mutter derzeit behandelt:

1. Euthyrox 1x täglich
2. Pantozol 40mg 1x täglich
3. Beloc Zoc 95mg 2x täglich
4. Carmen 10mg 2x täglich
5. Nepresol 25mg 3x täglich
6. Inhalation mit Emser
7. Delix 5mg 2x täglich
8. Amiodaron 200mg 1x täglich
9. Sab simplex 15ml 1x täglich
10. Lasix 20mg 2x täglich
11. Heparin 2x täglich
12. Motilium 2x täglich
13. Morphin 5mg bei Bedarf
14. Colina 3x täglich
15. Lactulose 10mg 1x täglich
16. Catapresan 0,075m 3x täglich
17. Protein 88 1ML 3x täglich
18. Eubiol 1 Kps 1x täglich
19. Inh. Sult/Atr. 4x täglich

Teilweise finde ich diesen Medikamentencocktail irgendwie widersprüchlich. Colina ist ein Mittel gegen Durchfall, Lactulose ein Mittel gegen Verstopfung. Für mich als Laien klingt das irgendwie nicht so, als wäre das eine normale und vernünftige Kombination. Aber zum Glück habe ich davon keine Ahnung. Und vielleicht bekommt meine Mutter in Hagen-Ambrock ja ganz andere Medikamente. Und vielleicht erfahre ich das auch und kann mich dann darüber wundern. Oder eben nicht. Ändern werde ich vermutlich eh nichts daran.

Tag 74
Heute wird meine Mutter in die Helios Klinik nach Hagen-Ambrock verlegt. Seit diese Verlegung feststeht, seit die Reha genehmigt wurde, ist bei mir der Glaube eingekehrt, dass meine Mutter tatsächlich wieder gesund werden kann. Vielleicht nicht wie früher, aber doch so gesund, dass sie ein eigenständiges Leben führen kann. Das war noch vor wenigen Tagen anders. Doch wie realistisch ist das? Schließlich hat sich ja nichts verändert, außer dass meine Mutter nun in einer anderen Klinik behandelt wird. Der Gesundheitszustand meiner Mutter indes ist unverändert. Mache ich mir also etwas vor? Oder gibt es diese nicht mehr für möglich gehaltene Chance doch noch?

Als mein Vater gegen viertel nach eins im Knappschaftskrankenhaus anruft, um nachzufragen, ob meine Mutter schon verlegt sein, wird ihm mitgeteilt, dass meine Mutter heute nicht mehr verlegt wird. Der Grund dafür wird ihm nicht genannt. Und so geht das Chaos scheinbar weiter.

Als mein Vater meine Mutter zur üblichen Zeit besucht, erfährt er den Grund, warum meine Mutter nicht verlegt werden konnte. Sie hat irgendeine Entzündung. Und mit Entzündung kann sie nicht verlegt werden. Hatte ich nicht gerade vorhin erst darüber nachgedacht, dass es meiner Mutter körperlich gut geht und von daher keine Gefahr für sie besteht? Und nun ist die Gefahr zurück. Die Entzündungswerte, die im Blut nachgewiesen wurden, werfen uns alle wieder zurück. Damit haben wir nun allerdings auch eine Erklärung, warum meine Mutter bei den letzten Besuchen so viel geschlafen hat und so wirkte, als wäre sie schlecht drauf. Sie ist einfach geschwächt. Es bleibt abzuwarten, was sie nun hat. Damit hat sie sich erneut im Krankenhaus etwas eingefangen. Erst die Lungenentzündung in Lünen, dann die Clostridien. Und möglicherweise gab es ja noch etwas anderes, weshalb sie so spät auf dieses Zimmer kam. Vor einigen Tagen ging es ja um eine Speichelprobe, die von meiner Mutter genommen wurde. Sollte die negativ sein, sollte sie auf ein anderes Zimmer kommen. Aber sie kam nicht auf ein anderes Zimmer und wir trugen lange Zeit unsere Schutzausrüstung. Damals wurde allerdings nur von den Clostridien gesprochen. Zu der Speichelprobe wurde nichts mehr gesagt. Nun haben wir den nächsten Zwischenfall, der vermutlich mit einem Antibiotikum behandelt werden muss. Mein Vater glaubt, dass uns das eine Woche kosten wird, bevor meine Mutter verlegt werden kann. Ich gehe von zwei Wochen aus. Außerdem ist es fraglich, ob dann sofort wieder ein Platz in Hagen-Ambrock frei ist.

Später hat mein Vater die Gelegenheit, sich mit den Sprachtherapeuten zu unterhalten. Der Grund, warum meine Mutter nicht spricht, soll sein, dass meine Mutter einfach nicht schluckt bzw. nicht schlucken kann. Und das ist wohl Grundvoraussetzung, dass das mit dem sprechen was wird. Der Sprachtherapeut sagt, dass meine Mutter nur ein einziges Mal selbständig geschluckt hat. Nun gilt es, meine Mutter dazu zu bringen, dass sie das übt. Nur dann kann auch der Schlauch aus ihrem Hals entfernt werden. Der Sprachtherapeut schlägt vor, dass er immer zu meiner Mutter kommt, wenn mein Vater da ist, damit gemeinsam versucht werden kann, meine Mutter dazu zu bringen selbständig zu schlucken. Klingt nach einer guten Idee. Hoffentlich ist sie von Erfolg gekrönt.

Tag 75
Ich frage mich, ob die OP vom Freitag vielleicht verantwortlich für die Entzündung ist. Wir sollten auf jeden Fall heute danach fragen. Außerdem hoffe ich, dass sie mittlerweile herausgefunden haben, was die Ursache ist und diese schnell in den Griff bekommen.

Eine blonde Pflegerin ist heute für meine Mutter zuständig. Sie sagt uns, dass wir einen Anruf von dem Chirurgen bekommen werden, da die Wunde am Steißbein nicht besser wird und nun doch diese Vakuumpumpe, oder das Vakuumkissen, ich weiß die genaue Bezeichnung nicht, bei meiner Mutter eingesetzt wird. Wegen den Entzündungswerten bzw. der Ursache, will sie gucken. Außerdem will sie uns den Arzt schicken. Bis vor kurzem war noch eine Ärztin zuständig für meine Mutter. Wie auch das Pflegepersonal, wechseln auch die Ärzte. Muss wohl modern sein. Wenn ich doch nur einen Sinn darin erkennen könnte.

Meine Mutter liegt auf der rechten Seite und auch heute weiß ich nicht, ob ich mir das nur einbilde oder sie tatsächlich etwas bockig ist. Mein Vater versucht sofort mir ihr zu üben. Mit mäßigem Erfolg. Kann sie nicht? Oder will sie ihren linken Arm nicht locker lassen? Könnte sie doch nur mit uns reden. Meinen Vater belastet das sehr. Seine Augen füllen sich mit Tränenflüssigkeit. Er dreht sich um, um sich die Nase zu putzen. Und das in regelmäßigen Abständen. Ich möchte niemals in so eine Situation kommen.

Ein Arzt betritt das Zimmer. Diesen Arzt haben wir nie zuvor gesehen. Wo liegt nur der Sinn darin, dass Personal dermaßen rotieren zu lassen? Ob irgendein Fußballbegeisterter dafür verantwortlich ist? Jemand, dessen Lieblingsmannschaft einen Trainer hat, der auch wild rotieren lässt und damit Erfolg hat? Ich glaube nicht, dass sich das Prinzip auf ein Krankenhaus übertragen lässt. Andererseits. Was weiß ich denn schon von moderner Rotation?
Der Arzt nennt das Problem. Eine Harnwegsinfektion, die mit Diflucan behandelt wird und sich mittlerweile gebessert haben soll. Immer mehr Medikamente für meine Mutter. So geht moderne Medizin. Der Arzt sagt, dass der Chirurg sich bald mit uns in Verbindung setzen wird, weil die Wunde am Steißbein so nicht mehr in den Griff zu kriegen ist. Die Verlegung meiner Mutter hängt vom Verlauf der Harnwegsinfektion ab. Und davon, ob in Hagen die Behandlung des Steißbeins fortgesetzt werden kann oder ob das erst auskuriert werden muss. Mein Vater würde es begrüßen, wenn meine Mutter erst verlegt wird, wenn die Wunde geheilt ist. Der Arzt verabschiedet sich.

Mein Vater fragt die blonde Pflegerin, die mittlerweile wieder im Zimmer ist, ob der Durchfall bei meiner Mutter langsam besser wird. Sie verneint und verweist auf den Schlauch, der direkt vom Darm meiner Mutter in einen mit Exkrementen gefüllten Beutel geht. Mein Vater fragt, ob es da mittlerweile Fortschritte gibt oder ob herausgefunden wurde, was die Ursache dafür ist, dass meine Mutter nun seit Wochen Durchfall hat. Nein und nochmal nein. Da tappen wohl alle im Dunkeln. Und solange dieser Schlauch in meiner Mutter steckt, so lange kann sie auch in keinen Stuhl gesetzt werden, was natürlich alles andere als förderlich für den weiteren Verlauf der Behandlung ist. Da der Zuckerwert meiner Mutter gelegentlich zu hoch ist, bekommt sie Insulin verabreicht, was laut Pflegerin aber das kleinste Problem bei meiner Mutter ist.

Mein Vater ist sehr erbost, dass der Eingriff am Steißbein erst jetzt stattfindet und nennt die dafür zuständigen Leute Idioten. Gut, dass das außer uns niemand vom Personal hört. Denn wenn man es sich erst mit dem Personal verscherzt hat, dann wird es wohl kaum besser. Und das wollen wir nicht. So bleibt festzuhalten, dass meine Mutter zunächst diese Infektion loswerden soll, was durchaus möglich erscheint. Desweiteren muss der Durchfall weg. Was das angeht, sehe ich schwarz. Seit meine Mutter in diesem Krankenhaus liegt, wurde es nicht geschafft, dieses Problem zu beheben. Also kann kaum davon ausgegangen werden, dass denen da jetzt noch der Durchbruch gelingt. Somit bleibt der Schlauch vermutlich noch lange ihr Begleiter. Das Problem mit dem Steißbein könnte vielleicht hier gelöst werden. Da will ich mal nicht ganz so schwarz sehen. Ob es meiner Mutter gelingen wird, selbständig zu schlucken, in der Zeit, die ihr hier noch verbleibt, bleibt abzuwarten. Insgesamt ist die Lage doch schlechter als sie mir zu sein schien, bevor ich mich mal wieder intensiver mit dem Gesamtbild befasst habe. Nun bleibt abzuwarten, wann die OP am Steißbein stattfinden wird und wann meine Mutter tatsächlich verlegt wird. Ich denke, nicht vor Ende nächster Woche. Aber wer weiß das schon?

Meine Mutter hat einen ziemlich roten Kopf. Vermutlich hat sie wieder Fieber von der Harnwegsinfektion. Ich hoffe, dass diese Infektion tatsächlich besser wird und nicht wieder über einen längeren Zeitraum in ihr wütet.

Tag 76
Heute denke ich möglichst wenig an den Zustand meiner Mutter. Ich distanziere mich bewusst, nehme mir eine kleine Auszeit. Am Nachmittag mache ich zum ersten Mal seit dem Zwischenfall einen ausgedehnten Spaziergang. Gehe zu den Pferden, die ich schon lange nicht besucht habe und genieße das Wetter. Insgesamt dauert mein kleiner Ausflug drei Stunden.
Währenddessen ist mein Vater drei Stunden bei meiner Mutter. Sie ist heute lebhafter und bewegt ihre Arme besser als in den letzten Tagen. Mein Vater spricht mit dem Arzt. Dieser sagt, dass die OP am Steißbein nun doch nicht stattfindet. Der Chirurg hat entschieden, dass das auch so heilt. Die Fragen nach dem Durchfall bekommt mein Vater nicht wirklich beantwortet. Der Arzt sagt nur, dass der Schlauch, der aus dem Darm zum Beutel führt, sehr förderlich für die Heilung des Steißbeins ist. Tolle Aussage. Die blonde Pflegerin sagt, dass meine Mutter viel Luft im Darm hat. Dies ist sehr gut bei Durchfall. Für mich klingt das alles wenig plausibel und beantwortet auch in keiner Weise die Frage nach dem Durchfall. Es wirkt so als wüsste hier niemand, was die Ursache(n) für den nie enden wollenden Durchfall sind. Vielleicht, und den Eindruck habe ich, interessiert es auch niemanden wirklich.

Die Sprachtherapeutin schaut vorbei, um meinem Vater zu sagen, dass es ihr Leid tut, dass sie keine Zeit hat mit meiner Mutter zu üben, wenn mein Vater dabei ist. Er sagt ihr, dass er es begrüßen würde, wenn sie es in den nächsten Tagen einrichten könnte. Sie verspricht, es zu versuchen und ist auch schon wieder weg. Ich kann mir nicht helfen, aber auf mich wirkt das alles irgendwie chaotisch und mäßig bis saumäßig organisiert. Und damit meine ich jetzt nicht nur die Sache mit der Sprachtherapeutin.

Mein Vater trainiert noch ein wenig mit meiner Mutter. Heute ist er sehr zufrieden mit ihr. Und so ist er auch am Abend als ich ihn abhole, positiv gestimmt und sehr gesprächig. Dennoch wissen wir beide, dass uns allen noch ein weiter und vor allem für meinen Vater kräftezehrender Weg bevorsteht. Und ob am Ende des Weges ein Ergebnis, mit dem wir alle gut leben können, steht, dass ist weiter ungewiss.

Tag 77
Es ist schwer vorstellbar, dass meine Mutter den Rest ihres Lebens in diesem Zustand bleibt. Es ist aber auch schwer, daran zu glauben, dass sich daran wirklich etwas ändert. Andererseits, und das darf man auch nicht vergessen, lag meine Mutter noch vor wenigen Wochen in ihrem Bett, bewegte Arme und Beine unkontrolliert, zog Fratzen und war nicht in der Lage einen anzusehen. Dagegen ist dieser Zustand natürlich ein Fortschritt. Und sollte es möglich sein, dass weitere Entwicklungsschritte dieser Art folgen, so darf man sie natürlich nicht abschreiben. Vielleicht braucht man wirklich einfach nur unendlich viel Geduld.

Heute liegt sie da, wirkt sehr müde, schläft aber nicht. Sie scheint die Augen kaum aufhalten zu können, beobachtet aber mit dem rechten Auge was geschieht. Zwar wirkt es nicht immer so als würde sie uns ansehen, aber dennoch will sie nicht schlafen. Das merkt man schon. Mein Vater sagt, dass sie es mittlerweile ab und zu
Schafft, zu schlucken.
Als wir gehen müssen, sagt ihr mein Vater das. Sofort verzieht meine Mutter ihr Gesicht, sieht etwas panisch aus als wolle sie weinen. Ich bin sehr überrascht wegen dieser Reaktion. Das wäre ein echter Beweis, dass sie sehr genau versteht, was hier vor sich geht. Wenige Augenblicke später bekommt sie einen Hustenanfall, der wirkt als würde sie ersticken. Sie schaut uns hilfesuchend mit großen Augen an. Sie hustet als hätte sie sich verschluckt und es ist nur schwer zu ertragen, sie so zu sehen. Mein Vater fordert sie auf zu schlucken. Und tatsächlich scheint es zu klappen. Es geht ihr besser. Die Panik und Hilflosigkeit entweicht ihrem Gesicht. Wir loben sie, weil sie geschluckt hat und sind erleichtert. Ich bin schon ein paar Schritte Richtung Ausgang gegangen. Mein Vater muss sich die Nase putzen. Er ist deutlich mitgenommen, beugt sich über ihr Bett und erklärt ihr, dass er gehen muss und morgen wiederkommt. Diese Szene ist so emotional und ich kann es kaum ertragen, meine Eltern so zu sehen. Mein Vater putzt sich die Nase. Er verlässt das Zimmer. Seine Augen voller Tränen. Ich sage nichts. Schweigend verlassen wir die Station. Es dauert eine Weile bis mein Vater sich gesammelt hat. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Meine Mutter muss wieder gesund werden.

Sollte das mit dem Schlucken tatsächlich in nächster Zeit funktionieren, gibt es keinen Grund mehr für meine Mutter, nicht zu sprechen. Zumindest theoretisch. Ich frage mich, was sein wird, wenn sie dann aber dennoch nicht sprechen wird oder nur unverständliches Zeug von sich gibt. Ich muss zugeben, dass mir das Angst macht. Es kann ein Riesenfortschritt sein, wenn es klappt und sie tatsächlich sprechen kann. Es kann aber auch sein, dass sie gar nicht mehr sprechen kann. Und was dann? Der Weg ist weit. Hoffentlich nicht zu weit und hoffentlich nicht zu Ende bevor das Ziel erreicht ist.

Tag 78
„Sie war heute eigentlich ganz gut drauf.“ Mit diesen Worten beginnt das Gespräch, welches ich am Abend mit meinem Vater führe. Die meisten unserer Gespräche beginnen so. Meine Mutter hat wohl heute viel Musik gehört, war sichtlich unzufrieden als mein Vater ihr die Kopfhörer abnahm und wieder zufrieden als er sie ihr wieder aufsetzte. Mein Vater hatte das Gefühl, sie würde die Lieder mitsingen oder mitsprechen. Ihre Arme bewegte sie ab und zu freiwillig. Ansonsten war alles okay und mein Vater wirkt zufrieden mit dem Verlauf des Besuches. Ich hoffe, dass er es auch ist. Denn ich weiß auch, dass mein Vater es nicht sagt, wenn es nicht so ist. Insgesamt bleibt dieser Tag einfach als guter Tag zurück.

Tag 79
Schon auf dem Flur einige Meter vor dem Zimmer meiner Mutter, riecht es übel nach Exkrementen. Ich kenne diesen Geruch und gehe davon aus, dass er aus dem Zimmer meiner Mutter kommt. Je näher wir kommen, desto schlimmer wird der Geruch. Wieso tut niemand etwas dagegen?
Meine Mutter starrt einfach an die Decke oder ins Nichts. Auf uns reagiert sie nur minimal. Sie ist abwesend. Sie so zu sehen, lässt die Hoffnungen, die ich mir gerne zwischendurch mache, auf einen Schlag zerplatzen. Unvorstellbar scheint es, dass sie aus diesem Zustand je wieder in einen lebenswerten Zustand zurückkehren kann. Weil sie nur minimal bis gar nicht auf uns reagiert, setzt mein Vater ihr die Kopfhörer auf. Sie schließt ihre Augen und schläft ein.
Ich kämpfe gegen den unglaublichen Gestank. Im Gegensatz zu meiner Mutter kann ich davor aber fliehen. Zwei Ärzte kommen herein. Ein kurzes Gespräch findet statt. Meine Mutter hat eine Infektion. Entstanden durch die Wunde am Steißbein, wie der Arzt im weißen Kittel uns sagt. Ob es die Harnwegsinfektion oder eine neue Infektion ist, sagt er nicht und ich mag nicht fragen. Es ist beides schlecht. Meine Mutter bekommt weiter ein Antibiotikum. Am Montag wollen die Ärzte sich mit den Ärzten vom Krankenhaus in Hagen-Ambrock unterhalten und besprechen, wann meine Mutter unter welchen Voraussetzungen verlegt werden kann. Sie steht jedenfalls auf der Warteliste dort. Montag dazu mehr.
Eine Pflegerin sagte zu meinem Vater, dass der Geruch von den Blähungen kommt und dass es gut ist, dass diese Winde nun abgehen. Der Gestank jedenfalls ist alles andere als gut. Und der Bauch meiner Mutter sieht nicht so aus als wären da weniger Gase drin, als bei meinem letzten Besuch. Blähungen und Durchfall scheinen Dauerbegleiter zu sein. Auf solche Begleiter kann meine Mutter gut verzichten.

Wir gehen etwas trinken, weil meine Mutter weiter schläft. Als wir zurück sind, schläft sie noch immer. Ich beschließe, zu gehen. Ausruhen kann sie sich auch gut ohne mich.

Später erzählt mir mein Vater, dass er noch etwas mit meiner Mutter geübt hat. Außerdem bekommt sie eine Fenchel-Anis Lösung gegen die Blähungen. Diese Lösung soll dafür verantwortlich sein, dass es derzeit so übel bei meiner Mutter riecht. Hoffentlich hilft diese Mischung nachhaltig. Und hoffentlich finden die auch mal eine Lösung gegen den nie enden wollenden Durchfall. Das kann ja nicht ewig so weiter gehen.

Tag 80
Sonntag, 25. August. Ich werde den heutigen Tag ohne einen Krankenhausbesuch verbringen. Mein Vater wird mir später erzählen, wie es war. Neue Erkenntnisse sind nicht zu erwarten.

Und so ist der Bericht meines Vaters fast wie an jedem Tag. Die beiden haben etwas geübt. Meine Mutter bewegte ein wenig ihre Arme und das Zimmer riecht weiter ganz furchtbar. Eine Pflegerin geht davon aus, dass meine Mutter auch in der kommenden Woche nicht verlegt werden kann, da sie noch immer eine Entzündung hat. Was für eine Entzündung, sagt sie nicht.

Tag 81
Es ist fast wie in einer Endlosschleife. Und so werden wir meine Mutter auch in dieser Woche weiter im Knappschftskrankenhaus besuchen. Mein Vater täglich drei Stunden, ich jeden zweiten Tag für etwa eine Stunde. Mein Vater wird versuchen meine Mutter dazu zu bringen, sich mehr zu bewegen und irgendwann im Laufe der Woche gibt es irgendwelche wenig prickelnden Informationen oder es passiert wieder etwas, was uns alle belastet und ein Stück zurück wirft.

Meine Mutter wirkt irgendwie apathisch als wir sie besuchen. Das rechte Auge hat sie auf, das linke Auge lediglich ein wenig. So wie schon bei meinen letzten Besuchen. Ihr Mund ist auch leicht geöffnet. Zufrieden sieht sie nicht aus. Es stinkt wieder ganz furchtbar im Zimmer. Ihr Bauch ist total aufgebläht. Auch da scheint es keine Fortschritte zu geben. In der rechten Hand hält sie ihren Ball.
Erstaunlicherweise kann mein Vater heute mit ihr Übungen des linken Armes machen. Dafür hält sie rechts nur den Ball. Es bleibt weiter schwer einzuschätzen, wie bewusst meine Mutter die Dinge steuern kann.
Gerade am Anfang unseres Besuches wirkt es so als wolle sie und was sagen. Auch dazu können wir nur spekulieren.

Heute ist ein Pfleger für meine Mutter zuständig. Sehr netter Mensch. Er teilt uns mit, dass meine Mutter morgen um 10.00 Uhr nach Hagen-Ambrock verlegt wird. Hieß es gestern nicht noch, dass es diese Woche nichts mehr wird? Es bleibt abzuwarten, ob die Verlegung morgen tatsächlich stattfinden wird. Außerdem sagt er uns noch, dass das letzte CT des Gehirns ohne Auffälligkeiten war. Das lässt hoffen, obwohl wir gar nicht wissen, was es wirklich zu bedeuten hat, wenn das CT ohne Auffälligkeiten war.

Der Pfleger misst den Blutzucker. 175. Irgendwie zu hoch, weshalb meiner Mutter Inuslin gespritzt wird. Muss wohl so sein. Ihr Tablettencocktail ist fast unverändert zu dem Cocktail den sie zuletzt bekam, bevor sie verlegt werden sollte. Lediglich Lactulose steht nicht mehr auf dem Programm. Stattdessen gibt es einmal täglich Diflucan 200 und dreimal täglich Zienam 1g.

Ich verabschiede mich aus dem Krankenhaus. Vielleicht für immer. Vielleicht auch nicht.

Tag 82
Meine Mutter wurde tatsächlich verlegt. Nur leider wurde vergessen, ihre Sachen mitzugeben. Radio, Ball, Parfum und der Rest können von meinem Vater abgeholt werden. So gibt es zum Abschluss noch einen weiteren Minuspunkt für das Krankenhaus. Auf den einen Punkt kommt es wahrlich auch nicht mehr an. Mein Vater beschließt, die Sachen morgen Vormittag abzuholen. Heute wollen wir uns den neuen Aufenthaltsort meiner Mutter ansehen.

Es gibt nur eine Zufahrt zum Krankenhaus in Hagen-Ambrock. Die Zufahrt ist recht steil und führt zu einem großen Parkplatz. Dort wurden wohl gerade Schranken installiert, was bedeutet, dass in Zukunft fürs Parken bezahlt werden muss. Da es keine anderen Parkmöglichkeiten gibt, ein sicher gutes Geschäft für das Krankenhaus, da der Parkplatz doch sehr voll ist.

Ein recht steiler Anstieg führt uns zum Eingang des Krankenhauses. Wir fragen nach dem Zimmer und werden in die erste Etage geschickt. Zimmer 317. Noch bevor wir das Zimmer erreichen, kommt mir der bekannte Geruch aus dem Zimmer in Dortmund-Brackel entgegen. Den hat meine Mutter wohl mitgebracht. Eine Ärztin untersucht sie gerade, wir warten draußen. Meine Mutter liegt am Fenster eines Zweibettzimmers. Hoffentlich kann sie den Ausblick irgendwann wahrnehmen.

Als wir zu ihr können liegt sie natürlich in ihrem Bett. Der Geruch ist unangenehm und meine Mutter atmet laut durch ihren Halszugang. Vermutlich ist sie sehr aufgeregt. Neben ihr liegt eine ältere Frau, die bei Bewusstsein ist und sprechen kann. Sie tut mir Leid, weil sie dem Geruch nun ausgesetzt ist.
Eine Assistenzärztin betritt das Zimmer, um meine Mutter zu begutachten. Sie will testen, wie weit meine Mutter reagiert und ob sie ihre Arme und Beine bewegen kann. Zunächst ist meine Mutter arg versteift. Erst als mein Vater mit ihre redet, ist es möglich ihren linken Arm zu bewegen. Die Ärztin fragt nach Vorerkrankungen, dem Verlauf der Entwicklung und sieht sich die Augen meiner Mutter genauer an. Dann fragt sie, ob meine Mutter Probleme mit den Augen hat. Wir erklären ihr, dass sie zu hohen Augendruck hat und deshalb behandelt wurde. Die Ärztin möchte wissen, welche Medikamente meine Mutter dagegen bekam und einen Bericht der behandelnden Augenärztin, weil die Augen dringend weiter behandelt werden müssen. Echt dumm, dass bisher niemand auf die Idee kam und wir es auch vergessen haben. Dabei ist es scheinbar so offensichtlich, dass die Augen meiner Mutter behandelt werden müssen.
Die Ärztin sagt, dass man jetzt noch keine Prognosen geben kann, meine Mutter aber nicht mehr so werden wird, wie sie mal war. Mein Vater will das nicht hören und sagt, dass man alles trainieren kann. Er sieht aus als hätte ihn jemand mit Tatsachen, die er weder hören noch akzeptieren will, angegriffen. Kaum kann er seine Tränen unterdrücken. Ich habe echt Angst vor dem Tag an dem feststeht, dass es keine weiteren Fortschritte gibt. Ich kann nur hoffen, dass meine Mutter dann in einem besseren Zustand als heute ist.
Die Ärztin sagt uns, dass meine Mutter nicht auf der neurologischen Station liegt, sondern in der Lungenabteilung. Es geht darum herauszufinden, warum meine Mutter nicht selbständig schluckt und wie es hinzubekommen ist, dass sich das noch ändert. Da sind wir beide nun sichtlich überrascht, dachten wir doch, dass meine Mutter in der neurologischen Abteilung behandelt werden würde. So kann man sich irren.

Wir erklären meiner Mutter, das sie bei allen Übungen und Tests, die die Ärzte mit ihr machen, alles tun muss, was möglich ist und sich auf keinen Fall bockig stellen soll. Ein Pfleger kommt vorbei, testet den Blutzucker meiner Mutter und spritzt ihr Insulin. Blutzuckerwert bei 250. Definitiv zu hoch. Der Pfleger sagt uns, dass der Wert bei Einlieferung bei 320 lag. Die Probleme meiner Mutter sind mehr als vielfältig. Zu vielfältig? Wir hoffen nicht.

Ich mache einen Spaziergang, meine Mutter ein Nickerchen. Die Gegend ist wirklich schön. Es gibt sogar Pferde in der Nähe. Pferde mag ich.
Als ich wieder zurück bin, sagt mein Vater gerade zu meiner Mutter, dass in zwei Wochen schon alles ganz anders aussieht. Zweckoptimismus? Auch glaubt er, dass wir schon in zwei Wochen meine Mutter in einen Rollstuhl setzen können, um mit ihr im Park zu sitzen. Wäre sicherlich traumhaft, erscheint mir aber verfrüht, wenn nicht sogar grundsätzlich unmöglich. Sicherlich soll man niemals zu früh aufgeben, aber es deutet einfach viel zu wenig darauf hin, dass wir je wieder normal mit meiner Mutter kommunizieren oder gar mit ihr in einem Park sitzen. Manchmal fürchte ich, dass diese Geschichte immer so weiter geht. Mein Vater voller Hoffnung, meine Mutter in einer anderen Welt, oder zumindest nicht in der Lage mit uns zu kommunizieren, und am Ende bricht alles in einer noch unvorstellbaren Form zusammen. Kein schöner Gedanke, aber warum sollte es anders kommen? Hat uns das Glück nicht doch am 07. Juni 2013 verlassen? Oder ist es Glück, dass es noch so ausgegangen ist? Vielleicht bietet die Zukunft eine adäquate Antwort auf diese Fragen. Vielleicht ist das heute ja auch schon die Zukunft. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wiedergespiegelt in diesem einen Moment.

Mein Vater legt seine täglichen Besuchszeiten fest. Von 14.00 Uhr bis 17.00 Uhr. Täglich fast 50 Kilometer hierher und fast 50 Kilometer zurück. Tagein, tagaus. Ich bin jedoch überrascht, dass er seine Besuchszeit auf drei Stunden festlegt. Hatte ich doch befürchtet, er würde viel länger bleiben wollen. Hoffentlich ändert er seine Meinung dazu nicht. Und wenn, dann nur mit einem wichtigen Grund. Vermutlich werde ich ihn dreimal pro Woche begleiten. Extra mit meinem PKW anzureisen, würde ich mir auch kaum leisten können.

Tag 83
Am Vormittag bin ich bei der Augenärztin meine Mutter und frage nach einem Bericht. Den bekomme ich morgen. Ich lasse mir aufschreiben, wie die Tropfen, die meine Mutter bis zu dem Zwischenfall nehmen musste, heißen und verabschiede mich.

Da es mir in der letzten Nacht nicht gut ging, mein Magen rebellierte und ich kaum geschlafen habe, muss mein Vater heute alleine zu meiner Mutter fahren. Ich muss schlafen.

Mein Vater bringt meiner Mutter ihr Radio, ihr Parfum, den Ball und andere Dinge mit, die er heute aus dem Knappschaftskrankenhaus abgeholt hat. Man hat ihm sogar einen Fön mitgegeben, der allerdings nicht von meiner Mutter war. Die wollten den vermutlich nur loswerden.

Meine Mutter hat heute auch ihr rechtes Auge geöffnet. Ob sie schon etwas für ihre Augen bekommen hat oder nicht, wissen wir nicht. Mein Vater gibt den Zettel mit den Medikamenten ab. Die Augentropfen bekommt meine Mutter aber erst am Freitag, da freitags immer Medikamente geliefert werden. Sehr unpraktisch.

An den beiden Schranken vor dem Parkplatz wird eifrig gearbeitet. Lange kann es nicht mehr dauern, bis fürs Parken bezahlt werden muss. Gewinnmaximierung ist eine feine Sache.

Mein Vater bleibt vier Stunden bei meiner Mutter, bevor er sich auf die Heimreise macht. Morgen will er sogar vor dem Mittagessen zu ihr fahren. Meine Versuche, ihm das auszureden, scheitern kläglich. Ich sage ihm, dass er wenigstens erst Mittagessen soll. Er erwidert, dass er im Krankenhaus ja eine Cola trinken kann. Ich sage ihm, dass das wohl kaum ausreicht. Dann isst er eben noch ein Stück Torte. Ich verstehe ja, dass er bei meiner Mutter sein will, mit ihr trainieren und sehen, ob es Fortschritte gibt. Es macht aber wenig Sinn, wenn er dafür seine eigene Gesundheit aufs Spiel setzt.
Weil er heute keinen Arzt zu sehen bekam und auch sonst niemand irgendwas mit meiner Mutter gemacht hat, will er morgen nach dem genauen Ablauf der Reha fragen. Außerdem will er wissen, warum meine Mutter in der Lungenabteilung und nicht in der Neurochirurgie untergebracht ist.

Die Knappschaft hat die sogenannte Frührehabilitation für 21 Tage genehmigt. Pro Tag kostet der Aufenthalt fast 360 Euro. Ich glaube nicht, dass das, was mit meiner Mutter gemacht wird, täglich so viel Geld verschlingt. Der größte Teil des Geldes fließt sicher in die Verwaltung und aufs Guthabenkonto. Gewinnmaximierung ist wirklich eine feine Sache.
Mein Vater sagt etwas resigniert, dass es, wenn meine Mutter nach drei Wochen keine erkennbaren Fortschritte gemacht hat, nicht gut aussieht. Ich finde, dass es schon lange nicht mehr gut aussieht, aber ich bin auch ein verdammter Pessimist.

Tag 84
Es bleibt abzuwarten, ob der lange Besuch meines Vaters neue Erkenntnisse ans Licht fördern wird.

Am Ende des Besuches, hat mein Vater den Therapieplan meiner Mutter. Ihr Zustand heute war wie in den letzten Tagen, Ihr Zuckerwert mit 250 erneut entschieden zu hoch. Morgen werde ich mir den Therapieplan anschauen.

Tag 85
Auf dem Therapieplan stehen neben Ergotherapie und einem CCT, noch weitere Dinge. VEP, SEP, AEP. Damit kann man wohl Messungen am Hirn durchführen und letztlich wohl auch feststellen, ob es Grund zur Hoffnung gibt oder ob wir die Hoffnung, dass meine Mutter sich weiter entwickelt und irgendwann wieder sprechen kann, vergessen können. Einerseits natürlich, weil wir so irgendwann Gewissheit haben, andererseits aber auch bedrohlich, weil es durchaus sein kann, dass uns das Ergebnis nicht gefällt und meine Mutter den Rest ihres Lebens als Pflegefall in einem Pflegeheim verbringen muss.

Als wir sie später besuchen, kommt uns direkt dieser üble Geruch entgegen. Meine Mutter starrt vor sich hin. Draußen sagt eine Pflegerin, dass es nach „Kacka“ riecht. Eine andere sagt ihr, dass es aus dem Zimmer meiner Mutter kommt. Es ist übrigens das einzige Zimmer hier, aus dem es so riecht.

Heute hatte meine Mutter erneut Ergotherapie. Wir müssen nächste Woche mal nachfragen, was da genau gemacht wird. Ich muss aber auch gestehen, dass ich Angst davor habe, nach solchen Sachen zu fragen. Mit jeder Frage besteht die Gefahr, dass die Antwort niederschmetternd ist. So konzentriere ich mich heute einfach darauf, dass es zunächst darum geht, dass meine Mutter irgendwann alleine schlucken kann.

Heute scheint sie Probleme mit den Augen zu haben. Ihr linkes Auge tränt ständig, ihr rechtes Auge kneift sie ständig zu. Mein Vater fragt eine Pflegerin nach den Augentropfen. Die sind wohl eben geliefert worden. Sie will die zuständige Pflegerin fragen. Min Vater sagt meiner Mutter, dass sie gleich ihre Tropfen bekommen wird und wird immer ungeduldiger als nichts passiert. Er sagt mehrfach „Idioten“ und geht das zu der zuständigen Pflegerin. Als er zurück kommt, ist er enttäuscht, weil meine Mutter die Tropfen erst am Abend bekommt. Ich versuche ihn zu beruhigen und sage ihm, dass wir ja nicht wissen, ob es wirklich an den Tropfen liegt, dass ihr Auge so stark tränt.
Wie immer reden wir viel auf meine Mutter ein. Doch so wirklich scheint sie nicht zu reagieren. Ob sie uns bewusst wahrnimmt? Es ist schon so, dass ich, seit meine Mutter in dieser Klinik liegt, nein, eigentlich auch schon vorher, einfach so tue, als würde sie alles voll mitbekommen und es wieder besser werden. Den Gedanken, dass sie in diesem bedauernswerten Zustand bleibt, habe ich sehr weit zurück geschoben. Nicht, dass mir nicht bewusst wäre, dass es keine Garantie auf Fortschritte gäbe, aber es erscheint mir so viel erträglicher zu sein. Andererseits beschäftige ich mich schon mit der Situation, mache mir immer wieder bewusst, dass es sein kann, dass alles verloren ist. Doch während der Besuche bin ich derzeit eher so drauf, dass ich denke, dass wir dem ganz normalen Gesundungsprozess beiwohnen. Jetzt, wo ich darüber nachdenke und meine Mutter beobachte, bekomme ich allerdings Zweifel. Ich frage mich, ob sie sehr unter ihrem Zustand leidet oder ob ihr der Zustand, in dem sie sich befindet, vielleicht gar nicht bewusst ist. Sollte es keine Hoffnung geben, bleibt nur zu hoffen, dass sie keine Ahnung von dem, was um sie herum passiert und mit ihr passiert ist, hat.

Als ich später in der Cafeteria eine kleine Pause einlege, muss bei meiner Mutter zweimal der Schleim abgesaugt werden. Für mich eine deprimierende Information, als ich später in ihrem Zimmer zurück bin. Mein Vater wirkt insgesamt niedergeschlagen. Als würde er die Hoffnung verloren haben und die Trauer von ihm Besitz ergriffen haben. Mehrmals putzt er sich die Nase. Ich glaube, er hatte sich mehr erhoff. Vor allem wohl schnellere Fortschritte. Wir müssen uns verabschieden. Traurig. Es ist alles einfach nur traurig.

Tag 86
Was bedeutet es, wenn meine Mutter die meiste Zeit, die mein Vater bei ihr ist, verschläft? Es bedeutet, dass erneut etwas nicht in Ordnung ist. Und was kann das in den sauberen deutschen Krankenhäusern sein? Bakterien natürlich. Erneut sind es Darmbakterien, die meine Mutter schwächen und mit einem Antibiotikum behandelt werden müssen. Bisher hat sich meine Mutter in jedem Krankenhaus etwas eingefangen, wurde dann mit Antibiotika behandelt, war ein paar Tage später für ein paar Tage okay und fing sich dann die nächsten Bakterien ein. Das spricht eindeutig für die hervorragende Hygiene in deutschen Krankenhäusern.
Ich finde es auch sehr erstaunlich, dass es seit Wochen nicht möglich ist, meine Mutter vom Durchfall zu befreien. Vermutlich wird sie den Durchfall, solange sie nicht wieder halbwegs gesund wird, nicht mehr los. Also möglicherweise gar nicht mehr in diesem Leben. Das scheint niemanden wirklich zu stören. Es ist anscheinend völlig normal. Auf die Idee, irgendwas Sinnvolles für den Darm zu tun, scheint niemand zu kommen. Einfach den Körper mit Chemie vollpumpen und dann mal sehen, was passiert. Und wenn nix Gutes passiert, dann muss das eben so sein und wird hingenommen. Entweder man hat Glück oder hat es eben nicht. Meine Mutter scheint es nicht zu haben. Und so bleibt nur die Hoffnung, dass ein Wunder nach dem anderen passiert.

Schutzkittel, Handschuhe und Mundschutz sind übrigens nicht angesagt. Dann muss es sich wohl um eine völlig harmlose Bakterienart handeln, die für Besucher und Personal keine Gefahr darstellt. Zumindest muss man davon ausgehen, denn sonst würden die sicher dafür sorgen, dass diese Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden. Oder?

Tag 87
Immer häufiger Träume ich davon, dass meine Mutter plötzlich wieder sprechen kann. Der letzte Traum ging gleich soweit, dass meine Mutter wieder ganze Sätze sprechen konnte. So als wäre das immer möglich gewesen und nur durch den Zugang im Hals verhindert worden. Ich war im letzten Traum sehr glücklich, weil alles wieder gut zu werden schien. Doch wie realistisch sind solche Träume?

Der Zuckerwert meiner Mutter ist bei 275. Mein Vater fragt eine Pflegerin dazu. Sie sagt, dass der Wert ja schon viel besser ist. Als sie eingeliefert wurde war er über 300. Außerdem bekommt sie wegen ihres Durchfalls derzeit mehr Nahrung zugeführt, deshalb ist es logisch, dass der Wert hoch ist. Morgen wird der Wert neu eingestellt, was bedeutet, dass sie mehr Insulin bekommt. Ursachen beseitigen oder erforschen scheint auch hier kein Thema. Einfach mehr Insulin, dass passt das schon. Ich möchte nicht in die Situation kommen, dass ich nur noch von der Medizin abhängig bin. Denn ganz sinnvoll erscheint mir das Vorgehen in Krankenhäusern irgendwie nicht. Nur gut, dass ich keine Ahnung habe und mir keine qualifizierte Meinung bilden kann.

Tag 88
Der siebte Tag in Hagen-Ambrock. Meine Mutter liegt recht teilnahmslos in ihrem Bett. Außer Pflege und Visite wurde sich heute laut Plan nicht mit ihr beschäftigt. Im Zimmer riecht es wie immer und der Durchfall ist unverändert. Mein Vater entdeckt am Ohr meiner Mutter Blutreste. Das macht ihn immer sehr wütend. „Affen“, sagt er und regt sich auf, dass die das nicht immer sauber machen, wenn sie Blut abnehmen. Sofort macht er sich daran, es zu ändern. Während er das Macht, nennt er die für diese Schmiererei oder Nachlässigkeit Verantwortlichen „Idioten“. Er ist sehr unzufrieden.

Nach ein paar Übungen mit der Hand und den Fingern, ist meine Mutter sehr müde und schläft ein. Mein Vater spricht immer wieder zu ihr, doch sie ist zu schlapp, um zu reagieren. Wir gehen für eine Weile aus dem Zimmer.
Als wir zurück sind, schläft meine Mutter noch immer. Das macht meinen Vater fertig. Er muss mit meiner Mutter üben, sonst fühlt er sich nicht gut. Da sie aber nicht wach werden mag, vermutlich ist sie durch die Darmbakterien einfach zu schwach, wird er ungeduldig und dann sehr traurig. Er wendet sich ab, putzt sich die Nase und die Tränen aus den Augen. Ich stehe hilflos da und weiß absolut nicht, was ich tun kann. Meine Eltern völlig wehrlos und ich vollkommen ratlos. Es dauert eine Weile bis mein Vater sich wieder etwas beruhigt hat. Die Zimmernachbarin ist vermutlich im gleichen Alter wie meine Mutter, vielleicht aber auch noch älter. Seitdem meine Mutter hier liegt, haben wir noch nicht einmal gesehen, dass sie besucht wurde. Sie ist ansprechbar, reagiert und kann sprechen. Dennoch habe ich nicht das Gefühl, dass sie hier bald raus kommt. Es tut mir immer noch Leid, dass sie das Zimmer mit meiner Mutter teilen muss, weil sie ja so permanent dem Geruch ausgesetzt ist. Das ist sicher nicht angenehm und kaum zu ertragen.

Die Frau aus dem Zimmer neben dem Eingang zur Station ruft auch heute wieder ständig „Hilfe“. Ihr rufen klingt durch die ganze Station. Jeden Tag ruft sie. Ob sie jemals damit aufhören wird?

Wir sind nun über 1,5 Stunden hier und meine Mutter schläft weiter. Sie scheint zu träumen. Bewegt Arme und Beine, besser gesagt zuckt sie, und es sieht so aus als würde sie reden. So atmet man nicht, so spricht man im Schlaf. Sie bewegt die Lippen und in mir wächst die Hoffnung, dass sie, sollte sie irgendwann tatsächlich ohne den Tracheakatheter leben können, auch sprechen kann. Für den Moment gefällt mir diese Vorstellung und ich beschließe, einen Spaziergang zu machen.

Während ich den Spaziergang mache, wird bei meiner Mutter der Zuckerwert gemessen. Knapp über 300. Mein Vater sagt, dass er den Wert für zu hoch hält. Die Pflegerin findet den Wert okay und spritzt Insulin. Andere Patienten haben Zuckerwerte über 400, da ist der Wert meiner Mutter fast schon niedrig. Vermutlich kann man nicht erwarten, dass meine Mutter hier wirklich wegen der Zuckerwerte behandelt wird. Hier sind die Prioritäten anders verteilt. Eindeutig anders. Es bleibt nur zu hoffen, dass am Ende etwas dabei herauskommt.

Als ich später wieder zurück bin, ist meine Mutter für einen Moment wach. Mein Vater sagt zu meiner Mutter, die nur ihr rechtes Auge leicht geöffnet hat, dass sie jetzt mal bitte beide Augen öffnen soll, weil sie das ja kann. Und tatsächlich, nach der dritten Aufforderung. Öffnet sie bei Augen und lässt sie für eine Weile geöffnet? Nur Zufall? Ich glaube das einfach nicht. Sie schaut zu mir, was bedeutet, dass ihre Augen sich sehr langsam zu meiner Seite bewegen. Alles wirkt sehr gedämpft. Aber doch scheint es als würde sie mich bewusst ansehen wollen und auch wahrnehmen.

Mein Vater bewegt zwei Finger ihrer rechten Hand. Dann bittet er sie, es ohne seine Hilfe zu tun. Ich mag es kaum glauben, doch für einen Moment bewegt sie tatsächlich diese beiden Finger ohne seine Hilfe. Ein Reflex? Unbewusstes Handeln? Nein, für mich wirkt es nicht so. Und das, obwohl ich grundsätzlich sehr skeptisch bin. Doch diese beiden Reaktionen können doch kein Zufall sein. Oder doch?

Meine Mutter schläft wieder ein und wir verabschieden uns von ihr. Mit gemischten Gefühlen sitze ich im Auto und frage mich, wie das alles weitergehen soll. Kommt meine Mutter vielleicht doch zurück in ein normaleres Leben? Oder sind das keine kleinen Schritte, sondern unbedeutende Reaktionen, die rein gar nichts ändern?

Tag 89
Als ich gegen Mittag meinen Vater besuche, kommt er direkt vor mir aus dem Bad. Er scheint geradewegs vor mir zu fliehen und sagt zunächst nichts. Ich ahne aber, dass es ihm nicht gut geht. Als ich dann einen Moment später in die Küche komme, sehe ich, dass er geweint hat. Natürlich will er verhindern, dass ich etwas davon mitbekomme, doch das ist unmöglich und sowieso vollkommen unnötig. Die Situation ist beschissen, da gibt es nichts zu verstecken.

Später ruft eine Bekannte meiner Eltern an, um nach meiner Mutter zu fragen. Mein Vater sagt, dass es zwar kleine Fortschritte gibt, die Gesamtsituation beschreibt er aber als beschissen. Auch wenn es ihm sicher nicht leicht fällt, so ein Gespräch zu führen, so denke ich doch, dass es gut ist, wenn er mal ein wenig darüber redet. Ich verschwinde ins Bad. Er soll ganz ungezwungen reden können.

Vor ein paar Wochen war jedes Telefonklingeln ein echter Schock. Sofort raste der Puls und ich erwartete irgendwelche Horrormeldungen. Was das angeht, bin ich derzeit etwas entspannter. Zwar nicht entspannt, aber doch entspannter. Es ist so, dass meine Mutter aktuell wohl nicht in Lebensgefahr schwebt, obwohl man das ja nie wirklich sagen kann. Ihre Zuckerwerte sind schon alarmierend und ohne die ganzen Medikamente, die den Blutdruck senken, wäre alles vielleicht weniger entspannt. Nebenbei haben die ganzen Medikamente so viele Nebenwirkungen, dass sich immer wieder etwas Neues entwickeln kann, was die Gesundheit meiner Mutter massiv gefährdet.

Nachdem uns gestern niemand sagen konnte, ob meine Mutter wegen des hohen Zuckerwerts mehr Insulin bekommt, fragt mein Vater erneut nach. Die Pflegerin kann dazu nichts sagen. Er fragt nach der Wunde am Steißbein. Davon weiß die Pflegerin nichts. Und von den Darmbakterien weiß sie auch keine aktuellen Informationen mitzuteilen. Mein Vater möchte einen Arzt sprechen. Das geht nicht, weil nach 14.00 Uhr kein Arzt mehr da ist. Warum kostet dieser Aufenthalt täglich fast 360 Euro?

Am Abend erzählt mein Vater mir von seinen Erlebnissen und sagt, dass wir morgen früher zum Krankenhaus fahren müssen, weil er mit einem Arzt sprechen will. Mich stresst das natürlich, weil es ja gut möglich ist, dass wir dann nichts Gutes zu hören bekommen.

Tag 90
Kaum bin ich aufgestanden, mache ich mir natürlich Gedanken darüber, was wir heute zu hören bekommen. Da wir, wenn wir mit Ärzten sprachen, sehr oft nichts Gutes zu hören bekamen, oft die niederschmetterndsten Diagnosen um die Ohren geknallt bekamen, fürchte ich auch heute mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert zu werden. So startet der Tag direkt unsympathisch, obwohl er gar nichts dafür kann. Das Wetter macht einen prima Eindruck, die Sonne scheint und doch erwarte ich einen rabenschwarzen Tag. Das ist verrückt. Aber die Erfahrung zeigt, dass wir darauf gefasst sein müssen. Scheiß Erfahrung.

Kurz bevor wir das Krankenhaus erreichen, klingelt mein Telefon. Jemand aus der Klinik. Früher wäre ich total in Panik geraten, dieses Mal sage ich mir, dass es bestimmt nix Schlimmes ist. Die Frau von der Klinik sagt sofort, dass nichts passiert ist und sie nur ein paar Fragen hat. Ich beantworte die Fragen und schon ist das Gespräch vorbei.

Mein Vater ist in gereizt verzweifelter Stimmung als wir die Klinik betreten. Er hat sich den Namen eines Patienten, der in dieser Klinik behandelt wurde, aufgeschrieben. Diesem konnte in sieben Wochen nicht dabei geholfen werden, wieder sprechen zu können. Er wurde nach langem hin und her dann nach Wuppertal verlegt, wo es innerhalb von zwei Wochen gelang ihm den Trachealkatheter aus dem Hals zu nehmen und er sprechen konnte. Es scheint so als würde mein Vater fest planen, dass meine Mutter ebenfalls nach Wuppertal kommt und dann innerhalb von zwei Wochen sprechen kann. Ich fürchte, sein Plan ist kein Guter.

Bei meiner Mutter wird gerade ein EEG durchgeführt, weshalb wir vor dem Zimmer warten müssen. Mein Vater möchte jemanden sprechen, der uns Auskunft geben kann. Nach etwa zehn Minuten erscheint die zuständige Pflegerin. Eine Frau mit mächtigem Kopf und ordentlichem Übergewicht. Sie fiel mir schon in den letzten Tagen eher unangenehm auf. Unfreundlicher Gesichtsausdruck, trampelige Art. Vermutlich leide ich unter Vorurteilen. Mein Vater fragt, ob es irgendwelche Fortschritte gibt. Nein. Weder die Wunde am Steißbein, noch die Bakterien, noch der Durchfall haben sich gebessert. Ein Schock für meinen Vater. Er will wissen, warum das so ist. Sie erklärt ihm, dass meine Mutter schwach ist und diese Dinge lange dauern werden. Ziemlich aufgelöst sagt mein Vater, dass meine Mutter so lange hier bleibt bis sie wieder gesund ist. Die Art, wie er es sagt, kommt beim Moppelchen nicht so gut an. Sie geht in Kampfstellung. Ihr Kopf ist wirklich groß und sie hat so gar nix freundliches an sich. Mein Vater sagt, dass man ihm gesagt hat, dass meine Mutter wieder fit wird. Sie fragt wer das gesagt hat und ob das wirklich stimmt. Er muss eine Kehrtwende machen und zugeben, dass das niemand gesagt hat. Sie ist, weil nicht persönlich betroffen, klar im Vorteil. Ich versuche immer etwas beschwichtigend einzuwirken. Zum lächeln bringe ich den Koloss nie. Sie hat bestimmt ihr Lächeln gegen ein leckeres Steak oder tausend Tüten Pommes getauscht. Die kann sich bestimmt selbst nicht leiden. Da ich mit Vorurteilen nicht weiter komme, frage ich einfach nochmal nach den Bakterien. Keine Verbesserung. Und der Durchfall ist gewollt. Verstehe ich zwar nicht, möchte aber mit ihr auch nicht weiter darüber reden. Sie sagt noch, dass meine Mutter starkes Diabetes hat und deshalb alles länger dauert. Dass die Zuckerwerte erst so schlecht sind, seit sie hier ist, lasse ich unerwähnt. In den Rollstuhl kann man meine Mutter nicht setzen, weil sie den Schlauch zum Darm hat. Klingt alles kontraproduktiv und das Gespräch bringt uns nicht wirklich weiter. Sieht sie wohl auch so, weshalb sie sagt, mein Vater soll mal mit einem Arzt reden, der dann Tacheles mit ihm redet. Hatte ich schon erwähnt, dass ich sie nicht mag?

Ich vereinbare einen Termin mit einem Arzt für nächsten Donnerstag und habe Angst, dass dieser Termin schlecht verläuft. Aber habe ich nicht eh ständig Angst vor schlechten Nachrichten?

Meine Mutter ist wach, mein Vater beginnt sofort mit ihr zu üben. Die Arme bewegt meine Mutter mit seiner Hilfe recht gut. Aber irgendwann muss mehr kommen. Oder? Bei der Zimmernachbarin piept ein Gerät. Irgendein Alarm. Es ist 14.00 Uhr. Eine Viertelstunde später piept es immer noch. Bei meiner Mutter fängt der Monitor ebenfalls an einen Warnton zu senden. Irgendetwas ist wohl nicht richtig angeschlossen. Weitere fünfzehn Minuten später sind die beiden Alarme noch immer an. Gelegentlich gucken irgendwelche Pflegerinnen zur Tür herein, es kommt aber keine auf die Idee, die Alarme auszuschalten. Mein Vater wird langsam wütend. Der kleine Pflegemops, der eigentlich für das Zimmer zuständig ist, ist weit und breit nicht zu sehen. Lächerlich.
15.45 Uhr. Mein Vater ist fast verzweifelt. Eine Mischung aus Trauer und Wut ist ihm deutlich anzusehen. Er kann nicht glauben, dass niemand diese verdammten Alarme abschaltet. Mir ist es auch ein Rätsel. Sind die alle etwas bekloppt? Wo ist die unförmige Pflegerin? Mein Vater holt jemanden, der das abstellen soll. Dummerweise hat dieser keine Ahnung, weshalb wir auf eine Pflegerin warten sollen. Bevor diese eintrifft, müssen wir das Zimmer verlassen, weil meine Mutter anders gelagert werden soll. Wir gehen in die Cafeteria und ich sage meinem Vater, dass er netter zum Personal sein muss, weil wir das verdammte Personal, auch die Pflegerin mit dem unfreundlichen Riesenkopf, noch brauchen. Er sieht es ein. Wir haben ja keine andere Wahl, sind abhängig von Menschen, die wir mitunter unmöglich finden.

Weil ich etwas besorgt bin, sage ich meinem Vater, dass er mehr essen und trinken muss und nicht noch weiter abnehmen darf. Und er soll öfter spazieren gehen. So wie früher. Vielleicht kann er dann abends bzw. nachts besser schlafen. Die Tabletten vom Arzt scheinen nicht (mehr) zu wirken. Ich sage ihm, dass es nicht gut ist, wenn er nur zu Hause sitzt und dann wieder im Krankenhaus ist. Er muss weinen. Das wollte ich doch nicht. Ich glaube, er ist einfach am Ende und nachdem die Pflegerin sagte, dass alles noch sehr lange dauert, schwinden seine Kräfte und seine Hoffnungen immer mehr. Ich weiß nicht, aber vielleicht ist eine feste Partnerschaft, vierzig und mehr Jahre mit einem Partner, einfach auch nicht die Ideallösung. Denn sobald einer krank wird, ist der andere doch völlig aufgeschmissen und leidet mit. Es ist als wäre mein Vater ohne meine Mutter völlig verloren. Ob er, wenn er muss, ohne sie leben kann? Schwer vorstellbar. Sein Plan war, wenn ich mich richtig erinnere, immer, dass er vor meine Mutter stirbt. Würde meine Mutter weniger leiden, wenn es andersrum gekommen wäre? Unnötige Gedankenspiele.

Als wir zurück kommen, ist meine Mutter etwas müder. Mein Vater fängt plötzlich an zu weinen. Die Situation ist nur schwer zu ertragen. Natürlich weint mein Vater nicht richtig. Er ist ein Meister darin, seine Tränen zu unterdrücken bzw. sie schnell abzuwürgen. Ob das so gut ist? Da meine Mutter nun fest schläft, verlasse ich das Zimmer, um einen Spaziergang zu machen.
Später bleiben wir noch ein paar Minuten bei meiner Mutter. Ihr Zimmer stinkt furchtbar. Gewollter Durchfall. Verstehe ich nicht. Mein Vater sagt meiner Mutter, dass er da ist, dass alles wieder gut wird, dass sie das schaffen wird, sie eine Kämpferin ist. Er versucht wirklich alles. Ach, könnte sie doch nur einmal erkennbar auf all seine Bemühungen reagieren. Zwei Pflegerinnen kommen ins Zimmer, richten die Zimmernachbarin auf, damit sie etwas essen kann. Sie kann selbstständig essen. Vor dem Zimmer taucht die korpulente Pflegerin auf. Sie hat wohl Feierabend und trägt zivil. Eine Jeanshose, die es mir ermöglicht einen Blick auf ihre Elefantenoberschenkel zu werfen. Selbst in Zivil hat sie dieses unfreundliche Gesicht dabei. Sie hat es als Kind sicher nicht leicht gehabt. Sie deutet den beiden Pflegerinnen im Zimmer an, dass diese rauskommen sollen, um gemeinsam zu rauchen. Das passt prima ins Bild. Übergewicht, rauchen und ein unfreundliches Gesicht.
Weil eine der Pflegerinnen etwas länger braucht, da sie noch etwas bei meiner Mutter zu tun hat, wird Miss Dickie ungeduldig, nölt rum und möchte die Pflegerin aus dem Zimmer nötigen, sich zu beeilen. Diese sagt abermals, dass es noch einen Moment dauert. Die unsympathische Dicke teilt ihr mit, dass sie ja weiß, wo sie zu finden ist und verschwindet. Sie braucht ihre Zigarette, sonst platzt sie vermutlich. An der Frau ist auch mit sehr viel Wohlwollen nichts zu finden, was man sympathisch finden kann. Was mag sie wohl wiegen? Mindestens 85 kg bei einer Größe von etwa 1,65m. Allein der Kopf wiegt sicher schon 20kg. Wenn sie doch wenigstens ein freundliches Wesen hätte.

Auf der Rückfahrt kann mein Vater seine Tränen nicht unterdrücken. „Kacke“, ist alles, was er sagt. Ich sage, dass er anhalten soll damit ich fahren kann. Er will nicht, weint weiter, ist verzweifelt ergriffen und ich habe das Gefühl, dass er nicht mehr lange diesem Druck standhalten kann. Während der gesamten Rückfahrt fällt es ihm schwer, sich zu beherrschen. Ich bin ratlos und sitze einfach nur da. Vielleicht sollte er reden. Alles mal loswerden. Doch dazu bin ich wohl nicht der geeignete Gesprächspartner.

Am Abend will er zum Helmut. Vielleicht wird da ja Karten gespielt. Er sagt, dass er raus muss. Immerhin etwas. Und ja, er muss raus. Und es ist allemal besser als bei mir zu sitzen. Ablenkung muss sein, auch wenn er sich das vielleicht nicht wirklich zugesteht. Aber alles andere macht einen kaputt.

Ich hoffe, dass es irgendwelche Fortschritte gibt, bis wir nächste Woche das Gespräch mit dem Arzt führen werden. Nur eine Kleinigkeit, die meinem Vater hilft, besser mit allem zu Recht zu kommen. Und am Donnerstag fürchte ich, dass mein Vater zusammenbrechen wird, wenn er überhaupt bis dahin durchhalten wird. Und ich hoffe, dass er mehr isst und trinkt als in den letzten Tagen. Denn was bleibt meiner Mutter, wenn er schlapp macht und ausfällt? Der Alptraum geht immer weiter.

Tag 91
Unaufhörlich rast die Zeit. Der nächste Tag bringt keine erkennbaren Veränderungen. Meine Mutter schläft sehr viel, während mein Vater bei ihr ist. Ein paar Fingerübungen macht sie gut mit. Doch es ist frustrierend für meinen Vater zu erkennen, dass es nicht wirklich vorangeht. Seine Euphorie, sein Glauben an die baldige Rückkehr meiner Mutter, sind erschüttert. Frust, Resignation, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit scheinen an diese Stelle gerückt zu sein. Nein, er gibt nicht auf. Aber seine Kräfte scheinen zu schwinden. Nur ein kleines Tal oder eine Vorstufe zum völligen Zusammenbruch?

Von 17.30 Uhr bis 18.00 Uhr steht Intensivtherapie auf dem Therapieplan meiner Mutter. Dummerweise kommt aber niemand, um sich um meine Mutter zu kümmern. Mein Vater meldet das einer Pflegerin. Sie ist überrascht und gibt es weiter. Mehr passiert nicht.
Was also nützt es, wenn wir täglich auf einem Therapieplan lesen können, was mit meiner Mutter gemacht wird, wenn am Ende aber niemand erscheint? Wir glauben, es wird alles getan, was auf dem Plan steht, in Wirklichkeit aber passiert scheinbar nichts. Müssen wir denn nun täglich ab 09.00 Uhr im Krankenhaus sein, um zu überprüfen, ob wirklich alles, was getan werden soll, auch wirklich getan wird? Das kann es doch wohl nicht sein. Wird man eigentlich nur noch verarscht? Die haben verdammtes Glück, dass wir meine Mutter nicht dazu befragen können. Scheiß Ärsche.

Tag 92
Da wir nicht sofort ins Zimmer können, warten wir noch einen Moment. Die stabile Pflegerin kommt auf uns zu. Zu meiner Überraschung lächelt sie und grüß freundlich. Wenn sie lächelt sieht sie ganz normal aus. Sie sollte viel öfter mal lächeln. Unverzüglich schäme ich mich, dass ich vorgestern so schlecht über sie gedacht habe. Vielleicht hatte sie ja nur einen schlechten Tag und ist gar nicht die schlimmste Schwester der Station. Wenn sie freundlich lächelt, fällt auch gar nicht so auf, dass sie einen großen Kopf hat. Vielleicht habe ich, was sie betrifft, einfach überreagiert. Ich werde sie beobachten.

Meine Mutter ist völlig K.O. Sie schläft und schafft es nur ganz kurz, mal die Augen zu öffnen. Ihr Blutdruck ist bei 111 zu 54. Ein zusätzlicher Grund so müde zu sein. Mein Vater kommt sehr schlecht damit klar, wenn meine Mutter so müde ist und nur schläft. Er will mit ihr üben. Wie jeden Tag macht er immer wieder ein Taschentuch nass, um ihr den Mund abzuwischen. Da meine Mutter darauf heute nur minimal reagiert, ist er ziemlich niedergeschlagen. Nur mit großer Mühe schafft er es, nicht loszuheulen. Er geht zum Fenster und putzt sich die Nase.

Zwischen 15.30 und 16.00 Uhr steht wieder Intensivtherapie auf dem Programm. Und wie schon gestern erscheint der Mann, der diese durchführen soll, nicht. Mein Vater fragt einen Pfleger. Dieser erklärt, dass solche Therapien nur bis 14.00 Uhr stattfinden und danach auch keiner mehr im Hause ist, der so etwas macht. Er ist sich sicher, dass die Intensivtherapie bereits am Vormittag gemacht wurde und erklärt irgendwie plausibel, warum die Uhrzeiten auf dem Plan oft falsch eingetragen werden. Irgendein organisatorisches Problem. Ob er nun ein sehr glaubwürdiger Lügner ist, wirklich glaubt, dass die Therapie stattgefunden hat, es aber nicht weiß, oder ob die Therapie tatsächlich stattgefunden hat, werden wir wohl nie erfahren. Wenn meine Mutter doch nur sprechen könnte.

Als wir für eine Weile ins Cafe wollen, spricht mich die Zimmernachbarin, Frau Buchholz, an. Ich solle bitte eine Tür schließen. Ich frage sie, ob sie die Schranktür meint. Sie deutet in die andere Richtung. Weder ich noch mein Vater verstehen sie. Weil in der anderen Richtung das Fenster ist, frage ich, ob ich dieses schließen soll. Nein. Die Zimmertür? Nein. Ratlos stehen mein Vater und ich vor dem Bett von Frau Buchholz. Mein Vater sagt, dass er auch nichts versteht. Ich sage Frau Buchholz, dass ich nicht weiß, was sie möchte und dass ich die Schranktür schließen werde. Sie sagt, ich solle es vergessen und winkt resigniert ab. Ich schließe die Schranktür und Frau Buchholz bedankt sich. Ob sie nur höflich ist oder am Ende tatsächlich wollte, dass ich die Schranktür schließe, kann ich nicht sagen.

Als wir zurück vom Cafe sind, schläft meine Mutter noch immer, was meinen Vater schier verzweifeln lässt. Eine Pflegerin kommt zu meiner Mutter, um den Blutzucker zu messen. 398. Wir sind entsetzt und fragen die Pflegerin. Diese erklärt uns, dass meine Mutter viermal täglich 500ml einer besonders nährreichen Kost bekommt. Diese treibt den Zuckerwert immer extrem hoch, so dass direkt danach, wenn ein Beutel leer ist, Insulin gespritzt werden muss. Diese Nahrung ist aber wichtig, weil meine Mutter durch den Durchfall so geschwächt ist und die Nahrung braucht, weil so die Wunde am Steißbein besser heilt. Durch die hohen Zuckerwerte würde sie sonst schlecht abheilen. Für mich klingt das unlogisch. Die hohen Zuckerwerte werden doch erst durch die Nahrung verursacht. Ich denke, dass man auch anders die notwendigen Elektrolyte zuführen könnte. Das ist genauso als würde jemand mit Übergewicht, weil er sonst traurig ist, dass er Übergewicht hat, immer weiter gefüttert werden, weil die Nahrungszufuhr scheinbare Glücksgefühle auslöst, aber auf lange Sicht nur noch Unzufriedener und schwerer machen. Ein Kreislauf, der zu keinem guten Ergebnis führen kann. Das kann selbst ich als vollkommener Laie erkennen, dass das nicht funktionieren kann. Derjenige, der das veranlasst hat, muss sehr dumm sein. Doch wie können wir es schaffen, dass nicht einfach wahllos immer mehr Nahrung, die den Zuckerwert in bedrohliche Höhen treibt, in meine Mutter geleitet wird?

Zu der äußerst gesunden Schonkost bekommt meine Mutter dreimal täglich ein Antibiotikum. Clont. Ein Mittel, dass vor lauter Nebenwirkungen, Durchfall, Schläfrigkeit, Verwirrtheitszustände, Sehstörungen, nur um einige zu nennen, sicher mit für den momentanen Zustand meiner Mutter zuständig ist.. Es ist also wenig verwunderlich, dass meine Mutter seit Tagen fast nur noch schläft. Fast alles, was man bei meiner Mutter ja eigentlich behandeln will, wird durch dieses Medikament möglicherweise ausgelöst, verstärkt oder unterstützt. Von möglichen Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln, die meiner Mutter verabreicht werden, mal abgesehen, da wir ja gar nicht wissen, was meine Mutter noch alles bekommt. Es wirkt so als würde man erst mal alles in meine Mutter einführen, um dann zu sehen was passiert oder um eben festzustellen, dass nicht das passiert, was man sich erhofft hatte. Und dann verbreicht man einfach ein weiteres Medikament. Und wenn nichts hilft, kann man meine Mutter immer noch in ein Pflegeheim abschieben. Auf mich wirkt das alles gerade nicht sehr vertrauenswürdig.

Tag 93
Meine Mutter ist etwas wacher als am Vortag. Der Zuckerwert, der nach der Gabe ihrer nährreichen Kost gemessen wird, liegt bei 198. So niedrig, wie schon lange nicht mehr. Ob es daran liegt, dass ihr mehr Insulin gespritzt wurde, oder ob einfach so ist, erfährt mein Vater nicht. Aber er erfährt, dass der Schlauch aus dem Darm entfernt wurde. Gestern schon. Der Durchfall ist zwar nicht ganz weg, aber so weit besser, dass dieser Schlauch nicht mehr benötigt wird. Hoffentlich bleibt es dabei, würde es doch bedeuten, dass meine Mutter in den nächsten Tagen wieder in den Rollstuhl gesetzt werden kann. Das wäre was.

Und so gibt es an diesem Samstag völlig unverhofft eine positive Nachricht, die wir so absolut nicht erwartet hätten. Eine deutliche Erleichterung in dieser unbefriedigenden und schwierigen Phase. So darf es gerne weitergehen.

Tag 94
Etwas frustriert kommt mein Vater vom Besuch meiner Mutter zurück. Meine Mutter hat wieder viel geschlafen, deshalb haben die beiden nur wenig geübt.
Mein Vater erzählt, dass der linke Arm, den meine Mutter meist versteift hat, irgendwann locker wurde und er dann ihren Arm ein paar Mal bewegen konnte. Einmal legte er den Arm ausgestreckt ab und plötzlich nahm meine Mutter selbständig den Arm weg und legte ihn auf ihren Bauch. Mein Vater war sehr überrascht und fragte meine Mutter, was sie da gemacht habe. Er meint, in ihrem Gesicht ein Lächeln gesehen zu haben. Er ist sich sicher, dass sie Scherze macht. Ich weiß nicht, ob er Recht hat und ob meine Mutter wirklich Scherze machen kann, erkenne aber, dass meinem Vater solche Momente guttun. Und es ist selten in letzter Zeit, dass mein Vater etwas Erfreuliches zu berichten hat. Und vielleicht ist es sogar wahr. Vielleicht ist es meiner Mutter in irgendeiner Form wirklich möglich, bewusst solche Dinge zu tun. Zu wünschen wäre es jedenfalls.

Tag 95
Es ist deutlich angenehmer, ein Zimmer zu betreten, welches nicht mehr nach Durchfall riecht. Passend dazu sagt uns eine blonde Pflegerin, die mein Vater sympathisch findet, was ich durchaus verstehen kann, dass meine Mutter heute erstmals normalen Stuhl hatte. Der Durchfall scheint tatsächlich bekämpft. Und das nach so vielen Wochen. Die Zimmernachbarin, Frau Buchholz, ist nicht da. Zunächst vermute ich, dass sie zu einer Untersuchung ist. Später entdecke ich sie in einem Rollstuhl auf dem Flur sitzen. Damit hätte ich nicht gerechnet. Ein schöner Fortschritt.

Meine Mutter hat im Bett eine fast sitzende Position eingenommen. Dafür schläft sie aber und beachtet uns kaum. Ich vermute, dass Sie vom Antibiotikum so müde ist. Wir fragen danach. Vom Antibiotikum weiß die blonde Pflegerin nichts. Die junge Pflegerin, die nun ebenfalls im Zimmer ist, weiß auch nichts von einem Antibiotikum. Sie sagt, wir meinen bestimmt das Durchfallmittel. Nein, meinen wir nicht. Oder doch? Das werden wir jetzt wohl nicht mehr klären.

Meine Mutter muss zum Röntgen, weil ihre Temperatur in den letzten Tagen schwankte und öfter leicht erhöht war. Die Lunge wird deshalb geröntgt und wir gehen in die Cafeteria.

Zurück im Zimmer wurde meine Mutter anders hingelegt. Sie schläft weiter. Die Zimmernachbarin will auch ins Bett gelegt werden und möchte später nicht zurück in den Rollstuhl. Dafür muss sie mal. Wir werden aus dem Zimmer gebeten. Als wir wieder ins Zimmer zurück dürfen, tötet mich der Geruch fast. Ich kann es nur mit Mühe und Not unterdrücken, zu würgen. Ich könnte hier nicht arbeiten.

Insgesamt bleibt festzustellen, dass meine Mutter ihre Arme etwas lockerer hat. Sie ist weniger verkrampft. Ob das irgendeine relevante Bedeutung hat, weiß ich allerdings nicht. Weniger gefällt mir, dass sie zwar ihre Augen ab und zu öffnet, aber mich oder meinen Vater nicht einmal fixiert. Sie starrt einfach nur geradeaus. Mir gefällt das nicht. Ob das etwas zu bedeuten hat, erfahren wir vielleicht schon am Donnerstag. Ich muss gestehen, dass mir wegen dem Gespräch schon etwas mulmig ist. Ich fürchte, dass mir das Gespräch nicht gefallen wird. Und meinem Vater dann noch weniger.

Als wir das Zimmer verlassen, spricht mich Frau Buchholz an. Natürlich verstehe ich sie nicht wirklich. Ich verstehe „Kalender auf Rot stellen“. In Wahrheit möchte sie aber, dass ich den Fernseher umschalte. Da ich das Programm Rot nicht kenne, schalte ich einfach durch bis sie beim WDR zu verstehen gibt, dass das ihr Programm ist. Frau Buchholz kann zwar selbstständig essen, schafft es aber nicht, sich dabei nicht völlig zu beschmieren. Ich glaube nicht, dass ich alt werden möchte. Dennoch hoffe ich, dass Frau Buchholz zufrieden ist mit dem eingestellten Programm. Mein Vater ist es nicht. Er hätte es besser gefunden, wenn ich RTL eingestellt hätte, weil da ja später die Lieblingssendungen meiner Mutter laufen. Ich sage ihm, dass das nicht ging, weil Frau Buchholz ja WDR gucken wollte und meine Mutter gerade schläft.

Tag 96
Am Dienstag ist meine Mutter wieder sehr müde und mein Vater kann kaum etwas mit ihr üben. Das findet er natürlich nicht gut. Am Vormittag wurde sie in ihren Rollstuhl gesetzt. Doch der Pfleger weiß nicht wie lange und hat auch sonst keine Details.

Tag 97
Noch ein Tag bis zu dem Gespräch mit dem Arzt. Ich bin nicht wirklich entspannt. Diese, wenn auch notwendigen Gespräche, sind einfach immer eine Belastung, zumal wir ja nie wissen, ob wir nicht etwas zu hören bekommen, was uns den Boden unter den Füßen wegreißt.

Als ich am Nachmittag in der Wanne liege, bekomme ich einen Anruf von einer Frau. Sie trägt einen Doppelnamen und arbeitet für die Knappschafft. Frau Dahl-Jansen ist für die Pflegestufe meiner Mutter zuständig. Sie sagt, dass wir damals um ein Gespräch gebeten haben und möchte nun einen Termin mit uns vereinbaren. Denkbar ungünstiger Moment. Ich bin zu nass, um Termine zu vereinbaren. Ich sage ihr, dass meine Mutter in Hagen-Ambrock liegt, wir erst morgen mit einem Arzt sprechen und ich mich dann wegen des Gesprächs melde. Sie sagt, dass sie einverstanden ist und dass meine Mutter Pflegestufe 1 genehmigt bekommen hat, weil das wohl immer so ist, dass zunächst Pflegestufe 1 genehmigt wird, und sie gerne meine Fragen beantwortet. Ich bin noch immer zu nass, um Fragen zu formulieren. Ich wollte doch nur entspannt baden. Wir beenden das Gespräch und ich schlafe in der Wanne ein.

Am Abend ruft mich mein Vater an, um mir von seinem Besuch zu erzählen. Meine Mutter hat am Vormittag zwei Stunden im Rollstuhl gesessen und war wacher als am Vortag. Sie hat auf jede Berührung reagiert, was sonst nicht der Fall war. Außerdem war eine Frau oder Ärztin da, die für die Atmung zuständig ist. Sie sagte, dass es nicht schlimm ist, dass meine Mutter noch den Zugang im Hals hat und noch nicht ohne atmen kann. So etwas kann manchmal lange dauern und hat noch nichts zu sagen. Nächsten Mittwoch kommt sie wieder, um sich mit meinem Vater und mir zu unterhalten. Nächsten Mittwoch? Dabei ist der Aufenthalt für meine Mutter doch auf drei Wochen beschränkt. Und diese enden nächsten Dienstag. Wurde der Aufenthalt in der Zwischenzeit etwa verlängert. Wäre schön.

Tag 98
Heute ist er. Der Tag, der mir seit Tagen Sorgen bereitet. Und deshalb sind wir mehr als pünktlich im Krankenhaus. Und weil wir noch Zeit haben, gehen wir zuerst zu meiner Mutter. Sie ist wach, schaut uns aber nicht an. Dafür erschreckt sie jedes Mal total, wenn wir sie berühren. Dabei sieht sie obendrein sehr erschrocken, irgendwie gequält, aus. Ich frage mich, ob sie uns überhaupt sehen kann. Ob sie überhaupt irgendwas sehen kann. Ich glaube, sie ist blind. Kurz bevor wir los müssen, wird mir schlecht. Mein Magen rebelliert. Eine typische und dennoch unangenehme Sache.

Der Oberarzt empfängt uns in seinem Büro. Er wirkt sympathisch. Wir nehmen Platz und zunächst fragt er uns, ob wir bei meiner Mutter etwas festgestellt haben. Mein Vater sagt, dass er das Gefühl hat, dass meine Mutter Fortschritte macht. Der Arzt bestätigt dies. Er ist zufrieden mit der Entwicklung. Das fängt positiver an als erwartet. Nun zeigt er uns Aufnahmen vom Gehirn meiner Mutter. Er erklärt alles detailliert und sagt, dass etwa 40% des Gehirns meiner Mutter defekt sind. Das ist viel. Die Tests haben ergeben, dass meine Mutter, bzw. ihr Gehirn, dennoch auf allen getesteten Ebenen Reaktionen zeigt. Lediglich die visuellen Reaktionen sind mehr verzögert, was aber okay und im Rahmen ist. Meine Mutter wird aber ein Pflegefall bleiben. Inwieweit sie sich noch erholt, ist nicht abzusehen zum jetzigen Zeitpunkt. Mein Vater fragt nach dem Schlucken. Die Antwort ist niederschmetternd. Der Arzt sagt, dass der Bereich des Gehirns, der dafür zuständig ist, sehr stark geschädigt ist und sie vermutlich nie wieder wird selbstständig schlucken können. Mein Vater hält es nicht mehr aus. Verzweifelt steht er auf, dreht sich weg und weint. Der Arzt und ich schweigen. Was sollen wir auch sonst tun? Mein Vater fragt, warum es nicht ihn erwischt hat. Eine Frage, die unbeantwortet bleibt. Ich bin natürlich auch getroffen, denke aber, dass es mich etwas weniger trifft als meinen Vater, weil ich irgendwann mit dem Gedanken, dass alles wieder gut werden wird, abgeschlossen habe. Trotzdem ist es hart, dass nun zu hören. Ich versuche mich, so wie ich es immer mache, von der Situation abzugrenzen, um mich zu schützen. Ob das so gesund ist, kann ich nicht beurteilen.

Mein Vater beruhigt sich nach einer Weile und setzt sich wieder hin. Er fragt nach den Entzündungswerten und dem Antibiotikum. Seit heute bekommt meine Mutter Ciproflaxacin. Insgesamt sind die Werte aber besser und der Arzt ist zuversichtlich, dass meine Mutter in der nächsten Woche möglicherweise kein Antibiotikum mehr braucht. Das wäre ja was.
Mein Vater sagt, dass es ja nicht so sein muss, dass meine Mutter nie mehr Schlucken kann. Der Arzt sagt, dass man das nie endgültig sagen kann, bisher aber nichts dafür spricht, dass der Schluckreflex wiederkehrt. Ein Leben mit künstlicher Ernährung. Ein mieser Gedanke und keine akzeptable Vorstellung.

Der Arzt sagt weiter, dass meine Mutter derzeit in etwa wie ein Baby ist, dass alles lernen muss. Sie bekommt vieles mit, kann leichte Ansagen sicher auch verstehen, ist bei komplexen Sätzen aber überfordert. Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass sie meinen Vater und mich als Ehemann und Sohn erkennt. Das, so hofft er, wird aber durch das Training irgendwann anders sein. Wir sollen auch nie mehr als eine halbe Stunde am Stück ihre Konzentration fordern, weil wir sie sonst überfordern. Die Wunde am Steißbein heilt sehr langsam, aber sie wird nicht schlimmer, weshalb auch das eine gute Nachricht ist. Der Arzt hat eine sehr ruhige Art und seine Aussagen sind leicht verständlich, was mir sehr gefällt. Er malt nicht alles schwarz, lässt aber auch nichts weg, um uns zu schonen. Er sagt, die Wahrheit muss er uns sagen. Die Reha ist bis Ende September genehmigt und eine Verlängerung muss alle zwei Wochen beantragt werden. Er ist aber zuversichtlich, dass die Krankenkasse seinen Anträgen immer nachkommt. Ich hoffe, dass er da Recht hat und meine Mutter noch eine Weile dort behandelt werden kann. Der Plan des Arztes sieht das wohl vor. Wir verabschieden uns und gehen sichtlich geknickt zu meiner Mutter. Sie ist müde. Mein Vater sagt ihr, dass sie eine Kämpferin ist und sie das schaffen. Ich sage nichts. Starre sie nur an. Ist das wirklich besser als tot zu sein? Im Moment noch, weil trotz allem die Hoffnung noch irgendwo keimt. Doch wenn es nicht besser wird, ist es dann auch noch besser als tot zu sein? Ich werde es nie wissen. Vielleicht auch besser so.

Wir gehen zum Auto. Etwas trinken und eine Banane essen. Mein Vater weint, fragt „Warum“ und warum es nicht ihn erwischt hat. Ich sage ihm, dass das Quatsch ist, was vermutlich auch Quatsch ist. So geht Hilflosigkeit.

Nach einer Weile sind wir wieder bei meiner Mutter. Frau Buchholz möchte, dass ich irgendwas auf mache. Ich vermute, ich soll den Fernseher aus machen. Ich vermute richtig. Frau Buchholz freut sich. Sie kann wenigstens sprechen. Geht es ihr deshalb wirklich besser? Weiß ich nicht.

Eine Ärztin kommt zu uns und sagt, dass wir ab sofort Schutzhandschuhe, Mundschutz und Kittel tragen müssen. Meine Mutter hat eine Harnwegsinfektion. Schon wieder. Da noch nicht klar ist, ob es weitere Bakterien gibt, ist diese Schutzmaßnahme notwendig. Ein weiterer Niederschlag für meinen Vater. Ich nehme die Situation einfach so hin. Was soll ich auch sonst tun? Ist in Krankenhäusern eben so, dass die Patienten ständig verseucht sind.
Wir schlüpfen in unsere Sicherheitskleidung. Mein Vater redet mit der blonden Pflegerin, die er so nett findet. Er erzählt ihr von unserem Arztgespräch und von seinem Bekannten, der neun Monate hier lag und nun wieder verreisen kann. Die Pflegerin sagt, dass man die Hoffnung niemals aufgeben darf und Ärzte sich irren können. Hoffen wir es.

Das Gespräch, welches mein Vater gestern mit der Frau führte, die für das Schlucken zuständig ist, muss nun als Hoffnungsbrücke herhalten. Mein Vater sagt, dass die Frau gesagt hat, dass es noch nichts zu sagen hat, dass meine Mutter noch nicht schlucken kann und alles noch werden kann. Dies ist unser letzter Strohhalm im Kampf gegen die totale Hoffnungslosigkeit. Sollte er brechen, wird meine Mutter nie mehr nach Hause zurückkehren können. Das heißt aber auch nicht, dass sie es definitiv kann, wenn das mit dem Schlucken doch eines Tages klappen sollte. Es ist und bleibt eine beschissene Situation. Und ich kann mir nicht einmal annähernd vorstellen, wie schrecklich das alles für meinen Vater sein muss. Und das ist vermutlich auch gut so.

Tag 99
Nie wieder selbständig essen, nie wieder sprechen. Das ist das, was ich vom gestrigen Tag Gespräch mitgenommen habe und was mich beschäftigt. Das vieles andere positiv läuft, ist mir gerade nur ein schwacher Trost. Leben um jeden Preis? Ich weiß ja nicht. Es ist einfach nicht möglich. Ich sehe nur das, was ich täglich im Krankenhaus sehe. Und das passt leider sehr gut zu der Aussage des Arztes. Nie mehr schlucken. So etwas passiert sonst anderen, aber man selbst ist davon nicht betroffen. Ein Pflegefall in der Familie war immer undenkbar. Nicht einen Gedanken habe ich daran verschwendet. Die Gedanken, dass alle irgendwann sterben, waren mir schon unangenehm genug. Und jetzt das. Dann ausgerechnet meine Mutter. Was würde sie wohl dazu sagen? Werden wir wohl nie erfahren. Und so denke ich darüber nach, wie schnell so etwas passieren kann und man selbst so daliegt. Bei mir würde aber nicht täglich jemand am Bett sitzen und versuchen, mich zu motivieren. Aber würde ich das überhaupt merken?

Überhaupt ist es erschreckend, wie viele Menschen hier im Krankenhaus in einem sehr bedauerlichen Zustand liegen. Überall werden Leute in ihren Rollstühlen durchs Gebäude geschoben. In den Zimmern liegen Leute, die einfach so ins Nichts starren. Diese Vielzahl ist beängstigend. Und all das sieht man nicht, wenn es einem gut geht und man selbst nicht durch irgendeinen blöden Umstand mit all dem hier konfrontiert wird. Und ich glaube, dass es auch gut ist, wenn man mit all dem hier nichts zu tun hat. Noch besser ist es, wenn man es schafft, sein Leben ohne Kenntnisse dieser Umstände zu verbringen.

Ich denke an die Frau, die in den ersten Tagen immer um Hilfe schrie und an Frau Buchholz, die wie ein Kleinkind ist, sich beim Essen beschmiert und nicht wirklich deutlich sprechen kann. Dazu meine Mutter, die gar nicht sprechen kann. Wenn das Leben nicht grausam ist, was ist es dann?

So sehr ich auch versuche, an die anderen, positiven Aussagen des Arztes zu denken, es gelingt mir nicht. Eine meiner ausgeprägten Eigenschaften. Wenn verdrängen nicht klappt, dann intensiv mit dem Schlechten beschäftigen. Schön blöd.

Mein Vater ruft an, um mir von seinem Besuch zu berichten. Meine Mutter hat viel geschlafen und war schreckhafter als je zuvor. Selbst bei jedem Geräusch ist sie zusammengezuckt. Berührungen schienen ihre regelrechte Angst zu machen. Es dauerte sehr lange bis mein Vater ein paar Übungen mit ihr machen konnte. Hoffentlich ist das dennoch alles gut so und diese Veränderung, so merkwürdig sie uns auch erscheint, ist ein Schritt in die richtige Richtung und die Schreckhaftigkeit nur ein vorübergehendes Phänomen.

Tag 100
Heute sollte eigentlich alles anders sein, denn irgendwann als diese ganze Situation noch recht frisch war, hatte ich gedacht, dass nach hundert Tagen alles vorbei ist. So oder so. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass nach dieser langen Zeit alles so sein würde. Ich dachte, dass meine Mutter wieder zu Hause sein würde, wenn sie es tatsächlich überlebt hätte, und wir über die Zeit reden könnten. Doch nun ist meine Mutter weder tot, noch kann sie über irgendwas reden. Vermutlich weiß sie weder, was passiert ist, noch was gerade passiert.

Hundert Tage sind eine Ewigkeit. Zumindest kommt es mir so vor. Andererseits sind die Tage schnell vergangen. Wie die Zeit sowieso viel zu schnell vergeht. Und schon ist man tot. Zumindest, wenn man Glück hat. Wenn nicht ist man ein Pflegefall. Ob die Zeit dann auch noch schnell vergeht, das weiß ich nicht.

Ich hatte tatsächlich gehofft, dass ich gemeinsam mit meiner Mutter meine Notizen, die ich während ihrer Genesung gemacht habe, lesen zu können. Und zwar genau heute. Nach hundert Tagen. So war der Plan in meinem Kopf. Den kann ich wohl vergessen. Und einen neuen hundert Tage Plan, mag ich nicht machen. Ich kann mir gerade nicht vorstellen, dass meine Mutter noch hundert Tage im Krankenhaus verbringen wird. Ich fürchte, dass sie in hundert Tagen in einem Pflegheim untergebracht sein wird. Vielleicht erkennt sie mich dann, weil ich sie regelmäßig besuche. Wobei es mir lieber wäre, sie würde mich erkennen, weil ich ihr Sohn bin. Aber am heutigen Tag bin ich da nicht so zuversichtlich.

Ich frage mich, wo ich wohl in hundert Tagen wohnen werde. Denn auch das ist nicht geklärt. Was passiert mit der Wohnung, wenn alles so kommt, wie es keiner will? Ich weiß, dass ist in Anbetracht der Gesamtsituation unwesentlich, doch es gehört zur Gesamtsituation dazu, dass ich mir auch über solche Kleinigkeiten Gedanken mache. Alle Renovierungsarbeiten, die für dieses Jahr geplant waren, habe ich jedenfalls ausfallen lassen. Warum soll ich etwas tun, von dem ich am Ende nichts habe? Dazu ist mein Geld etwas zu kostbar.

Und so beginnen morgen die Tage, die über meine Zeitrechnung hinausgehen. 100+ nenne ich sie. Und trotz all dieser negativen Vorzeichen, bleibt noch ein Rest Hoffnung. Mehr aber auch nicht.

Tag 100 + 1
Als wir zu meiner Mutter kommen, liegt sie im Bett und hat die Zunge halb raus. Sie ist wach, reagiert aber kaum bis gar nicht auf uns. Mein Vater möchte, dass sie die Zunge rein macht. Macht sie aber nicht. Mit dem Daumen der rechten Hand macht sie ständig irgendwelche Bewegungen. Auch zieht sie leichte Grimassen. Das gefällt mir nicht und ich bin irgendwie froh als sie einschläft.
Als sie nach 45 Minuten aufwacht, wird es unangenehm. Sie bewegt ihre Hände hin und her, zieht üble Grimassen und reagiert nur minimal auf unsere Versuche, sie zu beruhigen. Mein Vater hält das kaum aus. Er dreht sich weinend weg. Ich muss feststellen, dass ich recht kühl und sachlich reagiere. Ich versuche sie zu beruhigen, nehme ihre Hand und sie wird etwas ruhiger. Zumindest für einen Moment. Es ist dennoch kaum zu ertragen mit anzusehen, wie sie, scheinbar völlig losgelöst von allem, Grimassen schneidet. Es ist fast wie vor einigen Wochen im Dortmunder Krankenhaus. Damals bekam sie Medikamente, die das verhindern sollten und wohl auch verhindert haben. Ich fürchte, dass meine Mutter entweder ruhiggestellt wird oder so wie heute in Zukunft immer drauf ist. Hoffnung schwindet mehr und mehr. Diese Frau hat nicht mehr viel von meiner Mutter, außer, dass sie meine Mutter ist. Grausam.
Weil meine Mutter wenig später umgedreht werden muss, gehen wir ins Cafe. Erneut geben wir sechs Euro für Kuchen und Getränke aus. Das machen wir dreimal pro Woche. Unwichtige Details am Rande einer Katastrophe.

Später im Zimmer ist meine Mutter etwas ruhiger, schläft aber auch fast ständig. Die nette, blonde Pflegerin sagt, dass diese Nervosität meiner Mutter davon kommen kann, dass sie immer wacher wird. Oder vom hohen Zucker, der Wert lag wieder bei knapp unter 400. Derart hohe Zuckerwerte können eine solche Unruhe hervorrufen. Leider glaube ich nicht, dass es daran liegt. Doch meinem Vater helfen solche Informationen scheinbar sehr. Und das ist im Moment äußerst wichtig. Ich hoffe, dass er am Ende nicht zu enttäuscht sein wird, wenn es irgendwann heißt, dass keine weiteren Fortschritte möglich. Schon jetzt weiß ich, dass jede Hoffnung utopisch ist und ich habe keine Ahnung, wie das werden soll. Ich habe auch keine Ahnung, wie es werden kann. Ich sehe einfach kein Licht am Ende des Tunnels. Und alleine von utopischer Hoffnung wird leider am Ende niemals alles gut.

Tag 100 + 2
Mein Vater hat seit Wochen Halsschmerzen, die einfach nicht weggehen wollen. Der Stress der letzten Wochen, der Schlafmangel, all das zerrt an ihm. Er bräuchte Ruhe. Vorerst wird er sie nicht finden.

Meine Mutter liegt nun auf einem Einzelzimmer. Bakterien sind mal wieder der Grund, dass sie verlegt wurde. Bakterien scheinen sich bei ihr, die kein Immunsystem mehr hat, sehr wohl zu fühlen. Für den Aufbau des Immunsystems sind Krankenhäuser nicht zuständig.

Mein Vater meint, dass meine Mutter heute etwas besser drauf ist als am Vortag, weil sie nicht ganz so viel schläft und er etwas mit ihr üben kann. Ich wünschte, er hätte Recht. Hat er Recht?

Tag 100 + 3
Am nächsten Tag gibt es keine erwähnenswerten Unterschiede zum Vortag. Meine Mutter ist vielleicht etwas entspannter. Vielleicht hat mein Vater das auch nur im Gefühl. Frag nur nicht nach dem Sinn. Du wirst ihn nicht finden. Es gibt ihn nicht.

Tag 100 + 4
Heute soll das Gespräch mit der Therapeutin, die fürs Schlucken zuständig ist, stattfinden. Etwas später als geplant, betreten zwei Frauen und ein Mann, der sich später als Bruder eines Pflegers auf der Station zu erkennen gibt, das Zimmer und stellen sich kurz vor. Ich vergesse die Namen, noch bevor sie ausgesprochen sind.
Die Frau fragt, ob wir irgendwelche Fragen haben. Ich frage, ob es Fortschritte beim Schlucken gibt. Die Frau sagt, dass sie dafür nicht zuständig sind. Sie sind da, um uns zu erklären, wie wir meine Mutter, falls wir sie zu Hause pflegen wollen, richtig behandeln. Lagern, waschen, pflegen. Ich will davon nichts wissen. Ich kann so etwas nicht. Da hat mein Vater letzte Woche wohl etwas ganz falsch verstanden. Er dachte, es geht darum, wie es mit der Schlucktherapie voran geht. Außerdem war er sicher, dass ihm gesagt wurde, dass das Zeit braucht und nicht von Bedeutung ist, dass meine Mutter noch nicht schlucken kann. Nun stellt sich heraus, dass es lediglich um die Pflege ging und darum, dass es lange dauern kann bis meine Mutter vielleicht wieder etwas aktiver am Leben teilnehmen kann. Als meinem Vater das bewusst wird und ihm erklärt werden soll, wie er Mundpflege betreiben kann, kommen ihm die Tränen und er muss sich abwenden. Das ist alles ganz anders als es hätte sein sollen. Auch ich möchte nicht wissen, wie ich meine Mutter anders lagere oder waschen kann. Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Das ist zu viel. Das ist nichts als ein Alptraum.
Mein Vater, den hier wohl gerade irgendwelche Hoffnungen geraubt werden und die Realität einholt, muss sich mehrmals abwenden, bevor er sich zeigen lässt, wie er den Mund meiner Mutter reinigen kann. Etwas zu tun zu haben und tun zu können, beruhigt ihn.

Sie bieten uns an, uns mit anderen Betroffenen zu treffen und auszutauschen. Das soll Hemmungen abbauen und den Umgang mit der Situation erleichtern. Ich möchte das nicht. Jedes Wochenende finden solche Treffen wohl statt. Worum es da wirklich geht, bekomme ich nicht mit, weil das alles zu viel für mich ist. Die sollen endlich gehen. Doch bevor es soweit ist, bekommen wir noch ein paar nützliche Tipps. Dann endlich ist der Spuk vorbei und sie verabschieden sich. Sie von nun an wohl jeden Mittwoch kommen, um meine Mutter gemeinsam mit uns zu pflegen und uns auf das Leben nach dem Krankenhaus vorzubereiten. Ich finde das nicht gut. Wir können meine Mutter nicht pflegen. Das geht nicht. So jedenfalls nicht.

Dieses Zusammentreffen war alles andere als erbaulich. Statt der Sprachtherapeutin, gab es ein Gespräch, welches unsere Hilflosigkeit nur noch mehr bestätigt hat. Und je länger das alles dauert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass je wieder etwas gut wird. Und was von alldem hilft meiner Mutter wirklich?

Tag 100 + 5
Blutdruck 51 zu 40. Puls 98. Das sind die nackten Fakten, nachdem mein Vater fast zwei Stunden bei meiner Mutter ist. Dann endlich wird gehandelt. Beine hoch und Kopf tief lagern. Das ganze System scheint instabil. Auch wenn diese Maßnahmen helfen und der Blutdruck anschließend auf fast 75 zu 44 steigt, erscheint das alles wenig vertrauenserweckend. Dies muss beobachtet werden. Denn normal kann das nicht sein. Oder doch?

Bis zu dem Vorfall wirkt meine Mutter etwas verändert. Mein Vater sagt, dass sie immer wieder die Augen sehr weit öffnete und er das Gefühl hatte, dass sie in diesen Momenten bewusst mitbekam, was um sie herum passierte. Außerdem sagt er, dass sie ihre Hand fast ruckartig und fast ohne seine Hilfe nach unten bewegt hat. Morgen werde ich vielleicht sehen, ob es wirklich Veränderungen gibt oder ob das nur tagesformbedingt war oder mein Vater es nur so interpretiert hat. Ich fürchte mich übrigens schon heute vor dem morgigen Besuch. Ein mulmiges Gefühl begleitet mich stets zu den Besuchen, und der Anblick meiner Mutter und das Leid meines Vaters, verstärken das Gefühl täglich aufs Neue. Es ist ein grausames Zusammenspiel grausamer Geschehnisse. Und ich bin überfordert und ratlos, wie eh und je. Es ist als sehe ich den totalen Zerfall unserer Familie und kann nichts dagegen tun. Ich fürchte immer mehr, dass mein Vater dies alles auf Dauer nicht gesund überstehen kann. Er nimmt ab, sieht müder, deprimiert und niedergeschlagen aus. Will er etwas schlafen, so benötigt er zwei Tabletten Zopiclon. Ich fürchte, dass er irgendwann schlapp macht. Und dann?

Tag 100 + 6
Meine Mutter liegt in ihrem Bett und ist müde, wie immer in den letzten Tagen. Sie scheint kurz zu registrieren, dass wir da sind, schläft dann aber ein. Tagein, tagaus bietet sich uns dieses Bild. Eine totale müde Mutter, die uns vermutlich nicht erkennt. Die sich vermutlich nicht einmal ihres Daseins bewusst ist. Oder ist sie es doch? Quälende Gedanken bringen uns jetzt auch nicht weiter.
Nach einer Weile muss meine Mutter Husten. Der Stopfen, der verhindert, dass der Schleim aus ihrem Hals bzw. ihrer Lunge einfach abläuft, ist rausgefallen aus diesem austauschbaren Stück in ihrem Hals, und so läuft der Schleim ungehindert raus. Mein Vater wischt den Schleim ab, ich muss mich abwenden, weil mir davon schlecht wird. Nur mit Mühe und Not schaffe ich es, meinen Würgereiz zu unterbinden. Nachdem mein Vater den ganzen Schleim entfernt hat, versucht er, den Stopfen wieder rein zu machen, damit kein weiterer Schleim ausfließt. Leider ist das nicht möglich und so legt er ein Tuch unter und der Schleim fließt nun direkt auf das Tuch. Ich ertrage den Anblick nicht.

Meine Mutter liegt übrigens in dem Zimmer, in dem vorher die Frau lag, die immer Hilfe rief. Meine Mutter kann nicht rufen. Vermutlich niemals mehr.
Da das Zimmer direkt neben dem Eingang liegt, sieht man auch selten Personal. So ist es keine Seltenheit, dass irgendwelche Geräte auch mal eine Stunde lang piepen, ohne dass jemand kommt, um das zu ändern. Mein Vater scheut sich davor, jedes Mal jemanden zu rufen, wen etwas piept. Und so sind wir ständig dem piepsen ausgesetzt, was einen schon in den Wahnsinn treiben kann.

Als meine Mutter anders gelagert wird, verlassen wir für eine Weile das Zimmer. Als wir zurück sind, piept eine Weile lang nichts. Sehr angenehm. Meine Mutter schläft weiter. Vielleicht war der Vormittag sehr anstrengend für sie. Außerdem, und das darf man nicht vergessen, bekommt sie ja dieses Mittel zur Entspannung. Davon wird man natürlich auch müde.
Neben ihrem Bett steht ein Trainingsgerät. Es sieht aus als wäre es dazu da, meine Mutter damit irgendwie hinzustellen. Das strengt sicher auch an, ist aber bestimmt gut für sie. Es fragt sich nur, ob sie davon irgendetwas mitbekommt. Vielleicht irgendwann.

Die Kanüle, über die ihr das Antibiotikum zugeführt wurde, ist auch nicht mehr da. Vielleicht braucht sie kein Antibiotikum mehr. Oder weniger. Oder es wird ihre über die Magensonde zugeführt. Aus unerklärlichen Gründen fragen wir nicht danach. Und so sitzen wir die meiste Zeit bei meiner Mutter, tragen unsere Schutzkleidung und mein Vater wischt meiner Mutter immer wieder den Mund ab. Viel mehr können wir nicht tun.
Wenn meine Mutter mal kurz wach ist, erschreckt sie sich, wenn wir sie anfassen. Und sie starrt sehr häufig ins Nichts. Es gibt kaum Momente in denen sie uns zu fixieren, anzusehen, scheint. Meist starrt sie nur. Ich habe so etwas früher gelegentlich im TV gesehen, wenn über Pflegefälle berichtet wurde. Jahrelang kann das so bleiben. Vielleicht das ganze Leben lang. Ob meine Mutter sich ihres Zustandes bewusst ist oder je sein wird? Ist ein solches Leben denn in irgendeiner Weise lebenswert? Fragen, die unbeantwortet bleiben. Wie immer.

Gerne würde ich etwas Positives mitnehmen nach Besuchen bei meiner Mutter. Doch es will mir einfach nicht gelingen. Sicherlich haben wir auf der einen Seite viele Veränderungen erlebt, die ausgeschlossen waren. Doch derzeit scheinen wir am Ende der Fortschritte angekommen zu sein. Und das ist schon deprimierend. Sehr deprimierend.

Tag 100 + 7
Überall im Krankenzimmer liegen Sachen meiner Mutter. Cremes, Bürste, Kamm, Parfum, Trainingsball, Deo, Medikamente. Selbst ihr Körper liegt dort. Lediglich meine Mutter scheint nicht da zu sein. Das ist schockierend und verwirrend zugleich.

Tag 100 + 8
Ein Pfleger möchte, dass meiner Mutter mehr oder öfter das Mittel zur Muskelentspannung gegeben wird. Mein Vater sagt, dass meine Mutter besser drauf war als am Vortag.

Betrachte ich nun, so wie es die Ärzte auch tun, allein die letzte Woche, so kann ich keinen Unterschied erkennen. Ein Aufwärtstrend sieht wohl anders aus. Meine Mutter ist genau so weit davon entfernt uns zu erkennen und etwas anderes zu tun, als einfach dazuliegen und zu starren. Nimmt man allerdings die Entzündungswerte, welche gesunken sind, und die Tatsache, dass meine Mutter das Antibiotikum nicht mehr intravenös bekommt, dann gibt es doch Unterschiede. Doch kann man das als Erfolg werten? Und selbst wenn, die letzten Wochen zeigen, dass es nur selten Phasen gibt, in denen meine Mutter kein Antibiotikum bekommt. Und sie zeigen auch, dass diese Entzündungen, diese widerlichen Bakterien, sie immer wieder sehr weit zurückwerfen. Es bleibt zu hoffen, dass die Ärzte dennoch Hoffnung haben und meine Mutter eine Weile dort bleiben kann. Auch wenn diese täglichen Strapazen für meinen Vater alles andere als gut sind. Doch so lange es so ist, hat er Hoffnung. Und das wiederum scheint gut für ihn zu sein. Trotz allem stecken wir in einem Teufelskreislauf, der scheinbar keinen guten Ausgang für uns vorbereitet hat.

Tag 100 + 9
Wie auch in den letzten Tagen, ist meine Mutter sehr schreckhaft. Wenn man sie berührt, verzieht sie ihr Gesicht und sieht manchmal sogar panisch aus oder so als hätte sie Schmerzen. Nach einer Weile entspannt sie wieder. Lediglich Berührungen an der linken Schulter scheinen ihr nichts auszumachen. Wenn sie dort berührt wird, zuckt sie fast nie zusammen. Selbst dann nicht, wenn man sie dort berührt, ohne sie vorher darüber zu informieren.
Ihre Hände mag sie seit Tagen auch nicht wirklich bewegen bzw. bewegen lassen. Und weil mein Vater es nicht erträgt, nichts tun zu können, ist es seit Tagen so, dass er ständig ihren Mund und ihr Gesicht abwaschen muss. Natürlich ist es auch meist nötig, weil meine Mutter leider, so ist zumindest der Eindruck, noch immer nicht schlucken kann, und deshalb der Speichel oft aus ihrem Mund läuft. Und so ist mein Vater alle paar Minuten damit beschäftigt, meiner Mutter den Mund abzuwischen. Heute scheint ihm selbst das nicht zu reichen. Heute möchte er auch die Zunge meiner Mutter, die stark belegt ist, putzen. Doch dazu fehlt ihm das nötige Werkzeug.
Wie immer in den letzten Tagen ist das Teil, dieser Filter, den meine Mutter vor dem Hals hat, voller Schleim und nach einer Weile so voll, dass der Schleim rausläuft. Bei dem Anblick wird mir schlecht. Keine Ahnung, wie mein Vater es schafft den Schleim abzuwischen. Ich würde das Pflegepersonal rufen, weil mir schon beim Anblick schlecht wird.

Als ein Pfleger zu meiner Mutter kommt, um den Blutzucker zu messen und den Urinbeutel zu leeren, fragt mein Vater nach einem Zungenreiniger. Der Pfleger sagt, dass das Personal regelmäßig Lippen und Zunge reinigt, meine Mutter bei der Zungenreinigung aber meist zubeißt, weshalb es nur selten möglich ist, die Zunge zu reinigen. Mein Vater sagt, dass er trotzdem Zungenreiniger möchte. Der Pfleger sagt, dass er gleich, wenn meine Mutter anders gelagert wird, Zungenreiniger bringen wird.
Zucker 207. Der Wert erscheint zunächst okay, da er aber vor dem essen gemessen wurde, ist er aber doch arg zu hoch. Zeit für eine Insulinspritze. Dabei kann ich zum ersten Mal sehen, dass meine Mutter Windeln trägt. Das ist entsetzlich, obwohl es ja zu erwarten war. Dennoch ist der Anblick schockierend. Das muss völlig entwürdigend für meine Mutter sein. Das alles hier.
Obwohl ich nicht weiß, ob es Sinn macht, erkläre ich meiner Mutter, dass sie das Pflegepersonal nicht beißen darf, wenn die Zunge gereinigt wird. Ich wiederhole es sehr oft, bis der Pfleger kommt, um meine Mutter umzulagern. Dann müssen wir das Zimmer für eine Weile verlassen.

Als wir zurück im Zimmer sind, stellt mein Vater rasch fest, dass die Zunge meiner Mutter gereinigt wurde. Zufall oder hat es doch etwas gebracht, dass ich meiner Mutter gesagt habe, dass sie nicht beißen soll, wenn ihre Zunge gereinigt wird? Mein Vater ist nicht ganz zufrieden, hatte der Pfleger ihm doch versprochen, dass er ein paar der Zungenreiniger dalassen würde, damit mein Vater meiner Mutter die Zunge reinigen kann. Mein Vater sagt, dass hier im Krankenhaus der Geiz regiert, denn nicht nur, dass er keine Sachen bekommt, um meine Mutter zu pflegen, auch Mundschutz und Schutzkittel müssen immer von irgendwo hergeholt werden und liegen nicht vor dem Zimmer bereit, obwohl das Zimmer ohne Schutzkleidung nicht betreten werden darf. Und weil diese Sachen nicht parat liegen, kam der Pfleger vorhin wohl auch ohne Schutzkittel ins Zimmer. So machen Schutzmaßnahmen nur geringen Sinn. Man kann auch am falschen Ende sparen.

Was nimmt meine Mutter bewusst wahr? Warum sieht sie uns nicht mehr wie früher an? Hat sie vor ein paar Wochen ihre Augen noch bewegt, um irgendwas zu sehen, so sind ihre Augen heute eher unbeweglich und starren vor sich hin. Genau einmal bewegen sich heute die Pupillen meiner Mutter in meine Richtung.
Gegen Ende unseres Besuchs bewegt sie mehrmals minimal ihren Kopf. Ist das ein gutes Zeichen oder bedeutungslos? Mein Vater sagt ihr ständig, dass wir es schaffen, dass sie zurück nach Hause kommt und es besser wird, sobald sie endlich schlucken kann. Während des ganzen Besuchs, während jedes Besuchs, fordert es sie zum schlucken auf. Und ich tue es ihm nach. Ob sie uns versteht, ob sie weiß, was wir wollen, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass es immens wichtig wäre, wenn sie je wieder schlucken könnte. Doch daran glauben kann ich nicht. Warum sollte es plötzlich klappen? Versucht meine Mutter es überhaupt? Kann sie es versuchen? Der Ausfluss über den Filter am Hals spricht eine andere Sprache. Sie schluckt nicht. Auch wenn mein Vater einen anderen Eindruck hat. Es ist einfach schrecklich. Einfach nur schrecklich, was meine Mutter erleiden muss.

Mein Vater ist auch weiter sehr unzufrieden, dass er die Zungenreinigungsgeräte nicht bekommen hat und meckert verständnislos über den Geiz hier. Außerdem bemängelt er, dass man in diesem Zimmer ganz am Anfang der Station fast nie Pflegepersonal sieht. Er traut sich aber nicht, sich zu beschweren, weil er fürchtet, dass meine Mutter dann noch weniger beachtet wird. Verdammte Zwickmühle.
Im Zimmer neben meiner Mutter ruft ein Mann ständig nach Hilfe. Ruft nach jemandem, der zu ihm kommt oder will Kaffee. Auch sein Rufen wird wenig beachtet. Er beruhigt sich schon wieder. Zum Glück. Es ist offensichtlich zu wenig Personal hier, anders lässt sich das nicht erklären. Auch die ganzen unbeachteten Alarme aus den Zimmern, deuten auf zu wenig Personal hin. Vielleicht gibt es auch einen Plan, der vorsieht, dass das Personal nur eine bestimmte Zeit bei jedem Patienten sein darf. Heutzutage wäre das wenig verwunderlich. Es geht eh nur noch um Gewinnmaximierung und Qualitätsmanagement. Theorie besiegt das wahre Leben. Absurd.

Schon öfter fiel mir auf, dass meine Mutter, wenn ich mich im Zimmer mit meinem Vater oder auch anderen Leuten unterhalte, sehr aufmerksam wirkt, so als würde sie zuhören. Auch heute ist es so. Ich stehe etwas weiter weg, unterhalte mich mit meinem Vater über irgendwas aus der Nachbarschaft und meine Mutter wirkt als würde sie konzentriert zuhören. Bilde ich mir das nur ein? Wenn meine Mutter sich doch nur in irgendeiner Weise äußern könnte.

„Scheiße, die bringen auch nix, die Fotzen!“ Völlig überraschend wird mein Vater wütend. Er ist noch immer sauer, dass er meiner Mutter nicht die Zunge reinigen kann. Während ich vieles einfach so hinnehme, ist mein Vater oft sehr unzufrieden und macht seinem Unmut und seiner Verzweiflung Luft. Vermutlich muss das auch sein, weil es raus muss bevor es einen auffrisst.

Als wir gehen wollen, sagt mein Vater meiner Mutter Bescheid. Und sofort wird sie total panisch. So als würde sie nicht wollen, dass wir gehen. So als würde sie etwas sagen wollen, was unmöglich ist. Ich versuche, sie zu beruhigen, streichle ihr die Wange und rede zu ihr. Nach einer Weile wird sie ruhiger, entspannt sich etwas. Mein Vater erklärt ihr, dass er doch täglich wieder kommt und sie nicht traurig sein soll. Es scheint zu wirken, meine Mutter schläft ein.
Das kann eigentlich kein Zufall sein. Meine Mutter muss das verstanden haben. Mein Vater sagt, dass es immer so ist, wenn er sich verabschiedet und meine Mutter wacher ist. Sie will nicht, dass sie alleine zurückgelassen wird. In diesem Punkt muss er Recht haben. Alles andere erscheint mir unlogisch. Zu eindeutig war die Reaktion meiner Mutter. Oder reden wir uns das nur ein, weil wir wollen, dass es so ist?

Tag 100 + 10
Ein Pfleger macht am Nachmittag Übungen mit meiner Mutter. Diese unterscheiden sich nicht wirklich von den Übungen, die mein Vater meist mit meiner Mutter macht. Hand heben, Finger lockern, Hand runter legen. Viel mehr macht er auch nicht. Ich bin etwas enttäuscht. Bin ich zu ungeduldig? Mein Vater fragt nach den Fortschritten beim Schlucktraining, welches zuletzt in der letzten Woche durchgeführt wurde. Entweder haben die aufgegeben oder keine Zeit. Der Pfleger findet dazu nichts in den Unterlagen und will nachfragen. Morgen kann er mehr sagen. Ich habe da so meine Zweifel.
Die Wunde am Steißbein, wegen der meine Mutter täglich 3000 Kalorien bekommt, ist etwas besser geworden. Ein Schlauch, der Eiter, wenn ich das richtig verstanden habe, abfließen lassen soll, ist nun in dieser Wunde. Dies bedeutet, dass meine Mutter in den nächsten Tagen nicht hingesetzt werden darf. Somit sind viele Übungen nicht möglich. Ob ich das gut finde, oder nicht, kann ich nicht sagen. Ich bin kein Arzt. Ich weiß nicht, was richtig oder falsch ist.

Einmal dreht meine Mutter ihren Kopf in die Richtung meines Vaters. Das ist etwas, was ich als gut betrachten kann. Hoffentlich ist es nicht nur eine am Ende bedeutungslose Geste.

Tag 100 + 11
Mein Vater scheint überzeugt davon zu sein, dass meine Mutter wieder gesund wird. Zumindest wirkt er auf mich so. Er geht davon aus, dass meine Mutter so lange in Hagen bleibt, bis sie wieder nach Hause kann. Er geht von einem sehr langen Aufenthalt aus. Er plant schon im Winter, wenn die Wetterverhältnisse plötzlich schlechter werden und er nicht zurück fahren kann, im Auto zu übernachten. Ich halte die Idee, sollte es wirklich so kommen, für alles andere als gut. Ein Zimmer in der Gegend okay, aber Nächte im Auto, davon halte ich nichts. Natürlich wünsche ich ihm, dass er Recht hat und meine Mutter hier noch lange behandelt wird, aber den Rest seines Planes müssen wir auf jeden Fall überarbeiten.

Meine Mutter schläft wieder viel. Ab und zu öffnet sie die Augen sehr weit, fixiert uns nicht und schaut uns auch nicht an. Sie reagiert weiter nervös auf Berührungen und wirkt aufmerksam bei Geräuschen. Sie bekommt seit gestern ein anderes Antibiotikum, Gentamicin, zur Inhalation. Für den entzündeten Hals bzw. die Bronchien oder Lunge, wie wir später erfahren. Es ist deutlich, dass der Schleim seit gestern weniger geworden ist. Meine Mutter muss nicht abgesaugt werden und es läuft kein Schleim aus dem Filter am Hals. Auch wenn es unerwartet kam, zu erfahren, dass meine Mutter eine neue Entzündung hat, so scheint es als würde diese angemessen behandelt. Und ich stelle mich schon jetzt auf eine weitere Entzündung ein, die meine Mutter sicher bald heimsuchen wird. Alles andere wäre unlogisch.

Unser Versuch, mit der Schluck-, bzw. Sprachtherapeutin zu reden, scheitert daran, dass diese nicht zu erreichen ist. So soll mein Vater sich morgen nochmal melden. Da die Schlucktherapie derzeit nicht fortgeführt wird, gehen wir davon aus, dass es damit zu tun hat, dass meine Mutter derzeit nicht sitzen kann, wegen der Behandlung der Wunde am Steißbein. Wir gehen weiter davon aus, dass die Behandlung nur im Sitzen fortgeführt werden kann. Die anderen Übungen werden derzeit ja auch nicht gemacht. Hoffentlich irren wir uns nicht und die Behandlung wird nicht fortgeführt, weil es keinen Sinn macht. Das wäre fatal.

Beim angekündigten Abschied wird meine Mutter wieder sehr unruhig. Ob das gut ist, weil so eindeutig zu erkennen ist, dass sie sehr wohl mitbekommt, dass wir gehen, oder ob es schlecht ist, weil sie noch immer nicht in der Lage ist, anders darauf zu reagieren, als panisch und nervös zu schauen, weiß ich nicht.

Später auf dem Parkplatz sagt mein Vater mir, dass man auf dem Parkplatz gut im Auto übernachten kann. Ich sage ihm, dass das Parken hier bald Gebühren kosten wird und eine Übernachtung dann wohl sehr teuer ist. Sieht er auch so und ist etwas enttäuscht.

Tag 100 + 12
Mein Vater fragt nach der Sprachtherapeutin. Der Pfleger, der Bruder des Typen, der letzten Mittwoch mit den beiden Frauen da war, um über die Pflege meiner Mutter zusprechen und gestern trotz Ankündigung nicht auftauchte, sagt, dass er auch Auskunft geben kann. Kurz und knapp sagt er dann, dass meine Mutter nie wieder sprechen wird. Etwas später sagt er, dass wer nach einem Jahr nicht spricht, nicht mehr sprechen wird. Zumindest erzählt mir mein Vater es später so am Telefon.

Wir warten auf einen Brief der Knappschaft, in dem steht, dass die Reha verlängert wird. Stattdessen bekommen wir einen Brief, in dem steht, dass unser Antrag auf Versorgung mit einem Hilfsmittel genehmigt wurde. Wir bekommen eine Wechseldruckmatratze geliefert. Wir haben keine Matratze beantragt. Waren das etwa die drei komischen Figuren, die uns letzte Woche besucht haben, der Bruder des Pflegers und die beiden Frauen, denen wir am Ende etwas unterschrieben haben? Was haben wir da tatsächlich unterschrieben? Das bringt zusätzlich Stress. Und bedeutet es, dass meine Mutter nächste Woche nicht mehr behandelt wird und wir plötzlich eine Verantwortung zu übernehmen haben, die wir nicht in der Lage zu übernehmen sind?

Mein Vater ist sehr mitgenommen von den Ereignissen. Als er mir am Telefon davon erzählt, ist seine Unruhe deutlich zu spüren. Er will mir den Brief der Knappschaft unbedingt noch bringen, bevor er zu Abend isst.
Mir geht es nach dem Telefonat sofort schlecht. Mein Magen dreht sich um und ich brauche meine Bach Rescue Tropfen. So schnell bricht ein Kartenhaus zusammen. Verdrängung funktioniert nur, bis die Realität einen einholt. Ich sollte es mittlerweile gelernt haben, es zu wissen und solche Nachrichten zu ertragen. Doch davon bin ich weit entfernt. Gut, dass es solche Mittel gibt. Schlecht, dass ich sie so häufig brauche.

Wenige Minuten später ist mein Vater auch schon da. Ich lese den Brief. Daraus ist klar zu lesen, dass wir eine Matratze beantragt haben und bald bekommen werden. Verdammt. Morgen früh muss ich sofort bei der Knappschaft anrufen. Das stresst mich sehr. Mein Vater will morgen früh in der Klinik in Hagen anrufen und ein Gespräch mit der Sprachtherapeutin führen. Das stresst ihn. Mir fällt auf, dass es nun schon fast drei Wochen her ist, dass mein Vater bei mir zu Hause war. Vielleicht geht er der Situation bewusst aus dem Weg. Denn wenn wir zusammen sind, ist das ganze Dilemma vielleicht noch schwerer zu ertragen. Und in unserer Familie wird nicht gerne über so etwas geredet. Wir gehen dem lieber aus dem Weg, weil wir glauben, dass es so leichter zu ertragen ist. Ich weiß nicht, ob wir Recht haben oder uns irren. Ich weiß nur, dass Scheiße immer Scheiße bleibt. Egal, ob man nun darüber redet oder einen Bogen um sie macht. Und früher oder später holt sie einen immer ein. So viel steht fest.

Es gibt nichts mehr zu gewinnen. Die Frage ist nur, wie viel wir noch verlieren.

Tag 100 + 13
Gegen 07.30 Uhr wache ich nach etwa sechs Stunden Schlaf auf. Magenschmerzen. Stress bekommt mir nicht. Keine Kontrolle zu haben bzw. nicht zu glauben, die Kontrolle zu haben, bekommt mir ebenfalls nicht. Vor acht Uhr ist niemand bei der Knappschaft zu erreichen. Der Anruf stresst mich trotzdem schon jetzt ungemein.

Mein Vater hat schon lange die Lust am Leben verloren. Zumindest wirkt er auf mich so. Fußballübertragungen interessieren ihn gar nicht mehr. Und auch sonst zeigt er wenig Interesse. Für mich ist das erschreckend, aber sehr gut nachzuvollziehen. Denn seit diesem Vorfall, habe ich mich auch mehr vom Leben zurückgezogen. Ich bin oft allein mit mir und meiner Welt, mehr noch als ich es ohnehin schon war. Diese Situation nehme ich zum Anlass, nehme sie als Grund, immer träger zu sein, weniger am Leben teilzunehmen und in meine Scheinwelt zu fliehen. Ich konsumiere Filme, gucke Dr. House und was das Fernsehprogramm zu bieten hat. Ich fahre dreimal in der Woche ins Krankenhaus, habe keine Pläne mehr und warte nur, dass es weitere Gründe gibt, nichts mehr zu tun. In der Wohnung mache ich wenig, putze nur noch alle zwei Wochen und frage mich, wo ich wohl wohne, wenn ich ausziehen muss. Und egal, wo es sein wird, ich weiß schon jetzt, dass es dafür herhalten muss, wenn ich mich danach noch weiter zurück ziehe. Manchmal glaube ich, dass ich genau das will. Weitere Gründe, um nicht mehr am Leben teilnehmen zu müssen. Gründe, die als Entschuldigung herhalten, warum ich einfach bin, wie ich bin. Und obwohl ich das weiß, warte ich träge und lethargisch nur darauf, dass es passiert. Die Umstände haben Schuld daran, dass ich bin, wie ich bin. Ich selbst habe das nicht zu verantworten. Leicht zu durchschauen und zu billig, aber effektiv. Dahinter verstecke ich mich bis auch mein Leben eines Tages endet. Oder raffe ich mich doch irgendwann noch auf? Ohne meine Freundin, da bin ich mir sicher, würde ich mich noch viel mehr gehen lassen. Ohne sie würde ich auf der Stelle untergehen wollen. Zumindest rede ich mir das ein. Das Leben, welches man besser nicht ernst nehmen sollte, weil man sonst verrückt wird, hat für mich derzeit nicht viel, wofür ich es leben möchte. Das ist ziemlich dämlich und bedrückend, aber damit eigentlich auch das, was ich wohl gerade will. Meiner depressiven Ader Nahrung geben.

Beim Gespräch mit dem zuständigen Mann bei der Krankenkasse erfahre ich, dass neben der Wechseldruckmatratze auch ein Dekubitus Kissen beantragt wurde. Beantragt wurden diese Dinge wohl vom Krankenhaus. Genaueres kann der Mann ohne Vorliegen der Akte nicht sagen. Er schlägt vor, dass wir uns mit der Firma, die diese Sachen ausliefert besprechen, wann und wohin die Sachen geliefert werden müssen. Ich muss leider gestehen, dass der Gesprächsverlauf so gar nicht nach meinem Geschmack ist. Es klingt mehr und mehr so als würde meine Mutter tatsächlich nur noch bis Montag in der Klinik in Hagen verbleiben. Und wir sind dann ab Dienstag verantwortlich. Die erhoffte Stressreduzierung hat das Gespräch jedenfalls nicht gebracht. Eher im Gegenteil. Mir ist schlecht.

Mein Vater ruft an. Ich erkläre ihm den Sachverhalt. „Dann geben die die Mutter auf“, sagt er sehr getroffen zu mir. Ich sage ihm, dass wir das nicht wissen und das es ja ein normaler Vorgang sein kann. Er will bei der Krankenkasse anrufen, um zu fragen, ob die Rehe weiter genehmigt wird oder nicht. Stresslevel steigt. Magen zieht sich weiter zusammen. Nuxal für den Magen, Rescue Tropfen zur Beruhigung. Muss sein.

Weil mein Vater sich länger nicht zurückmeldet, als ein solcher Anruf bei der Krankenkasse nach meiner Vorstellung dauert, gehe ich davon aus, dass die Reha nicht verlängert wurde und mein Vater jetzt alle beschimpft oder zusammengebrochen ist. Stresslevel steigt weiter und weiter. Es scheint als wäre heute der Tag an dem etwas endet.

Dann endlich Informationen. Reha bis 11. Oktober genehmigt. Eigentlich hätte sie bis zum 14. genehmigt werden müssen. Mein Vater denkt weiter, dass meine Mutter aufgegeben wurde und die Reha deshalb schon und endgültig am 11. beendet wird. Ich denke gar nichts.

Als ich zum Mittagessen bei meinem Vater bin, sagt er mir, dass er eine Patientenverfügung ausfüllen will. Er will nicht künstlich ernährt werden. Ihm soll es nicht wie meiner Mutter gehen. Ich verstehe es, kann aber nichts dazu sagen. Vielleicht sollte ich auch so eine Verfügung haben. Aber selbst davor habe ich Angst.

Die Sprachtherapeutin ist derzeit gar nicht im Haus. Das erklärt, warum wir sie bisher nicht erreichen konnten. Kommenden Dienstag ist sie wieder da und dann kann mein Vater mit ihr sprechen.
Mit dem Arzt möchte mein Vater nicht reden. Er sagt, er will ihn nicht nerven. Er fürchtet, dass wenn wir ständig mit dem Arzt reden wollen, dieser meine Mutter schnell loswerden will. Zumindest sagt er mir das. Vielleicht will er auch nur nicht hören, was der Arzt zu sagen hat, weil er fürchtet, dass es uns nicht gefallen wird. Mein Vater ist mir da scheinbar ähnlich. Ich will auch am liebsten nichts sehen oder hören, wenn das, was ich zu hören bekommen kann, mir nicht gefallen könnte. Doch in diesem Fall, denke ich, wäre ein Gespräch dennoch notwendig. Weil der Arzt aber nächste Woche noch Urlaub hat, dränge ich jetzt nicht auf ein Gespräch und hoffe, dass sich das nicht als großer Fehler rausstellt, weil wir plötzlich davon überrascht werden, dass meine Mutter plötzlich nicht mehr behandelt wird. Und ausschließen kann man diese Möglichkeit keinesfalls. Denn immerhin wurden diese Hilfsmittel vom Krankenhaus beantragt. Das machen die sicher nicht völlig ohne Grund.

Meine Mutter zeigt auch heute keine großen Veränderungen. Sie hebt fast immer, wenn wir sie ansprechen oder anfassen, ihren rechten Arm. Ob sie das unbewusst bzw. unkontrolliert macht, oder deshalb, weil sie den Arm bewusst heben kann, vermag ich nicht zu beurteilen. Mein Vater findet es jedenfalls nicht gut, dass sie sonst nichts bewegt und auch nicht mit ihm übt. Seine Versuche, ihre Hand bzw. Finger zu bewegen, verlaufen seit Tage im Nichts. Meine Mutter macht nicht mit, verkrampft und hebt den Arm.
Während ich das alles beobachte, frage ich mich, wie das jetzt, möglicherweise viele Jahre, so weitergehen soll. Wir besuchen meine Mutter, wissen nicht, was sie mitbekommt und wie wir ihr helfen können und warten dennoch, dass irgendwann alles gut wird. Das deprimiert mich. Das kann doch kein Leben sein. Und doch, so viel scheint klar, können wir sie ja nicht allein lassen. Wir werden sie weiter besuchen. Mein Vater vermutlich täglich und ich immer wieder. Unser Leben wird sich nur um die Situation drehen. Für mich wird es ein Grund sein, nichts anderes zu tun als am Leben zu zweifeln und es als Anlass zu nehmen, zu warten statt zu leben. Ein Lebensumstand hinter dem ich mich verstecken prima kann. Das ist vermutlich ziemlich dumm, aber so sehe ich es, während ich hier sitze und meinen Vater dabei beobachte, wie er meiner Mutter abermals den Mund abwischt.

Die letzten anderthalb Stunden unseres Besuchs schläft meine Mutter tief und fest. Wenn sie so tief schläft und nicht zuckt, wirkt sie ganz normal. Alles scheint so als würde es wieder gut werden, als wäre alles gar nicht so schlimm. Doch leider trügt der Schein.

Tag 100 +14
Der September ist fast vorbei, der Herbst ist längst da. Die Tage werden immer kürzer und nachts ist es schon recht kalt. Mancherorts gibt es schon Bodenfrost. Die dunkle Jahreszeit kommt unaufhaltsam auf uns zu. Das Schicksal meiner Mutter scheint besiegelt und unseres irgendwie auch. Grau erscheint die Zukunft. Da kann auch der Sonnenschein, der uns heute erfreut, nicht drüber hinwegtäuschen. Und hätte dieser Sonnenschien uns früher erfreuen können, so nehmen wir ihn jetzt zwar zur Kenntnis, können ihm aber nichts abgewinnen. Vielmehr konzentrieren wir uns schon aufs kommende grau. Und nach grau kommt schwarz. Und danach vermutlich gar nichts mehr.

Tagein, tagaus verlaufen die Tage meines Vaters fast vollkommen gleich. Schlecht schlafen, früh aufstehen. Dann einkaufen, die Wohnung putzen, Wäsche waschen, Mittagessen machen. Gegen 13.00 Uhr Abfahrt zur Klinik. Begleite ich ihn, Rückfahrt gegen 17.00 Uhr, fährt er alleine Rückfahrt gegen 18.00 Uhr. Manchmal danach einkaufen und/oder tanken. Anschließend Abendessen und dann entweder Fernsehen oder bei einem Bekannten im Garten sitzen und vielleicht Knobeln. Alles freudlos und ohne wirkliches Interesse. Hoffnungslos und niedergeschlagen von einem Tag zum nächsten. Leben in seiner schönsten Form. Für einen so lebensbejahenden Menschen, wie ich es bin, ein weiterer Grund zu resignieren. Wo ist da der Sinn? Ach ja, den gibt es so ja nicht. Es ist immer das, was man daraus macht. Na und? Ändert trotzdem nichts.

Ich denke über die Patientenverfügung nach. Frage mich, ob irgendwann ein Punkt kommt, wo wir für meine Mutter entscheiden müssen. Frage mich, wie wir dazu in der Lage sein sollen. Frage mich, ob solche Fragen wirklich je gestellt werden und warum Menschen erst wirklich über so eine Verfügung nachdenken, wenn sie quasi durch die Umstände dazu gezwungen werden. Vermutlich, weil Menschen eben so sind.

Nachdem mein Vater vom Besuch bei meiner Mutter zurück ist, ruft er, so wie er es immer macht, bei mir an. Er klingt etwas zufriedener als er sagt, dass meine Mutter heute besser drauf war. Sie war nicht ganz so schreckhaft, schlief entspannt und er konnte sogar etwas mit ihr üben. Beide Arme hat sie tatsächlich mal neben ihrem Körper abgelegt. Und minimale Bewegungen in die von ihm vorgegebene Richtung mit dem rechten Arm sogar selbst gemacht. Solche Reaktionen, wenn sie auch noch so klein sind, geben meinem Vater immer wieder ein wenig Auftrieb. Vielleicht auch etwas Hoffnung, dass doch noch nicht alles verloren ist.

Und so ist am Ende des Tages eigentlich alles, wie vor zwei Tagen. Nur fühlen wir uns besser, blenden vieles aus und hoffen, dass die Reha auch nach dem 11. Oktober weiter geht. Und dennoch weiß ich, dass jede Kleinigkeit uns umwerfen kann und dieses ganze Verschieben irgendwann ein Ende haben wird. Das böse Erwachen wird kommen. Und wir werden geschockt und überrascht sein, obwohl wir wissen, dass es irgendwann zwangsläufig so kommt. Das ist verrückt. Doch es ist so.

Tag 100 + 15
Es ist hinlänglich bekannt, dass meine Stresstoleranz sehr gering ist. Deshalb brauche ich Strukturen, bin wenig spontan und kann plötzliche und nicht steuerbare Situationen nur schwer ertragen. Diese Situation ist so eine Situation, die gar nichts für mich ist, weil man nie weiß, was als nächstes passiert und was dann auf einen zukommt. Natürlich gibt es mittlerweile eine grobe Richtung und der weitere Verlauf ist auch irgendwie vorauszusehen. Aber alles, was noch kommt, hat keinen festen Zeitplan und keine festen Ablaufzeiten. So etwas ist für mich nicht leicht zu ertragen.

Als mein Vater mich am Abend besucht, ist er weniger niedergeschlagen als in den letzten Tagen. Meine Mutter hat wieder gut mitgemacht als er bei ihr war. Außerdem hat sie, als er sagte, sie darf nicht immer so verkrampft und angespannt sein, immer wieder kurz ihre Arme etwas locker gelassen. Es sind diese kleinen Dinge, die uns für den Moment glücklich machen und hoffen lassen, dass es doch noch Hoffnung gibt. Strohhalme an die wir uns dankend klammern, nach denen wir fast schon gierig greifen, nur um wenig später zu erleben, wie diese Strohhalme umknicken und die Hoffnung sich als unbegründet herausstellt.

Tag 100 + 16
So angenehm es sich gestern anfüllte, sich der Illusion hinzugeben, dass doch alles nicht so schlecht ist und es jetzt endlich wieder vorwärts geht, so bitter ist es, einen klaren, nüchternen Blick auf die Gesamtsituation zu werfen. Es ist Montag und der Blick auf die eben begonnene Woche zeigt, was wir zu erwarten haben. Und das kann nichts Gutes sein, denn das Gespräch mit der Sprachtherapeutin steht diese Woche an. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie uns etwas anderes mitzuteilen hat, als der Pfleger, der uns letzte Woche so gar keine Hoffnung machen konnte oder wollte. Und dann werden wir, obwohl sie ja nichts anderes sagt, als das, was uns schon gesagt wurde, wieder innerlich zusammenbrechen und verzweifelt nach etwas suchen, woran wir uns klammern können. So ist es in den letzten Wochen immer gewesen. Warum also sollte es dieses Mal anders sein?

Am Abend klingt mein Vater ganz okay als er mir vom Besuch bei meiner Mutter berichtet. Sie war lockerer, sagt er und ich denke, dass er damit zufrieden ist. Zumindest soweit zufrieden, wie man es in Anbetracht der Gesamtsituation sein kann.

Tag 100 + 17
Obwohl wir heute vermutlich nur etwas zu hören bekommen, was wir eigentlich schon wissen, habe ich sehr schlecht geschlafen. Das mögliche Gespräch mit der Sprachtherapeutin wirft seine Schatten voraus.

Das neue Quartal beginnt obendrein mit einer zwar erwarteten, dennoch aber sehr ärgerlichen, Veränderung. Ab heute müssen fürs Parken an der Klinik Gebühren bezahlt werden. Ein Euro pro Stunde. Macht ungefähr 120 Euro pro Monat als zusätzliche Belastung. Wochentickets oder Monatstickets zu etwas besseren Konditionen sind nicht geplant, sagt man uns. Aber, so teilt man uns fast begeistert mit, die Tageshöchstgebühr beträgt sechs Euro. Das bringt uns ganz weit nach vorne. Da es absolut keine Möglichkeiten gibt, das Fahrzeug woanders abzustellen, müssen wir, besser gesagt meine Vater, diese Zusatzkosten einfach so hinnehmen. Einzig mögliche Konsequenz daraus ist, dass wir nicht mehr ins Cafe der Klinik gehen. Dort zahlten wir jedes Mal etwa sechs Euro plus Trinkgeld. Monatlich also bis zu 72 Euro. Die sparen wir nun ein, weil wir keine Millionäre sind. Dennoch sind 120 Euro plus die Benzinkosten in Höhe von etwa 280 Euro eine Menge Geld. Den Verschleiß vom PKW rechnen wir gar nicht erst dazu. Mag sein, dass man es als jammern auf hohem Niveau bezeichnen wird, aber all das gehört nun einmal in einer solchen Situation dazu. Und vielleicht darf man so trotzdem nicht rechnen, weil es hier ja um das Leben meiner Mutter geht. Doch so einfach kann man es sich eigentlich nur machen, wenn Geld keine große Rolle spielt, weil man davon genug zur Verfügung hat. Daher ist es unser gutes Recht die Gebühren fürs Parken zu kritisieren und für überzogen zu halten.
Natürlich könnte mein Vater meine Mutter nun weniger besuchen, aber genau das wird er nicht tun. Er wird lieber an anderer Stelle sparen. Und das ist okay, solange er nicht dort spart, wo es nicht mehr gut für ihn ist. Dennoch sind diese Parkplatzgebühren, die nun erhoben werden, für uns nichts weiter als miese Abzocke. Und von dieser Meinung lassen wir uns auch nicht abbringen.

Als ich bei meinem Vater zum Mittagessen bin, ruft ein Mann vom sozialen Dienst der Klinik an. Er teilt mit, dass die Reha am 10. Oktober beendet wird und meine Mutter in ein Pflegeheim nach Lünen verlegt wird. Mein Vater ist damit nicht einverstanden. Er wird etwas lauter und sagt, dass der Oberarzt gesagt hat, dass er noch Dinge probieren will und meine Mutter deshalb weiter behandelt wird. Der Mann vom Sozialen Dienst fragt, wer das alles bezahlen soll und ob mein Vater die weitere Reha bezahlen will. Mein Vater sagt, dass er das nicht kann. Damit ist das Thema durch. Die Knappschaft will die Kosten nicht übernehmen, mein Vater kann es nicht. Die beiden duellieren sich noch eine Weile mit Worten und vereinbaren dann einen Termin für kommenden Freitag. Ich hasse solche Termine. Zumal es ja schon festzustehen scheint, dass die Reha in zehn Tagen endet. Da waren alle Gedanken zum Thema Parkgebühren vollkommen unnötig und überflüssig. Obwohl es thematisch doch irgendwie passt. Wie immer geht es nur ums Geld. Am Ende sind immer wir diejenigen, die alles bezahlen müssen.

Jetzt will mein Vater die alte Fotze anrufen. Sagt er wirklich so und meint die Sprachtherapeutin, die er auch tatsächlich ans Telefon bekommt. Sie sagt ihm, dass derzeit keine Therapie bei meiner Mutter gemacht wird, weil sie einfach nicht mitmacht. Mein Vater erklärt ihr, dass der Oberarzt das schon hinkriegt und noch Ideen hat. Dabei haben wir nur einmal mit dem Oberarzt gesprochen. Und das ist schon eine Weile her. Wer weiß, ob der Oberarzt nicht längst davon Abstand genommen hat, meine Mutter weiter zu behandeln. Die Sprachtherapeutin sagt, dass meine Mutter nie den Mund aufmacht. Mein Vater antwortet, dass sie etwas Geduld braucht, dann macht meine Mutter schon mit. Die Antwort gefällt uns beiden nicht. Weil es nicht genug Personal gibt, ist keine Zeit für meine Mutter. Sollte der Oberarzt irgendwann was anderes anordnen ist das etwas anderes. Bis dahin ist das Thema erledigt.

Der zweite Tiefschlag innerhalb weniger Minuten macht meinen Vater fertig. Ich hingegen sitze fast völlig regungslos und unbeteiligt da und löffle meine Suppe. Mein Vater kämpft mit den Tränen, sagt „Die Schweine, diese Säue…“ Ich schweige weiter und starre auf meine Suppe. Das bringt doch alles nichts. Mein Vater verschwindet weinend und frustriert ins Bad. Als er zurück kommt, sagt er, dass er so etwas geahnt hat. Ich beschließe, dass ich morgen einen Anwalt kontaktiere, um vielleicht doch die Wohnung zu retten. Bin ich ein kaltherziges Arschloch?

Ich sage meinem Vater, dass wir unbedingt noch mit dem Oberarzt reden müssen. Und zwar schnell, weil die sicher nicht damit warten meine Mutter zu verlegen, bis wir mit dem Oberarzt gesprochen haben. Mein Vater will nicht wirklich. Ich muss darauf bestehen, dass wir nachher unverzüglich einen Termin vereinbaren, wenn wir in der Klinik sind.

Sofort als wir in der Klinik ankommen, bitte ich um einen Termin beim Oberarzt. Ich bekomme einen Termin am nächsten Dienstag. Drei Tage vor dem Ende der Reha. Ob es uns etwas bringt? Ich fürchte nicht.
Als wir bei meiner Mutter ankommen wird gerade eine Bronchoskopie durchgeführt. Anschließend dürfen wir zu ihr. Sie schläft tief und fest und auch entspannt, was wohl daran liegt, dass sie vor der Bronchoskopie ein Mittel zur Beruhigung bekommen hat. So stehen wir schweigend im Zimmer und warten dass sie aufwacht.
Während meinem Vater immer wieder die Tränen kommen, stehe ich irgendwie unbeteiligt im Zimmer, beobachte alles und bin doch distanziert. Ob das so gesund ist? Verdrängen ist nicht immer die beste Lösung. Keiner weiß das besser als ich. Trotzdem ist es in diesem Moment wohl gut, dass ich so distanziert bin. Mir geht es scheinbar besser damit. Wie gut es mir damit wirklich geht, wird sich spätestens am 10. Oktober zeigen. Ich glaube nicht, dass ich so emotionslos bin, wie ich gerade zu sein scheine.

Das Warten darauf, dass meine Mutter heute noch aufwacht, zieht sich lange hin bzw. findet nicht statt. Erst als wir gegen 16.45 Uhr gehen wollen, wird meine Mutter wach, weil ihr Blut am Ohr abgenommen wird. Mein Vater hatte es genau so vorausgesagt. Ich dachte, sie würde auch das nicht bemerken.
Zucker 239. Das ist besser als erwartet, aber weit davon entfernt, gut zu sein. Mein Vater redet mit der Pflegerin, beklagt sich, dass der Mann vom Sozialen Dienst will, dass meine Mutter entlassen wird und macht ihr deutlich, dass er dafür kein Verständnis hat. Die Pflegerin macht meinem Vater klar, dass nicht der Mann vom Sozialen Dienst darüber entscheidet, ob eine Reha fortgesetzt wird, sondern die Krankenkasse. Der Mann vom Sozialen Dienst ist okay. Das werden wir am Freitag sehen, wie okay der ist. Hier scheinen alle vom Abschied meiner Mutter auszugehen. Mein Vater weist darauf hin, dass meine Mutter noch Bakterien hat und die Wunde am Steißbein. Seine Hinweise verschwinden in den Tiefen des Raumes und verlieren ihre Bedeutung schneller als sie ausgesprochen werden.
Die Pflegerin sagt, dass man unsere Telefonnummern nicht hat und der Mann vom Sozialen Dienst uns schon länger anrufen wollte. Letztlich hat er dann ja wohl doch unsere Nummer gefunden. Sonst hätte er wohl kaum bei uns anrufen können. Wir werden gebeten, die Nummern anzugeben, bevor wir nachher gehen. Lässt sich einrichten. Ist aber alles merkwürdig.

Meine Mutter ist wach, aber alles andere als entspannt. Sie zieht erschrocken Schnuten und ich weiß nicht, ob es je wieder anders sein wird. Ich hoffe und wünsche, doch daran glauben kann ich nicht. Ich verabschiede mich, gebe noch brav die Telefonnummern an und frage mich, wieso unsere Telefonnummern verbummelt wurden, weil ich genau weiß, dass wir sie am ersten Tag schon einmal angegeben haben.

Wir bezahlen vier Euro für eine Parkdauer von drei Stunden und fünf Minuten und brauchen etwas mehr als eine Stunde bis wir zu Hause sind. Kaum bin ich in meiner Wohnung, ruft auch schon mein Vater an. Er hat Post von der Knappschaft. Die Bewilligung der Reha bis zum 11. Oktober. Also einen Tag länger als vom Mann vom Sozialen Dienst gesagt. Was mich jetzt wundert ist die Tatsache, dass immer etwa neun Tage vor Ablauf einer Reha ein neuer Antrag gestellt werden muss. Also frage ich mich, was hier nicht stimmt und wieso es feststeht, dass meine Mutter am 11. Ihre Reha beendet. Entweder hat der Oberarzt entschieden, keinen weiteren Antrag zu stellen. Oder seine Urlaubsvertretung hat so entschieden. Oder die Knappschaft hat nach dem letzten Antrag entschieden, dass es keine weiteren positiven Antworten auf einen weiteren Antrag geben wird bzw. ein weiterer Antrag nicht gestellt werden darf. Alles Spekulationen. Nichts als Mutmaßungen. Vielleicht wissen wir am Freitag mehr. Vielleicht am Dienstag. Oder. Wir wissen schon alles und es gibt nichts mehr hinzuzufügen. Nein, dieser Tag ist definitiv kein guter. Vielleicht ist dieser Tag der Tag, der irgendwie alles verändert. Nur, und davon kann man ausgehen, nicht zum Guten. Wobei das ja Quatsch ist, weil Tage gar nichts verändern, sondern immer Menschen verantwortlich sind.

Tag 100 + 18
Nach den vielen Eindrücken und Gedanken, die der gestrige Tag zu bieten hatte, bin ich heute zunächst darauf bedacht, so zu tun, als wäre das alles gar nicht passiert. Ich will das nicht mehr. Will raus aus der Scheiße. Und so vertrödle ich den Morgen mit allen möglichen Dingen, anstatt mich darum zu kümmern, einen Anwalt zu finden, der mir bei dem Problem mit der Wohnung hilft. Erst als Agnes mich darauf hinweist, dass ich keine Zeit mehr habe und es wichtig ist, suche ich nach einer geeigneten Kanzlei.

Mein Vater gibt mir Geld für neue Schuhe. Mir ist das peinlich. Dann sagt er, dass er den Anwalt auch bezahlen will und ich möglichst schnell einen Termin vereinbaren soll. Recht hat er, aber bezahlen muss er das wirklich nicht.

Später schreibe ich an eine Kanzlei und schildere den Sachverhalt. Ich frage, ob mir dort mit meinem Problem geholfen werden kann. Eine Antwort erhalte ich leider nicht. Also werde ich mein Problem am Freitag einer anderen Kanzlei schildern. Irgendwer muss sich doch auskennen mit sowas.

Mein Vater unterhält sich mit einem Pfleger. Dieser erklärt ihm, wieso meine Mutter ständig Bakterien hat. Die ganzen Probleme kommen von den ganzen Antibiotika. Und trotzdem verabreicht man immer weiter Antibiotika. Seit heute bekommt meine Mutter ein neues Antibiotikum, weil die anderen alle nicht mehr wirken. Es kann sein, sagt der Pfleger, dass irgendwann gar kein Antibiotikum mehr wirkt. Er erzählt, dass es sowas in Holland nicht gibt. Da werden Patienten anfangs erst isoliert und die Hygienestandards insgesamt besser. Für mich nichts Neues. Aber im Gegensatz zu den Holländern, die die Probleme in den Griffe bekommen haben, halten sich die Deutschen ja noch immer für besonders fortschrittlich, bekommen aber die Probleme nicht in den Griff. Dabei weiß jeder, der sich nur minimal mit der Thematik beschäftigt, dass Antibiotika nicht nur die schlechten Bakterien töten, sondern auch die guten. Und da ist es natürlich wenig hilfreich, wenn man permanent weitere Antibiotika verabreicht. Warum es dann doch gemacht wird? Muss wohl finanzielle Gründe haben. Oder, was fast noch schlimmer wäre, es sind alles Vollidioten, die keine Ahnung haben, die so etwas veranlassen. Das es Mittel gibt, um die Darmflora aufzubauen und die Immunabwehr zu stärken, scheint in deutschen Krankenhäusern verpönt zu sein. Vermutlich macht das finanziell keinen Sinn oder kann nicht gut sein, weil die Mittel keine pure Chemie sind. Ein Hoch auf die deutsche Medizin. Kotz.

Mein Vater erzählt mir am Abend, dass meine Mutter ja irgendwann an den ganzen Medikamenten verreckt. Gerne würde ich ihm etwas anderes sagen, aber das kann ich nicht. Insofern gesehen kann es diesbezüglich von Vorteil sein, wenn meine Mutter in ein Pflegeheim kommt. Vielleicht wird sie da nicht mit Antiobiotka vollgestopft. Und vielleicht bietet sich sogar die Möglichkeit mit natürlichen Mitteln ihre Darmflora wieder auszubauen. Das ist aber auch der einzige Vorteil, der sich aus der Verlegung, Abschiebung, in ein Pflegeheim ergeben könnte. Die so weit entwickelte und so fortschrittliche medizinische Versorgung stößt an Grenzen, wo eigentlich keine Grenzen sind. Die Engstirnigkeit übertrifft die Denkfähigkeit und vernichtet den menschlichen Verstand schon im Ansatz. Und wenn meine Mutter dann stirbt, weil der Einsatz der Antibiotika seinen Tribut fordert, dann liegt es nicht an falscher Behandlung, sondern einfach daran, weil man nichts machen konnte. Vor so viel Dummheit und Ignoranz kann man keinen Respekt haben. Man kann nur hoffen, nie im Krankenhaus zu landen und mithilfe von Antibiotika zugrunde gerichtet zu werden. Wir können alles, nur nicht helfen.

Mein Vater klingt am Telefon völlig niedergeschlagen und leer. Selten habe ich ihn so erlebt. Und ich weiß gar nichts, um ihn etwas aufzumuntern, nichts, was ich tun kann, damit er sich besser fühlt. Die Situation bietet einfach zu wenig, was einen zuversichtlich werden lässt. Und so sage ich, dass es vielleicht einen einzigen Vorteil gibt, wenn meine Mutter in ein Pflegeheim kommt. Die Möglichkeit, dass sie endlich von all den Antibiotika befreit wird und etwas für ihren Darm getan wird. Allerdings erweist sich dieser Versuch rasch als schlechte Idee. Damit kann ich meinen Vater nicht aufmuntern. Eher im Gegenteil. Mein Vater macht sich Sorgen, dass im Pflegeheim gar nichts mehr für meine Mutter getan wird und sie einfach so irgendwo liegt und vor sich hinvegetiert. Ich kann seine Bedenken verstehen, weiß ich doch, dass in Pflegeheimen oft viel zu wenig Personal vorhanden ist und für die Patienten nur wenig bis sehr wenig Zeit zur Verfügung steht. Alt werden ist schon schlimm und schwer genug. Alt werden und auf Hilfe angewiesen sein, ist einfach nur furchtbar.

Tag 100 + 19
Nur noch eine Woche bis zum Pflegheim. Die Zeit rast unaufhaltsam und ich bin weiter wie gelähmt. Dinge passieren und ich kann gar nichts tun als damit zu leben. Ich kann weder meiner Mutter, noch meinem Vater, noch mir, helfen. Es ist zum kotzen. Es ist das Leben.

Mein Vater ruft an. Er ist noch immer nicht besser drauf als gestern. Aber das war auch nicht wirklich zu erwarten. Er möchte, dass ich Kliniken in NRW raussuche, die Schlucktherapien machen. Er möchte, dass meine Mutter woanders behandelt wird, weil man in der Helios Klinik keine Zeit für sie hat. Ich fürchte, dass woanders auch nicht mehr Zeit zur Verfügung steht. Und außerdem bezweifle ich, dass die Krankenkasse so eine Verlegung und Weiterbehandlung überhaupt bezahlen wird. Und wir können es auch nicht bezahlen. Aber immerhin hat er im Gegensatz zu mir Ideen. Ich sitze einfach nur da und nehme alles hin, was passiert. Ich bin keine Hilfe.

Am Abend ruft mein Vater erneut bei mir an. Seine Stimme klingt besser und er ist wieder positiver eingestellt. Meine Mutter, so sagt er, hat ganz ohne seine Hilfe ihren linken Arm nach unten bewegt, als er sie dazu aufgefordert hat. Ich wünsche, dass er Recht hat und hoffe, dass ich es morgen auch sehen kann, dass sie das macht. Denn nur mit solchen bewussten Aktionen haben wir vielleicht noch eine Chance, dass die Reha weitergeführt wird. Und obwohl nicht wirklich etwas passiert ist. Obwohl wir nicht wissen, ob diese kleine Geste auch nur die geringste Auswirkung auf die Bewertung des Zustandes und der Entwicklung meiner Mutter hat, breitet sich sofort Optimismus aus, dass doch nicht alles verloren ist. So schnell kann die Stimmung kippen. Das Wechselbad der Gefühle scheint in den letzten Tagen regelrecht überzuschwappen. Und morgen folgt dann die nächste kalte Dusche. Dafür wird der Mann vom sozialen Dienst ganz sicher Sorgen. Dennoch bin ich heute erleichtert und naiv optimistisch. Der nächste Rückschlag kommt bestimmt.

Tag 100 + 20
Wie zu erwarten, bin ich früh wach und auch nicht besonders entspannt. Der Termin mit dem Mann vom sozialen Dienst stresst mich schon. Ich fürchte, dass er uns klar machen wird, dass es keine weitere Reha gibt. Nicht, dass ich es nicht erwarte, dass es so kommt, aber wenn es dann ausgesprochen ist und so richtig offiziell feststeht, welche Hoffnung bleibt dann noch? Klar, es gibt noch ein Gespräch mit dem Oberarzt. Aber nach dem Gespräch heute kann das schon, zumindest was die weitere Reha angeht, völlig überflüssig sein. Solche und andere unschöne Gedanken am frühen Morgen lassen wenig Platz für Positives. Passend dazu regnet es zum ersten Mal seit Tagen. Ein Zeichen. Weint der Himmel, so wie wir es nachher auch tun werden?

Mein Vater ruft bei der Knappschaft an, um zu fragen, ob schon ein Antrag auf Weiterbewilligung der Reha gestellt wurde. Er erfährt, dass dieser meist erst drei bis vier Tage vor Ablauf der Fall ist. Außerdem erfährt er, dass nicht nur der Arzt darüber entscheidet, ob die Verlängerung der Reha beantragt wird, sondern auch der Zuständige vom sozialen Dienst darüber mitentscheidet. Das ist natürlich nicht gut. So müssen wir nachher bei dem Gespräch freundlich sein und gut aufpassen, was wir sagen. Verdammt.

Der Mann vom sozialen Dienst sieht aus, wie man sich einen Mann, der so einen Job macht, sicher oft vorstellt. Haare zum Zopf gebunden, Brille mit blauem Rahmen und ein Bart, wie ihn derzeit die Köche aus den Kochsendungen gerne tragen. Er sagt, dass wir heute mal ein rein Informatives Gespräch führen, um zu sehen, wie es weitergeht, wenn die Reha mal nicht mehr weitergeht. Er sagt, dass die Krankenkasse irgendwann keine Verlängerung mehr akzeptieren wird, wenn meine Mutter keine Fortschritte macht. Ihr Zustand wird noch immer mit C+ eingestuft. Wir sagen, dass wir am Dienstag ein Gespräch mit dem Oberarzt haben und erfahren, dass der Antrag auf Verlängerung der Reha gestellt wurde und wenn ich es richtig verstehe auch bis zum 20. Oktober genehmigt wurde oder wird. Damit gewinnen wir etwas Zeit. Wir kommen wieder zu der Zeit nach der Reha. Er sagt, dass wir dazu vom jetzigen Gesundheitszustand ausgehen müssen und er sich nicht vorstellen kann, dass meine Mutter dann bei uns zu Hause leben kann. Weiter sagt er, dass meine Mutter schwer krank ist. Mein Vater steht auf, weint, dreht sich weg und sagt mehrmals Scheiße. Was er noch sagt, kann ich nicht verstehen. Ich sitze einfach nur da. Gemeinsam mit dem Mann vom sozialen Dienst geben wir meinem Vater die Zeit, die er braucht.
Als sich meine Vater wieder gesetzt hat, beantragt der Mann vom sozialen Dienst einen Schwerbehindertenausweis für meine Mutter. Ich weiß nicht, wozu das gut ist, gehe aber davon aus, dass das ein normaler Vorgang ist. Mein Vater und ich sitzen da und warten, bis der Mann mit dem Antrag fertig ist. Mein Vater weint viel. Ich befinde mich auf der Sachebene und frage mich, wieso Erwachsene Menschen so emotional reagieren, wie ich und mein Vater es in den letzten Tagen getan haben. Reagieren alle Erwachsenen so? Müsste ich als erwachsener Sohn nicht viel abgeklärter sein und nicht ständig innerlich zusammenbrechen, wenn etwas passiert, was vermutlich völlig logisch ist, mich aber völlig aus der Bahn wirft? Bin ich ein Weichei? Oder reagiere ich völlig normal? Und ist das wichtig oder ändern solche Gedanken irgendwas? Sollte ich nicht weniger emotional sein, weil ich eh nichts ändern kann und mir das ja auch klar ist? Der Mann vom sozialen Dienst ist fertig und wir reden noch etwas über meine Mutter. Mein Vater sagt, dass es Fortschritte gibt und ein Pflegeheim einer Abschiebung bzw. der Aufgabe meiner Mutter gleich käme. Ich erzähle, dass meine Mutter viel mehr auf meinen Vater als auf mich reagiert. Mehr sage ich eigentlich nicht.

Zum Abschluss unterschreibt mein Vater noch eine Art Einverständniserklärung, dass der Arzt, das Pflegepersonal und der Mann vom sozialen Dienst ihre Meinung über meine Mutter in einem Fragebogen mitteilen dürfen. Bürokratie ist toll.
Wir verabschieden uns und verlassen das Büro. Das Gespräch war ganz anders als erwartet. Mein Vater ist dennoch total durcheinander, emotional völlig aufgewühlt und orientierungslos. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.

Meine Mutter überrascht mich zu Beginn unseres Besuches sehr. Fixiert sie doch meinen Vater mit den Augen. Ich weiß nicht, wann sie zuletzt ihre Augen dermaßen bewegt hat. Gibt es doch Fortschritte oder hat es nicht wirklich etwas zu bedeuten?

Zwanzig bis dreißig Taschentücher braucht mein Vater derzeit pro Besuch. Alle paar Minuten muss er meiner Mutter den Mund abputzen. Ich rede auch mit meiner Mutter, aber auf mich reagiert sie viel weniger als auf meinen Vater. Und das, obwohl wir beide Mundschutz, Kittel und Handschuhe tragen. Sie kann sehr wohl zwischen uns entscheiden. Doch vermutlich weiß sie gar nicht, wer ich bin.

Ihre linke Hand ist verkrampft, während sie mit der rechten den Trachealkatheter an ihrem Hals berührt. Das gefällt uns nicht, weshalb wir ihre Hand immer wieder runter legen. Leider macht sie es auch trotz Aufforderung nicht selbst, was mich etwas enttäuscht, weil mein Vater gestern doch sagte, dass sie das alleine kann. Sieht nicht so aus als könnte sie es wirklich. Wieder frage ich mich, ob das jetzt immer so weiter geht. Meine Mutter sabbert, zieht Schnuten, mein Vater putzt ihren Mund ab, redet auf sie ein, versucht ein paar Übungen und ich sitze auf einem Stuhl und gucke zu. Überhaupt erkenne ich meine Mutter, so wie sie mal war, immer weniger. Mein Bild von ihr und das, wie sie nun ist, passt einfach nicht. Als wären es zwei verschiedene Frauen. Meine Mutter weiß vermutlich auch nicht, wer sie ist.
Zwischendurch versuche ich sie davon abzuhalten, den Trachealkatheter anzufassen, während mein Vater ihre Fingernägel schneidet. Sie wirkt teilweise entsetzt, erschrocken und wird ganz unruhig. Meine Versuche, sie zu beruhigen, bringen nicht wirklich was. Ich mache trotzdem weiter.
Später versucht mein Vater meine Mutter dazu zu bringen, den Arm ohne Hilfe nach unten zu legen. Er ist dabei erfolglos. Und dann passiert es doch, ohne Vorankündigung und vielleicht auch willkürlich. Ich sage meine Mutter, dass der Arm nicht dahin soll, will ihn gerade nehmen, um ihn zu bewegen, da bewegt sie ihn nach unten und lässt ihn da liegen. Zufall? Bewusste Aktion? Ich weiß es nicht. Verdammt, wieso weiß ich es nicht? Kann sie, wenn auch nur manchmal, tatsächlich leichte Befehle ausführen? Kann sie bewusst etwas tun? Wie kann man das herausfinden? Mein Vater jedenfalls sieht es positiv. Ich bin hin- und hergerissen.

Auch wenn der Tag durchaus positiv verlief, so hat sich nichts geändert. Es ändert sich eh nicht viel seit Wochen. Und obwohl es mir heute besser geht, weil wir noch etwas Zeit bekommen haben und meine Mutter auf mich aktiver als in den letzten Tagen wirkte, fürchte ich mich schon vor dem Gespräch mit dem Arzt. Denn es gibt etwas, dass einfach nur gegen uns spricht. Die Zeit. Sie droht abzulaufen, wenn es keine erkennbaren Fortschritte in den nächsten Tagen gibt. Und da ich mir nicht vorstellen kann, was es für Fortschritte geben könnte, bleibe ich angespannt. Und egal, wie sachlich ich die Situation immer wieder sehe, es hilft nicht dabei, bei der nächsten unschönen oder bedrohlichen Nachricht, nicht völlig panisch zu werden und innerlich zusammenzubrechen. Ich bin dazu einfach nicht in der Lage.

Tag 100 + 21
Natürlich sollte man, wenn man Erwachsen ist, wissen, dass ein Leben nun einmal nicht ewig dauert und dass es wahrscheinlich ist, dass seine Eltern vor einem sterben. Mit diesem Wissen ist es für manche vielleicht leichter mit Verlusten klarzukommen. Mich hat dieses Wissen immer erschreckt. Es war immer bedrohlich und wurde mit zunehmendem Alter auch nicht besser. Denn je älter ich werde, desto mehr Menschen sterben. Und je näher ich diesen Menschen stand, desto schwerer ist es zu ertragen.
Vielleicht habe ich deshalb nur einen recht überschaubaren Kreis Mensch so nah an mich herangelassen, weil ich mich immer vor diesen Verlusten fürchtete. Vielleicht hat es aber auch ganz andere Gründe. Die Frage konnte ich mir nie wirklich beantworten. Als meine Oma starb war ich noch sehr jung. Und so war es zwar hart für mich, aber so wirklich begriffen habe ich es wohl zum Glück auch nicht. Aber jung bin ich schon lange nicht mehr und der Verlust meiner Oma blieb auch nicht der letzte. Meine Cousine starb vor fast zwanzig Jahren. Sie war nur ein paar Jahre älter als ich und ich denke noch oft an sie. Sie war ein lebensfroher Mensch, den ich gerne besser gekannt hätte. Doch schon damals war ich distanziert, manche würden es komisch nennen, und so hielt ich immer eine gewisse Distanz aufrecht. Zumindest scheinbar. Und doch war sie, obwohl wir uns nur wenige Male im Jahr sahen, eine Person, die mir sehr viel bedeutet hat. Ihr Tod, der mir plötzlich erschien, war vermutlich gar nicht so überraschend gekommen. Doch da ich mich nie mit ihrer Krankheit beschäftigt habe, immer so tat als wäre alles in Ordnung, und mir vorgaukelte, wir hätten ewig Zeit, war der ihr Tod ein Schock. So jung stirbt man nicht. Zumal ich ja bei unserem letzten Treffen sicher war, dass wir uns wiedersehen. Sie hingegen sagte, dass wir uns vielleicht nicht wieder sehen. Ich nahm es nicht ernst. Ein weiteres Treffen sollte es nicht geben. Dieser Verlust hinterließ eine tiefe Narbe und vielleicht untermauerte dieses Erlebnis irgendwie meinen Entschluss, niemals eine Familie haben zu wollen, noch mehr. Wobei ich auch aus vielen anderen Gründen nie eine Familie haben wollte. Zumindest glaube ich das heute.

Dann starb vor fünf Jahren völlig überraschend mein Onkel. Er brach vor der Wohnung in der ich jetzt wohne zusammen und starb noch bevor jemand ihn entdeckte. Die Nachbarin hörte zwar, wie er hinfiel, hatte aber Angst nachzusehen. Möglicherweise hätte sein Tod also verhindert werden können. Vielleicht könnte er heute noch leben. Vielleicht aber, und auch das halte ich mittlerweile für möglich, hätte er es aber auch nur als Pflegefall überlebt. Und ob ihm das gefallen hätte, wage ich zu bezweifeln.

Es starben auch noch andere Angehörige, aber deren Verlust schockierte mich zwar, traf mich aber nicht so tief. Und nun also meine Mutter. Sicherlich war sie nicht gesund, sicherlich hatte sie gefährliche Leiden und natürlich war mir bewusst, dass sie nicht ewig leben würde. Dass sie aber so plötzlich, zu einer Zeit als alles so entspannt und glücklich wirkte, so kommen musste, ist noch heute ein Schock. Natürlich weiß ich, dass sie nicht tot ist. Ich weiß, dass sie noch lebt. Aber weiß sie es auch? Weiß sie, wer sie ist? Wer wir sind? Wird sie es je wissen? Werden wir je wissen, was sie weiß? Alles sehr unwahrscheinlich und deshalb fühlt es sich ab und zu so ans als wäre sie wirklich tot. Und dann fühlt es sich beschissen an. Nie wieder reden, nie wieder irgendetwas zeigen, nie wieder Geburtstage oder Weihnachten zusammen verbringen. Dieses Bewusstsein schmerzt. Und da spielt es auch keine Rolle zu wissen, dass das Leben so funktioniert. Und manchmal frage ich mich, wie man das verdammte Leben eigentlich ertragen soll, ohne zu verdrängen. Und wenn ich verdränge, dann frage ich mich, ob das richtig ist und bekomme ein schlechtes Gewissen. Ich weiß nicht, ob das normal ist, aber ich weiß, dass das Leben viele Argumente liefert durchzudrehen. Und obwohl ich das Leben oft verfluche und für sinnlos halte, weiß ich auch, dass es viele Dinge bietet, die einem den einen oder anderen Tag bescheren. Nur komme ich weder mit der Endlichkeit, noch mit der daraus resultierenden Sinnlosigkeit klar. Und doch muss ich es, um nicht durchzudrehen, völlig zu verzweifeln oder von einer Brücke zu springen. Der Mensch sitzt in der Falle. Und dagegen kann er gar nichts tun. Die Lebensfalle ist immer tödlich. Ich finde das irgendwie Paradox.

Tag 100 + 22
Es ist dies die erste Woche, in der mein Vater keine Bild der Frau für meine Mutter kauft. Ich kann nicht sagen, was die Gründe dafür sind, aber vielleicht ist es ein kleiner Schritt, die Situation anzunehmen. Vielleicht sind es solche Kleinigkeiten, die ihm helfen, die Situation zu akzeptieren. Er wird nicht aufgeben, er wird meine Mutter nicht als hoffnungslos verloren ansehen, aber vielleicht schafft er es, ein klein wenig besser mit der Gesamtsituation zurechtzukommen. Ich würde es ihm sehr wünschen.

Als mich mein Vater später anruft, weiß ich, dass er noch weit davon entfernt ist, die Situation anzunehmen oder gar zu akzeptieren. Er liest viel über Behandlungsmöglichkeiten bei Schluck- und Sprachproblemen und hat ein paar Fragen. Mendelsohn-Manöver Therapie, Masako Manöver, Stimulation nach F.O.T.T. Ich versuche ihm zu erklären, dass diese Dinge sicher schon gemacht wurden und die Voraussetzungen dazu auch gegeben sein müssen. Wenn meine Mutter keinen Schluckreflex mehr hat, dann ist es vielleicht nicht möglich, dass diese Dinge gemacht werden. Er möchte wissen, wie wir den Mund meiner Mutter öffnen können. Ich sage ihm, dass es schwer wird, wenn sie das nicht will und/oder versteht. Und selbst wenn wir ihre Zunge halten und sie so zum schlucken veranlassen wollen, kann es sein, dass es nicht klappt, weil es eben einfach nicht mehr geht. Davon will mein Vater natürlich nichts hören. Die Möglichkeit, dass meine Mutter vielleicht wirklich nie wieder selbständig schlucken kann, schließt er noch immer kategorisch aus. Vielleicht bin ich zu resigniert, zu wenig optimistisch, aber die Möglichkeit, dass meine Mutter diese Fähigkeiten nie mehr erlangen wird, darf man meiner Meinung nach nicht völlig ausschließen. Ist das ein Fehler meinerseits?

Gestern bekam mein Vater eine Rechnung von der Knappschaft. Er wusste nicht, wofür er zehn Euro zahlen sollte. Nun betrachte ich die Rechnung und stelle fest, dass diese zehn Euro für den Krankenwageneinsatz bzw. die Fahrtkosten vom 07. Juni sind. Der Tag an dem das Unglück über uns einbrach. Die Gesamtkosten belaufen sich übrigens auf 334 Euro. Die zehn Euro sind wohl der Eigenanteil. Ich verstehe diese ganzen Kosten, Rechnung und Eigenanteile nicht. Aber das ist unser kleinstes Problem.

Tag 100 + 23
Die Frage, die in Gesprächen über den Zustand meiner Mutter immer wieder gestellt wird, ist, wie mein Vater damit klarkommt und was er macht, wenn meine Mutter stirbt oder er keine Hoffnung mehr hat, dass sich ihr Zustand irgendwann ändert. Es gibt viele Beispiele, dass Ehepartner kurz nacheinander versterben, weil der Überlebende keinen Sinn mehr darin sieht, allein weiter zu leben. Ich weiß nicht, ob das bei meinem Vater auch so sein wird. Es ist aber so, dass er, wie er oft selbst sagt, keinen Bock mehr auf die meisten Dinge hat. Und vielleicht, wenn er seine Aufgabe, sich um meine Mutter zu kümmern, nicht mehr hat, hat es für ihn auch keinen Sinn weiter zu leben. Ausschließen, dass es so sein könnte, kann ich es jedenfalls nicht.

Tag 100 + 24
Die Nacht ist alles andere als gut. Mir ist schlecht, ich bin sehr angespannt und schlafe nicht gut. Dafür wache ich regelmäßig auf. Das bevorstehende Gespräch mit dem Oberarzt macht mir sehr zu schaffen. Auch die Sorge, wie mein Vater einen ungünstigen Verlauf des Gesprächs aufnimmt, sorgt für Magenschmerzen. Ich bin total angespannt und überfordert und habe großes Glück, dass Agnes bei mir ist.

Die Zeit schreitet voran, der Termin rückt näher. Ich bin gestresst und Agnes geht in die Apotheke, um mir Neurexan zu besorgen. Immer versucht sie mir zu helfen. Ohne sie wäre ich echt aufgeschmissen. Alle dreißig Minuten nehme ich eine dieser Tabletten. Und dann ist es soweit und wir fahren los.

Meinen Vater, den wir auf dem Parkplatz der Klinik treffen, geht es sichtbar ebenfalls sehr schlecht. Auch er scheint ähnlich Befürchtungen zu haben, wie ich sie habe. Dennoch muss ich feststellen, dass ich mich etwas beruhigt habe. Liegt es am Neurexan? Ich weiß es nicht. Ist auch in diesem Moment nicht so wichtig.
Wir melden uns an und müssen noch ein paar Minuten warten. Meinem Vater kommen die Tränen. Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll. Ich bin einfach froh, Agnes hier an meiner Seite zu haben.

Das Gespräch mit dem Oberarzt verläuft anders als erwartet. Er macht uns zwar wenig Hoffnung, erklärt aber einiges und sagt, dass er noch einiges versuchen wird. Das Zucken meiner Mutter bei jeder Berührung liegt daran, dass ihr jede Berührung wehtut. Fehlschaltungen im Gehirn sind dafür verantwortlich. Deshalb bekommt sie nur ein Schmerzmittel, irgendein Opiat. Die Dosis wird so lange erhöht, bis sie ausreichend ist, um wieder mit meiner Mutter zu trainieren. Was das Schlucken angeht, macht er uns wenig Hoffnung. Mein Vater weint, reißt sich aber sehr zusammen. Ich höre zu und sitze einfach nur da.
Der Oberarzt sagt, dass wir uns, unabhängig davon, wie lange die Reha noch läuft, schon mal nach einem Pflegeheim umsehen sollen. Der Mann vom sozialen Dienst ist uns dabei gerne behilflich. Und wenn es irgendwann so kommt, dass meine Mutter in ein Heim kommt, dann möchte er sie dennoch ein paar Monate später nochmal in der Klinik haben, um zu sehen, ob es Fortschritte gibt. Das klingt alles plausibel und auf der Sachebene auch gut für mich. Emotional ist das natürlich Scheiße, bedeutet es doch, dass es nicht wirklich viel Hoffnung gibt. Meine Mutter ist und bleibt ein Pflegefall. Und ich glaube, dass sie mich nie wieder erkennen wird. Zumindest nicht als ihren Sohn. Und überhaupt, ihr Zustand ist Scheiße. Das hätte sie sicher nicht gewollt, dass sie mal so leben muss. Wer könnte so etwas auch wollen?

Als wir das Zimmer der Oberarztes verlassen haben, brauchen wir eine Weile zum durchatmen. Mein Vater weint. Und ich stehe einfach nur da. Nach einer Weile sagt er, dass ich dringend einen Termin beim Anwalt machen muss, wegen der Wohnung. Die beiden Kanzleien, die ich angeschrieben habe, um zu fragen, ob sie mir bei dem Wohnungsproblem behilflich sein können, haben bisher nicht geantwortet. Ich werde dort morgen anrufen.
Wir gehen ins Cafe, wo Agnes auf uns wartet reden über die Situation und ich glaube, dass es auch meinem Vater gut tut, dass Agnes da ist. Sie ist wohl unser beider Engel. Meiner ist sie schon lange.

Nachdem der Tag sich dem Ende entgegen neigt, bleibt festzuhalten, dass das Gespräch für mich nicht so schlimm war, wie ich es befürchtet habe. Wobei ich auch mal wieder nicht sagen kann, was ich erwartet habe. Angst vor solchen Gesprächen gehört wohl einfach dazu und lässt sich auch nicht verhindern. Und vermutlich wird es mir vor den nächsten Terminen ähnlich gehen. Mein Einfluss darauf erscheint mir gerade mehr als gering zu sein. Das Wissen darüber macht es leider auch nicht besser.

Tag 100 + 25
Meine Mutter schläft viel, ist aber, so sagt mein Vater, nicht mehr so schreckhaft bzw. reagiert nicht mehr so heftig auf Berührungen. Vielleicht helfen die Schmerztabletten, die laut Pflegerin sehr hoch dosiert sind, tatsächlich ein wenig. Dennoch kann ich keine Euphorie aufkommen spüren. Vielmehr frage ich mich, wie viele Tabletten ein Mensch verträgt bis er an den Nebenwirkungen stirbt. Ob die Ärzte wirklich noch wissen, was sie tun? Oder forschen sie an meiner Mutter, was machbar ist und wissen in Wirklichkeit nicht, was da gerade alles passiert und was Nebenwirkungen anderer Medikamente sind, was Wechselwirkungen sind und was meine Mutter ohne Tabletten für Probleme hat? Ich fürchte, sie experimentieren einfach so in den Tag hinein.

Tag 100 + 26
Ich muss gestehen, dass ich mittlerweile ziemlich fertig bin. Ich kann nicht mehr, bräuchte eine Pause. Eine Auszeit. Meine Kraft ist aufgebraucht. Die ganze Situation entzieht mir mehr und mehr meine Energie. Ich entspanne zu wenig. Wenn ich an meinen Vater denke, sehe ich erst recht schwarz. Er ist ja völlig gefangen und nimmt immer mehr Mittel zur Beruhigung. Dazu jeden Abend zwei Zopiclon, um etwas schlafen zu können. Heute will er zum Arzt, weil er starke Schmerzen in den Gelenken hat, die ihn sogar oft aus dem Schlaf wecken. In seiner Situation wäre ich vermutlich längst zusammen gebrochen.

Die Schmerzmittel, die meiner Mutter verabreicht werden, scheinen zu wirken, weshalb sie heute volles Reha-Programm hat. Intensivpflege, Manuelle Therapie, Funktionelle Therapie und Schlucktherapie. Und weil der Schlauch, der in der Wunde am Steißbein war, auch entfernt wurde, kann meine Mutter nun endlich wieder sitzen, weshalb sie am Morgen im Rollstuhl saß.
Es ist erstaunlich, wie diese Informationen für eine Art Befreiung sorgen. Als wäre nun endlich etwas geschafft, eine Hürde genommen. Dabei ist nur ein Zustand erreicht, der schon längst erreicht war, bevor es erneute Rückschläge gab. Dennoch fühlt es sich gut an. Vermutlich auch deshalb, weil mein Vater am Telefon viel besser klingt als in den Tagen zuvor. Das nimmt mir kurzzeitig den Druck und entspannt die Lage für einen Moment.

Mein Vater bekommt ein neues Medikament zur Beruhigung. Bromazanil 6mg. Möglicherweise trägt auch das dazu bei, dass er besser klingt. Er hat das Medikament nämlich schon am Tag eingenommen und ist selbst ganz angetan. Warum er nicht früher zum Arzt gegangen ist, fragt er sich. Das Zopiclon war Mist. Das Bromazalin ist ein richtiges Medikament. Gleich will er, so wie am Mittag, noch eine halbe Tablette nehmen. Dann am Abend noch eine. Es klingt so als würde er die Dosierung selbst bestimmen. Ich muss morgen mal lesen, was dazu in der Packungsbeilage steht. Mit solchen Medikamenten ist nicht zu spaßen.

Tag 100 + 27
Hat meine Mutter ein Bewusstsein dafür, dass sie gerade liegt, sitzt oder steht? Merkt sie, dass etwas anders ist? Kann sie unterscheiden zwischen liegen, stehen oder sitzen? Oder weiß sie gar nicht, was mit ihr passiert? Diese Fragen stelle ich mir, nachdem wir gestern ja wirklich erleichtert waren, dass es nun weiter geht. Aber gibt es wirklich einen Grund zur Erleichterung? Denn schließlich sind wir ja nur wieder zu einem Punkt gelangt, den wir schon mal erreicht hatten. Es geht auf und ab. Aber geht es auch nach vorne? Ich sehe das seit Wochen nicht mehr. Jeder Fortschritt folgt aus einem oder mehreren Rückschritten. Aber ist es dann noch Fortschritt?

Mein Vater hat gestern drei Mal eine halbe Tablette Bromazanil genommen. Der Arzt hat ihn lediglich darauf hingewiesen, dass es sehr schnell süchtig macht. Dass man es besser nicht nimmt, wenn man noch mit dem Auto fährt, hat er nicht erwähnt. Mein Vater, der natürliche Mittel, weil sie bei ihm bisher nicht gewirkt haben, nun nicht mehr will, hat vor dem schlafen gehen gestern auch noch Zopiclon genommen. Mit diesem Cocktail intus konnte er ein paar Stunden schlafen. Wirklich zu wirken scheint das Zeug also auch nicht. Ich finde es eh bedenklich, dass er nun alles einwirft.
Kurz bevor wir meine Mutter besuchen fahren, nimmt er eine halbe Bromazanil. Ich erkläre ihm, dass er so nicht Auto fahren sollte. Sieht er anders. Erst nachdem ich ihm die Nebenwirkungen des Beipackzettels vorlese, sagt er, dass er ab morgen keine Tablette mehr nimmt bevor er fährt. Ich weise ihn noch ausdrücklich darauf hin, dass es besser wäre, wenn er in den nächsten Tagen komplett auf Bier verzichtet. Er sagt, dass ihm Bier derzeit sowieso nicht schmeckt. Hoffentlich hält ihn das davon ab, heute Abend ein Bier zu trinken.

Als meine Mutter aufwacht, zuckt sie am ganzen Körper. Zuckungen von Kopf bis Fuß. Das sieht nicht gut aus. Erst als mein Vater sie anspricht und sagt, dass alles okay ist und sie sich beruhigen soll, hören die Zuckungen auf. Fortschritt sieht meiner Meinung nach anders aus.
Leider erkenne ich keine weiteren Reaktionen, die mir Hoffnung geben. Meine Mutter liegt eigentlich nur da. Sicherlich bewegt sie, nach langer Zeit mal wieder, ihre Füße. Aber wirkliche Reaktionen bleiben aus. Ist sie wie ein Baby, welches ihre Welt nun neu entdeckt und sich Tag für Tag weiterentwickelt? Ich weiß nicht, wie Babys sich so entwickeln, deshalb kann ich das nicht vergleichen. Und so beobachte ich meine Mutter und meinen Vater, wie er ihr den Mund abwischt und ihr immer wieder sagt, dass es wichtig ist, dass sie schluckt und auch den Mund aufmacht. Immer wieder wiederholt er es. Macht das Sinn? Vermutlich mehr als sie einfach nur anzustarren. Ich weiß auch nicht, was ich zu ihr sagen soll. Sie soll sich entspannen, locker lassen, locker sein. Immer wieder dieselben Sätze, wenn ich mal etwas sage. Hilflos, ratlos und völlig leer, stehe ich neben ihr, gucke sie an und streichle ihr Gesicht, ihre Stirn. Was davon nimmt sie bewusst war? Erkennt sie mich? Zumindest als jemanden, der öfter bei ihr ist? Oder nimmt sie mich nicht wirklich wahr? Hat alles was ich tue vielleicht gar keine Bedeutung für sie? Ist jede Aktion, nachdem sie stattgefunden hat, für sie vergessen? Werde ich es je wissen? Und wo ist meine Mutter?

Tag 100 + 28
Nachdem mein Vater gestern versprochen hat, keine Bromazanil mehr vor dem Autofahren zu nehmen, erzählt er mir heute etwas ganz anderes. Weil er diese Nacht so gut geschlafen hat, ändert er die Medikation wie folgt. Morgens eine Viertel, statt eine halbe Bromazanil. Mittags ebenfalls eine Viertel statt eine halbe Bromazanil. Am Abend wie gehabt eine halbe Bromazanil und vor dem Schlafengehen eine Zopiclon. Ich weise ihn darauf hin, dass er nicht beide Präparate nehmen soll. Interessiert ihn nicht. Es geht ihm ja gut. Und wenn die Tabletten alle sind, dann will er sich neue aufschreiben lassen. Ich sage ihm, dass der Hausarzt das sicher nicht machen wird, obwohl ich davon ausgehe, dass er es doch tut. Mein Vater sagt, dass er die Tabletten ja an verschiedenen Tagen aufschreiben lässt und der Arzt eh nicht guckt und alles einfach unterschreibt. Ich fürchte, dass er da Recht hat. Der Hausarzt sollte vielleicht besser in Rente gehen oder wenigstens kein Zopiclon mehr aufschreiben. Doch soweit ist es noch nicht. Mindestens eine Woche kann mein Vater sich diesen Cocktail noch gönnen. Sehr bedenklich.

Meine Mutter verschläft fast den gesamten Besuch meines Vaters und ich stelle erneut fest, dass ich ein großes Problem mit der Endlichkeit des Lebens habe.

Tag 100 + 29
Der letzte Tag der Woche. Die Zeit scheint immer schneller und schneller zu vergehen. Und dennoch gibt es keine Fortschritte bei meiner Mutter. Vielleicht sollten wir uns auf ein viele Jahre andauerndes Leben mit einem Pflegefall in der Familie anfreunden. Eine andere Wahl haben wir eh nicht und die Hoffnung auf ein Wunder reicht kaum aus, um zu glauben, dass es irgendwann doch noch gut wird.
Und auch, wenn alles logisch erscheint, ist die Realität so nicht wirklich zu ertragen. Und wenn man zu viel darüber nachdenkt, nach dem Warum fragt, wird man nur völlig depressiv und verzweifelt völlig. Damit ist ja auch keinem geholfen und es bringt auch nichts. Das Leben ist eine Falle, wir sitzen drin.

Während ich den Dingen ihren Lauf lasse, nichts unternehme und resigniert, ratlos bin, sucht mein Vater nach einer anderen Klinik. Eine Klinik, die darauf spezialisiert ist, Patienten, die nicht schlucken können, zu behandeln. Er ist scheinbar überzeugt davon, dass es in einer anderen Klinik möglich sein wird, meiner Mutter das Schlucken wieder beizubringen, wenn es in Hagen nicht klappt. Ich fürchte, dass er niemals seine Einverständnis geben wird, meine Mutter in ein Heim zu verlegen. Er wird alles tun, selbst wenn es keinen Sinn macht, nur um meine Mutter dann in einer anderen Klinik behandeln zu lassen. Ich frage mich, wie das gehen soll. Und selbst wenn meine Mutter die Fähigkeit, selbständig zu schlucken, wiedererlangen sollte, denkt er, dass meine Mutter, die uns und vermutlich auch sich selbst, nicht erkennt, dann wieder nach Hause kann? Mir macht das Angst. Angst davor, dass er sich da in etwas verrennt und die Realität völlig ausblendet. Er scheint wirklich überzeugt zu sein, dass alles wieder gut werden kann. Ich weiß nicht, ob das so gesund ist. Und was wird sein, wenn eines Tages nichts mehr geht? Wenn es keine Möglichkeiten mehr gibt? Was treibt ihn dann noch an? Ich fürchte gar nichts.

Meine Mutter schläft wieder viel. Eine Pflegerin sagt, dass es an den Medikamenten liegt. Diese sind erst bei 20% und werden noch erhöht. Je höher die Dosierung, desto höher die Müdigkeit. Aber desto geringer auch die Schmerzen. Letzteres ist gut. Aber irgendwie ist die Gesamtsituation weiter beschissen.

Tag 100 + 30
Ich möchte zum Mann vom sozialen Dienst gehen. Mein Vater sagt, dass ich ihm sagen soll, dass es meiner Mutter schon viel besser geht, sie lockerer ist und den Mund aufmacht. Ich finde das albern, denn der Mann vom sozialen Dienst ist sicher über den Zustand meiner Mutter informiert. Und ich sehe diese Fortschritte, die mein Vater sieht, nicht. Noch immer glaubt er, dass das mit dem Schlucken bald wieder wird. Aber selbst wenn, was dann? Dann weiß meine Mutter noch immer nicht, wer sie ist oder wir sind. Mein Vater scheint diesen Teil des Zustandes meiner Mutter völlig zu ignorieren. Selbstschutz?

Der Mann vom sozialen Dienst ist zwar da, aber er hat zu tun, so dass ich heute nicht zu ihm kann. Also versuche ich morgen wieder ihn telefonisch zu erreichen. Letzte Woche war ich dabei wenig erfolgreich. Aber was für eine Wahl habe ich? Meinem Vater gefällt das nicht. Er möchte eigentlich nicht, dass ich dahin gehe, weil er glaubt, dass meine Mutter dann nur eher in ein Pflegeheim abgeschoben wird. Ich weiß nicht, ob es einen Unterschied macht, wenn ich zu dem Mann gehe. Ich weiß eh nur wenig.

Einen Termin mit dem Oberarzt möchte mein Vater auch nicht. Ich sage ihm, dass wir dann am 25. Oktober, wenn die Verlängerung der Reha abläuft und wir keine Verlängerung bekommen haben, ziemlich dumm dastehen und von den Tatsachen überrumpelt werden. Scheint meinen Vater nicht zu interessieren. Er will es aussitzen. Scheinbar glaubt er, dass, wenn wir uns nicht melden, diese Reha bis zur völligen Genesung meiner Mutter fortgeführt wird. Oder aber, was ebenso wahrscheinlich ist, er hat Angst vor schlechten Nachrichten. Das kann ich nachvollziehen, doch egal, was wir auch tun oder unterlassen zu tun, am Ende werden uns schlechte Nachrichten überrollen. Und ich denke, dass es weniger schlimm ist, wenn man wenigstens ein wenig darauf vorbereitet ist und man nicht völlig überraschend überrollt wird. Aber hier werden wir uns heute nicht einig werden, so viel ist klar.

Meine Mutter schläft fast die ganze Zeit. Mein Vater findet das gar nicht gut, weil er so nicht mit ihr trainieren kann. Ich frage mich, ob meine Mutter von diesem ganzen Training überhaupt wirklich etwas wahrnimmt und es irgendwelche Fortschritte bringt. Ich sehe keine. Ich sehe nur, dass die Medikamente sie müder machen und sie weniger zusammenzuckt, wenn wir sie berühren. Aber da sie noch immer etwas zuckt, gehe ich davon aus, dass die Dosis noch erhöht wird. Eine höhere Dosis bedeutet, dass sie noch müder sein wird und noch mehr schlafen wird. Wir drehen uns höchstens im Kreis, doch kommen nicht einen Schritt nach vorn. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich sehe nicht das kleinste Licht am Ende dieses Tunnels. Und doch fahren wir immer tiefer hinein.

Tag 100 + 31
Der Termin beim Anwalt bringt mir nicht wirklich etwas. Da die Wohnung kaum Wert hat und sich sicher kaum verkaufen lässt, sieht er die Chance, dass die Wohnung erhalten bleibt und nur die Mieteinnahmen verwendet werden. Genauere Angaben kann man aber erst machen, wenn es etwas schriftlich es gibt. Dachte ich mir schon irgendwie. Dafür hat er aber noch eine Information, wie viel Geld mein Vater von seiner Rente behalten darf, wenn alles so kommt, wie wir es befürchten. 382 Euro. Dazu die Mietkosten, wenn die Wohnung, die er bewohnt, angemessen ist. 382 Euro dafür, dass er sein Leben lang gearbeitet hat. Lächerlich. Gut, dass ich nie gearbeitet habe und es auch nie tun werde. Kann man nur bei verlieren.

Mein Vater nimmt weiter sein Bromazanil vor der Fahrt. Wirkt aber auch scheinbar nicht. Mein Vater sagt. Mutter wird noch Wochen oder Monate im Krankenhaus bleiben. Er ist total überzeugt dass sie irgendwann zurück kommt.

Tag 100 + 32
Bevor wir zu meiner Mutter fahren, nimmt mein Vater seine Bromazanil. Meinen Hinweis, dass das nicht gut ist, ignoriert er. Bisher hat es ja auch nicht geschadet. Ja, genau. Ich hasse so etwas.

Das Gespräch beim Mann vom sozialen Dienst verläuft für mich ganz okay. Für meinen Vater ist es purer Stress. Schon direkt nachdem wir Platz genommen haben, erzählt er dem Mann, dass meine Mutter Fortschritte macht und schon den Mund öffnet und entspannter ist. Ich frage mich, ob er alle Menschen überzeugen will, dass es Fortschritte gibt oder ob er sich damit vielleicht auch selbst überzeugen oder motivieren will.
Das erste Pflegeheim, dass uns empfohlen wird, findet mein Vater nicht gut. Und zwar deshalb, weil es ein Pflegeheim ist, dass ausschließlich Patienten aufnimmt, die einen Trachealkatheter im Hals haben. Das ist nichts für meine Mutter, weil mein Vater sicher ist, dass sie diesen Trachealkatheter schon bald nicht mehr braucht. Leider teilen weder der Mann vom sozialen Dienst noch ich die Meinung meines Vaters. Da mein Vater sich aber nicht davon abbringen lassen will, versucht der Mann vom sozialen Dienst es ihm anders zu erklären. Er sagt, dass es in etwa so ist, als wenn jemand einen gelähmten Arm hat. Der Arm ist da, funktioniert aber nicht. Und so ist es mit dem Schluckreflex meiner Mutter. Sollte sie nun Nahrung zu sich nehmen, würde diese direkt in die Lunge gelangen, weil das System einfach nicht funktioniert. Ich finde das Beispiel gelungen, fürchte aber, dass mein Vater auch so nicht zu überzeugen ist. Wir bekommen deshalb auch noch die Adressen von Pflegeheimen in unserer Nähe. Außerdem vereinbart der Mann vom sozialen Dienst einen Termin für kommenden Freitag bei dem Pflegeheim, welches er zuerst vorgeschlagen hat.

Kaum sind wir aus dem Zimmer raus, ist mein Vater sichtlich getroffen. Seine Tränen kann er kaum unterdrücken und er ist irgendwie orientierungslos. So ist es eigentlich nach jedem Gespräch, dass wir führen. Diese Gespräche belasten ihn sehr, weil sie auch immer wieder seine Illusionen rauben, ihm immer wieder schonungslos offenbaren, dass meine Mutter sehr krank ist und vermutlich nie wieder gesund wird. Ich weiß nicht, was ich tun kann, wie ich ihm helfen kann. Er tut mir leid, aber wir können uns ja nicht in unsere Traumwelt flüchten und hoffen, dass alle unsere Träume wahr werden. Denn dann würde der Fall umso tiefer werden.

Meine Mutter ist heute wieder etwas schreckhaft und verkrampft. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie mich ansieht. Dennoch passieren einige Dinge, die mich überraschen und verwirren. Ein paar Mal öffnet sie tatsächlich den Mund, nachdem mein Vater sie aufgefordert hat. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es Zufall ist oder bewusst herbeigeführt wurde. Noch mehr in Erinnerung bleibt mir allerdings eine andere Situation. Mein Vater spricht meine Mutter an und möchte, dass sie ihren Arm runter nimmt. Sie öffnet ihre Augen, scheint ihn anzusehen, wirkt angestrengt und ich habe das Gefühl als würde sie irgendwie reagieren wollen. Sicherlich hatte ich das Gefühl schon öfter, doch dieses Mal folgt dieser angestrengten Mimik die Armbewegung. Meine Mutter hebt den Arm, bewegt ihn ruckartig ein wenig nach vorn, dann noch ein Ruck und ein letzter Ruck, bevor sie den Arm ablegt. Ich bin ziemlich überrascht und versuche zu verstehen, was gerade passiert ist. Sollte meine Mutter wirklich umgesetzt haben, was mein Vater wollte oder ist das nur ein weiterer Zufall, der nur wie eine gewollte Aktion aussah? Kommt da vielleicht etwas zurück, an das niemand, abgesehen von meinem Vater, wirklich geglaubt hat. Oder lasse ich mich hier täuschen von dem was ich gesehen habe und dem, was ich gerne hätte? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass dieser Moment sich von vielen anderen Momenten unterschieden hat und dass diese Aktion irgendwie anders war. Was ich davon halten kann, weiß ich nicht. Es bleibt alles verwirrend und auch unbegreiflich.

Auf der Fahrt nach Hause sagt mein Vater „Zu Hause kann ich Mutter nicht pflegen.“ Und es klingt mehr nach einer Frage als nach einer Aussage. Denkt er jetzt wirklich darüber nach? Ich sage ihm, dass das nicht geht, weil er ja gar nicht alle Sachen hat, um dies zu tun. Er sagt, dass man ja alles besorgen kann. Ich hoffe, dass er das nicht wirklich meint und nur eine Bestätigung braucht, dass es richtig ist, sie nicht nach Hause zu holen. Ich stelle mir vor, dass er dann 24 Stunden am Tag bei ihr sein wird, nie mehr die Wohnung verlässt. Immer üben will und daran irgendwann sein Leben verliert. Das kann keine Lösung sein. Ich sage ihm, dass er das nicht kann, weil er all die Aufgaben nicht übernehmen kann und wenn wirklich etwas passiert, niemand das ein wird, der weiß was zu tun ist. Ich hoffe, dass er es ebenso sieht und nicht ernsthaft in Erwägung zieht, meine Mutter nach der Reha nach Hause zu holen. Das würden wir drei nicht lange durchhalten.

Tag 100 + 33
Das Fazit meines Vaters zum Aufenthalt meiner Mutter in der Klinik, ist fast durchgehend vernichtend. Außer die Wunde am Steißbein erfolgreich zu behandeln, wurde in der Klinik nichts geschafft. Er sucht schon nach einer anderen Klinik, in der sich mehr um meine Mutter gekümmert wird. Er hat gelesen, dass es noch andere Untersuchungen gibt und der Tracheakatheter bei allen Patienten irgendwann entfernt werden kann. Ich versuche ihm zu erklären, dass es durchaus sein kann, dass bei Mutter nicht mehr möglich ist. Aber damit komme ich nicht weiter. Er hat gelesen, dass das geht und davon lässt er sich nicht abbringen. Außerdem ist er sauer, dass diese Woche nur einmal die Sprachtherapie durchgeführt wurde. Ich sage ihm, dass wir die Gründe dafür nur erfahren, wenn wir öfter mit dem Oberarzt reden. Das möchte er aber nicht. Er hält nicht viel von der Klinik. Und morgen soll ich im Internet zusammen mit ihm nach anderen Möglichkeiten suchen. Aber erst schauen wir uns das Pflegeheim an. Aber wir unterschreiben nichts, weil meine Mutter ja noch weiter behandelt werden muss. Es gibt da noch viele Möglichkeiten.

Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll. Wenn es Möglichkeiten gibt, dann müssen diese natürlich ausgeschöpft werden. Sollte es aber so sein, dass es keine Möglichkeiten mehr gibt, dann muss mein Vater irgendwann begreifen, dass es so ist. Und ich weiß auch, dass es schrecklich ist. Und natürlich ist es leichter zu ertragen, wenn man glaubt, dass immer noch was geht. Es ist ja nicht so, dass ein Teil von mir nicht auch darauf hofft, aber die Chancen sind nun mal gering. Und auch mich wird es umhauen, wenn irgendwann gesagt wird, dass nicht mehr getan werden kann und meine Mutter ins Pflegeheim abgeschoben wird. Doch ein Teil von mir weiß, dass es so kommen kann. So wird es sicher nicht leichter, doch es besteht die Hoffnung, dass ich damit leben kann, weil ich damit leben muss. Bei meinem Vater sehe ich diese Möglichkeit nicht. Er wird vermutlich so lange nach einer Möglichkeit suchen bis er oder meine Mutter gestorben ist. Und dieser Gedanke macht mich ziemlich fertig. Damit komme ich nicht klar. Verdammte Hölle.

Tag 100 + 34
Dass ich derzeit mit der Situation besonders überfordert bin, zeigt sich auch in meinen Träumen. Nach längerer Zeit träume ich wieder von unserer Situation. Der ganze Traum ist ein Kampf und anstrengend. Ich versuche meinem Vater klarzumachen, dass er etwas loslassen soll, dass er die Situation auch mal anders betrachten soll, dass nicht zwangsläufig alles gut wird. Ich renne gegen eine Wand. Wie in der Realität, komme ich auch im Traum nicht weiter. Immer neue Situationen, immer neue Versuche meinerseits. Doch mein Vater ist nicht umzustimmen. Ich mache mir Sorgen wegen seiner Einstellung, Sorgen weil er zu wenig schläft und Sorgen wegen der Tabletten, die er ganz selbstverständlich schluckt, obwohl sie nicht wirklich helfen. Im Traum versuche ich ihn dazu zu bringen über seine Gefühle zu reden, alles raus zulassen. Ich bin erfolglos. Der Traum ist anstrengend und erscheint unendlich lang zu sein. Der Traum bietet keine Lösung, sondern verstärkt das Gefühl, dass sich nichts ändern wird und es höchstens noch schlimmer wird. Ich wache auf und bin völlig gerädert. Ich kann nicht mehr. Es ist 06.40 Uhr. Zeit aufzustehen. Um 08.00 Uhr habe ich einen Termin beim Zahnarzt. Mein Vater zur gleichen Zeit ebenfalls. Und um 10.00 Uhr folgt der Termin im Pflegeheim. 12.00 Uhr Mittagessen und um etwa 13.00 Uhr fahren wir nach Hagen. Gegen 18.00 Uhr sind wir zurück. Wenn ich nur daran denke, möchte ich nur, dass der Tag auf der Stelle vorbei ist. Ich bin durch.

Ich frage meinen Vater, wie er geschlafen hat. Gegen 22.00 Uhr ist er ins Bett und schlief recht schnell ein. Doch wie immer, war dieser Schlaf nur etwa drei Stunden gut. Danach schlief er schlecht und das, obwohl er vor dem Schlafengehen eine Viertel Tablette Bromazanil und eine Zopiclon genommen hat. Ich sage ihm, dass dieser Mix nicht gut ist. Er teilt meine Meinung nicht. Warum nimmt er die Tabletten überhaupt, wenn sie doch offensichtlich nicht wirklich helfen. Drei Stunden geschlafen hat er, bevor er die Tabletten nahm, auch. Wozu all diese Tabletten, wenn sie doch nichts bringen? Und wie würde er es wohl finden, wenn ich mir solche Tabletten täglich unkontrolliert einwerfen würde? Der Tag ist mir schon jetzt zu viel.

Das Pflegeheim ist eigentlich kein Pflegeheim, sondern eine Art betreutes Wohnen. Es nennt sich Wohngemeinschaft. Jeder Patient hat hier ein eigenes Zimmer, dazu einen Extraraum und ein eigenes WC. Auf der Etage, wo meine Mutter einen Platz bekommen könnte, sind sechs Wohnbereiche. Auf der Etage arbeiten zwei examinierte Pflegekräfte und eine Pflegehilfskraft. Was das angeht, wäre meine Mutter besser betreut als in der Klinik. Mein Vater könnte in dem zweiten Zimmer übernachten, wenn er es wollte. Die Monatsmiete beträgt 550 Euro, den Rest bezahlt die Krankenkasse. Anders als in einem Pflegheim, wo die Kosten meinen Vater ruinieren würden und die Betreuung offensichtlich schlechter wäre. Zumindest klingt es so. Für mich klingt es besser als ein normales Pflegeheim. Die einzige Bedingung, die erfüllt werden muss, damit man hier aufgenommen wird, ist die, dass der Patient einen Trachealkatheter haben muss. Kein Trachealkatheter, keine Aufnahme. Mein Vater, der davon ausgeht, dass meine Mutter den Trachealkatheter bald los wird und für den es das größte Ziel ist, dass es so kommt, ist von dieser Bedingung nicht ganz so angetan. Und es ist auch irgendwie schräg, dass ausgerechnet das Ziel, was mein Vater als dringend zu erreichen ausgegeben hat, einen Aufenthalt hier verhindert, wenn es erreicht wird.

Ich kann nicht einmal genau sagen warum, aber diese Einrichtung erscheint mir genau richtig für meine Mutter und auch für meinen Vater. Zwanzig Minuten von seiner Wohnung entfernt und gut zu erreichen. Außerdem würde es nicht seine gesamte Rente verschlingen. Auch mein Vater, der bei dem Gespräch immer wieder mit den Tränen kämpft, scheint es so zu sehen. Wenn schon ein solcher Aufenthalt nötig ist, dann hier.
Obwohl ich erkenne, dass mein Vater sofort zusagen möchte, verbleiben wir so, dass wir uns melden, wenn wir uns entschieden haben. Das ist eigentlich Paradox, weil wir ja schon entschieden haben, aber ich finde, einen Moment um darüber zu sprechen, sollten wir uns nehmen.

Auf der Fahrt zurück reden wir kurz über unseren Eindruck. Wie erwartet, wollen wir beide, dass es in diese Einrichtung geht, wenn die Reha endet. Mein Vater zählt die Vorteile auf und ich habe das Gefühl, dass er sich tatsächlich darauf einlassen kann.
Plötzlich bricht er in Tränen aus, sagt, dass er helfen will, aber es nicht kann. Ich fordere ihn auf anzuhalten. Obwohl es hart ist, ihn so weinen zu sehen, finde ich es gut, weil er endlich seine Gefühle raus lässt. Er wiederholt, dass er meiner Mutter nicht helfen kann. Dass er nix für sie tut. Ich sage ihm, dass er alles tut, was er tun kann. Er ist täglich bei ihr, übt und sorgt dafür, dass sie irgendwohin kommt, wo es ihr so gut wie möglich geht und ihr weiter geholfen wird. Nach einer Weile können wir die Fahrt fortsetzen und ich merke, wie eine schwere Last von mir abfällt. Mein Vater stellt sich nicht quer, akzeptiert die Einrichtung und findet diesen Weg, den wir nun gehen, vertretbar. Es ist unglaublich, wie gut es ist, wenn der Druck sich abbaut. Vor allem, weil ich damit absolut nicht gerechnet habe.

Den Rest des Tages ist mein Vater dennoch sichtbar angegriffener als an den anderen Tagen. Auch beim Besuch bei meiner Mutter, muss er oft weinen. Meine Mutter ist heute wieder etwas schreckhaft, zuckt bei Berührungen zusammen und wirkt dennoch manchmal so als würde sie gerne aktiv etwas tun. Ihren rechten Arm bewegt sie scheinbar angestrengt und so, als wollte sie uns zeigen, dass sie es kann. Ich frage mich, ob ich mir das einbilde, oder ob sie tatsächlich immer mal wieder versucht ihren Körper und ihre Aktionen zu kontrollieren bzw. auf uns zu reagieren.
Ist meine Entspannung, weil meine Mutter einen Platz nach der Reha gefunden zu haben scheint, kalt oder unmenschlich? Bin ich zu distanziert oder handle ich verantwortungsbewusst? Ist meine Mutter irgendwo da drinnen und bekommt das, was um sie herum passiert, mit? Und warum stelle ich mir ständig so viele Fragen?

Tag 100 + 35
Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann dabei sein werde, wenn meiner Mutter ein Platz für ein betreutes Wohnen gesucht wird. Ich hab nämlich nie daran gedacht, dass meine Mutter je in eine solche Situation kommen würde. Ich hatte zwar immer von Fällen gehört, die so etwas nötig machten und mir war auch immer bewusst, dass in den Pflegeheimen, die immer zahlreicher werden, viele alte Menschen leben, aber das betraf halt immer nur andere Menschen. In meiner Familie gab es so etwas nicht und in meiner Vorstellung kam das auch nie in Frage. Sterben, ja, Pflegebedürftigkeit niemals. Und nun befindet sich meine Mutter eben in dieser Lage und zusammen mit meinem Vater habe ich entschieden, wo meine Mutter in Zukunft leben wird. Auch wenn ich glaube, dass wir eine für uns alle gute Lösung gefunden haben, finde ich es dennoch nicht gut. Nicht nur, weil meine Mutter pflegebedürftig ist, sondern auch, weil ich quasi mitentschieden habe, wie ihre Zukunft aussieht. So viel Verantwortung wollte ich nie.

Mein Vater erzählt mir, dass er gut geschlafen hat und erst nach 09.00 Uhr aufgestanden ist. Ich freue mich und glaube, dass es daran liegt, dass wir gestern diese Entscheidung getroffen haben und er deshalb etwas entspannter ist. Doch natürlich irre ich. Mein Vater trank am Abend eine Flasche Bier, nahm später eine halbe Tablette Bromazanil und vor dem Schlafengehen eine Zopiclon. Und als er in der Nacht aufwachte noch eine Zopiclon. Die Hoffnung, dass er etwas entspannter ist, war somit unbegründet. Ich bin echt naiv.

Mein Vater wirkt irgendwie müde als ich bei ihm bin. Er redet langsam, bewegt sich langsam und wirkt irgendwie als wäre er in einer Art Schlafmodus. Ich vermute, dass es die Nachwirkungen der ganzen Tabletten sind und sage ihm, dass er heute besser keine weiteren Tabletten nimmt. Zumindest nicht am Tag. Er sagt, dass er die Tabletten braucht und nimmt sich, wie immer nach dem Mittagessen eine Viertel Bromazanil und eine Baldriantablette dazu. Ich sage ihm, dass er so nicht Autofahren kann und dass er, wenn er sein Auto kaputt fährt, meine Mutter nicht mehr besuchen kann. Mein Auto bekommt er dann nicht. Er nimmt mich nicht ernst. Die Tabletten sind harmlos. Ich sage, er soll stärkere homöopathische Mittel einnehmen. Er ist der Meinung, dass nur Chemie ihm helfen kann. Ich werde immer wütender, versuche ihm deutlich zu machen, was diese Tabletten bewirken können. Er beschwichtigt und ist vollkommen resistent gegen meine Argumente. Ich sage ihm, dass ich mit seinem Hausarzt reden werde, um ihm zu sagen, dass er meinem Vater nicht beide Mittel aufschreiben darf. Mein Vater sagt, dass das Unsinn ist und sein Hausarzt wird vermutlich dasselbe sagen. Ich kenne seinen Hausarzt. War früher auch mein Hausarzt.
Ich rege mich immer mehr auf, bekomme Magenschmerzen und mein Vater sagt, dass er mich anruft, wenn er am Krankenhaus angekommen ist. Ich sage ihm, dass er, wenn er weiter so viele Tabletten einwirft, irgendwann nicht mehr da ankommen wird. Ich sollte aufhören mich aufzuregen, weil es nichts bringt außer Magenschmerzen.

Nachdem mein unbelehrbarer Vater losgefahren ist, brauche ich eine halbe Stunde, mich zu beruhigen. Erst dann lassen die Magenschmerzen los und ich frage mich, ob es nicht besser gewesen wäre, ich würde seinen Tablettenkonsum ebenso wie er ignorieren und mir einfach keine Gedanken machen. Er ist erwachsen und ich erreiche sowieso nichts. Ich kann nur darauf hoffen, dass es, wenn meine Mutter nicht mehr in der Klinik in Hagen liegt, etwas stressfreier wird. Dummerweise kann ich nicht daran glauben.

Tag 100 + 36
Während ich mir eine Auszeit nehme, koche, trainiere und Kuchen backe, besucht mein Vater, wie er es täglich macht, meine Mutter. Sie ist heute sehr nervös, bewegt Arme und Beine und sogar den Kopf und lässt sich gar nicht beruhigen. Mein Vater klingelt nach Personal. Nichts passiert. Er versucht weiter meine Mutter zu beruhigen, während niemand vom Personal sich zuständig fühlt. Er geht auf den Flur, ruft nach jemandem, doch es dauert noch eine ganze Weile bis endlich eine Pflegerin erscheint. Diese sagt, dass sie heute nur zu zweit auf der Station sind, weil eine Kollegin kurzfristig abgesagt hat. Selbst zu dritt sind sie unterbelegt. Über 350 Euro am Tag kassieren, aber kaum Personal haben, so geht das heute in deutschen Kliniken. Gewinnmaximierung über allen anderen Dingen. Echt krank dieses System.
Meine Mutter hat laut der Pflegerin Angstzustände. Woran es liegt, sagt sie nicht. Mein Vater redet weiter beruhigend auf meine Mutter ein. Irgendwann wird sie ruhiger. Wäre er nicht da, würde sich niemand um meine Mutter kümmern. Alles sehr bedenklich.

Als mein Vater geht, unterhält er sich noch mit einem Patienten. Dieser ist unzufrieden mit der Klinik und sagt, dass er sich morgen verlegen lässt, um woanders weiter behandelt zu werden. Er sagt, dass hier in der Klinik oft tagelang nichts gemacht wurde, weil einfach zu wenig Personal da ist. Ein bis zweimal die Woche passiert was, dann ist wieder Pause. Er hat sich wohl bei seiner Krankenkasse beschwert und wird demnächst, so hofft er, woanders behandelt. Hoffentlich irrt er sich da nicht. Bei meiner Mutter verhält es sich doch auch nicht anders. Tagelang passiert nichts, dann wird an ein oder zwei Tagen etwas gemacht, bevor wieder nichts mehr gemacht wird. Das ist so lächerlich und auch ärgerlich. Eigentlich denkt man, zumindest als naiver Deutscher, dass man in einer Klinik gut aufgehoben ist, doch weit gefehlt, man wird in irgendeinem Zimmer abgelegt und sich selbst überlassen. Diese Klinik ist das beste Beispiel dafür. Notiz an mich. Helios Klinik in Hagen nicht weiterempfehlen. Frage in meinem Kopf. Wissen die Krankenkassen das alles? Und wenn ja, wieso unternehmen die nichts dagegen? Ist schließlich ihr Geld, das irgendwie verschwendet wird. Oder verstehe ich das System einfach nicht?

Tag 100 + 37
Heute war wieder einer der Tage an denen meine Mutter behandelt wurde. Sprachtherapie und Physiotherapie. Unseren Besuch verschläft sie komplett. Und so sitzen wir in ihrem Zimmer und warten, ob sie irgendwann wach wird, was sie aber nicht wird. Drei Stunden bleiben wir, so wie wir es immer machen. Dann gehen wir, ohne dass mein Vater irgendwelche Übungen mit ihr machen konnte, was ihn irgendwie bedrückt. Ich finde das nicht schlimm. Immerhin wurde heute mit ihr gearbeitet, da darf sie nun ausruhen. Ich frage mich, wie oft in dieser Woche noch mit ihr gearbeitet wird und warum das Pflegepersonal ganz alleine zu den Patienten gehen muss, um diese anders zu lagern. Zu zweit wäre das doch viel einfacher. Dann fällt mir wieder ein, warum das nicht zu zweit gemacht wird. Weil es zu teuer ist. Wie konnte ich das nur vergessen?

Fast jede Veränderung, fast jeder Brief und fast jede Aussage, die meine Mutter betreffen, sorgen schon von Anfang an für Panik. Anfangs war das verständlich, aber mittlerweile ist es oft unnötig und unbegründet. Jeder Brief von der Krankenkasse ist eine Bedrohung. Alles, was für uns unerwartet gesagt oder getan wird, versetzt uns in Panik. Und fast immer ist es am Ende so, dass all die Aufregung nicht nötig gewesen wäre.
Ich glaube, dass alles entspannter sein könnte. Leider ist es das nicht und wird es wohl auch nicht sein. Früher dachte ich, dass alles mein Problem ist, dass nur ich so bin. Doch dem ist nicht so. Mein Vater ist nicht anders. Früher konnte er das wohl verbergen oder ich habe es nicht bemerkt, weil ich nur mit mir beschäftigt war. Doch seit das mit meiner Mutter passiert ist, weiß ich, zumindest bilde ich es mir ein, woher ich es habe. Denn wann immer wir Post bekommen, wird mein Vater ganz aufgeregt, scheint überfordert und will es sofort klären. Und er steckt mich mit seiner Aufregung natürlich an. Und so sind mir schon so oft Dinge auf den Magen geschlagen, die sich am Ende als harmlos herauskristallisiert haben. Gerne würde ich mir dieses Überreagieren abgewöhnen. Dieses sich selbst verrückt machen, abstellen, doch vermute ich, dass das so einfach nicht wird. Es ist eine vererbte Genmutation, mit der ich wohl leben muss. Und so fürchte ich, dass es noch eine Weile dauern wird, bis es endlich mal mehrere Wochen am Stück gibt, die ohne solche Aufregungen auskommen.

Tag 100 + 38
Manchmal schaffe ich es dennoch, mir einen Tag frei zu nehmen, mich entspannt durch den Tag zu bringen. Ich bin distanziert zu dem, was um und mit meiner Mutter passiert und fast entspannt. Ich mache nichts Besonderes, aber meine Gedanken kreisen nicht permanent und erst recht nicht in selbstzerstörerischer und ungesunder Form durch meinen Kopf. Aber diese Distanziertheit ist anders, sie ist nicht nur ein abschotten, sondern ein bewussteres erleben der Dinge, die ich dann tue. Ich sitze nicht einfach nur da und versuche mich ganz bewusst nur abzuschotten, ohne aber wirklich etwas für mich zu tun. Ich schaffe es, bewusst Musik zu hören, mein Leben fast so zu gestalten als würde die Ausnahmesituation kurz weg sein oder mittlerweile so dazuzugehören, dass sie keine akute Bedrohung ist. Dass es so ist, hat lange gedauert. Bis vor kurzem war es noch so, dass ich nur entspannter wurde, wenn Agnes da war oder ich mal mit Manni unterwegs war. Jetzt endlich kommt es zurück, dass ich alleine auch entspannen kann. Ich denke, das war sehr nötig und ist gesund. Ich hoffe, darauf lässt sich aufbauen. Denn klar ist, dass es immer wieder Situationen geben wird, die mich nicht nur deprimieren, sondern auch extrem stressen werden. Doch die andere Zeit sollte ich möglichst Stressfrei leben können. Ich bin schließlich erwachsen und kann diese anderen Dinge, so gerne ich es auch würde, weder kontrollieren, noch beeinflussen. Und das ist verdammt schwer für einen Kontrollfreak wie mich.

In der Klinik mangelt es nicht nur an Personal. Auch die Wegwerfkittel, die wir beim Betreten des Zimmers meiner Mutter anziehen müssen, sind nur sehr begrenzt vorhanden, weshalb eine Pflegerin meinen Vater bittet seinen Kittel nicht wegzuwerfen, wenn er später geht, sondern ihn für sie irgendwo aufzuhängen, damit sie ihn tragen kann. Das ist fast schon ein tragisches Armutszeugnis für diese Klinik.

Tag 100 + 39
Auf dem Flur treffen wir den Mann vom sozialen Dienst. Ein kurzes Gespräch über das betreute Wohnen, dann sagt er uns, dass meine Mutter am 07. November aus dem Krankenhaus entlassen wird. Ich bin überrascht, mein Vater noch mehr. Sofort kommen ihm die Tränen und er ist betroffen und durcheinander. Oh je. Dabei kann es für meine Mutter in der Einrichtung nur besser sein als hier. Denn wenn man ehrlich ist, dann hat diese ganze Reha doch nicht wirklich was gebracht.

Als wir zu meiner Mutter kommen, wird sie gerade wach und bekommt eine Art Panikanfall. Ihr ganzer Körper zittert und zuckt und sie sieht aus als würde sie sehr leiden. Wir reden auf sie ein und nach einer Weile beruhigt sie sich wieder. Allerdings sieht sie zwischendurch immer wieder aus als hätte sie Schmerzen oder als würde sie irgendwas quälen. Ihr Gesicht sieht ängstlich und schmerzverzerrt aus. Ich kann den Zustand nur schwer beschreiben. Aber ich bin besorgt.
Während mein Vater mit ihr redet, steigt ihre Temperatur immer weiter an. Von 38,5 bis auf 39.

Die blonde Pflegerinn, die noch immer die netteste von allen ist, sagt uns, dass wegen der Temperatur eine Ärztin informiert ist und überlegt, welche Therapie gemacht wird. Bevor wir weitere Informationen erhalten, wird eine Ultraschalluntersuchung gemacht. Es folgt das Gespräch mit einer Oberärztin. Sie sagt, dass es nicht gut aussieht. Die Entzündungswerte sind gestiegen. Ob es eine Lungenentzündung ist, kann nicht genau gesagt werden. Die Nieren sehen auch nicht gut aus. Die Werte sind zu hoch. Das Bein ist dicker geworden. Ob es Wasser ist oder eine Entzündung, soll morgen ein Chirurg beurteilen. Beim Ultraschall konnte das nicht erkannt werden. Gegen das Fieber bekommt sie ein Medikament und dazu ein weiteres Antibiotikum. Außerdem hatte sie gerade einen Krampfanfall, weshalb sie Diazepam bekommen hat. Mein Vater ist völlig angegriffen und ich von dem Verlauf total überrascht. Hatte ich noch gestern gedacht, dass meine Mutter nicht in Lebensgefahr schwebt, so denke ich heute, dass es nicht mehr lange so weiter gehen kann. Ob der Krampfanfall vom Gehirn oder vom Fieber kommt, kann die Oberärztin nicht sagen. Ich frage mich, ob das überhaupt noch eine Rolle spielt. In dieser Klinik ist meine Mutter aber meiner Meinung nach nicht gut aufgehoben. Das Personal ist zwar überwiegend sehr nett, der Oberarzt ebenfalls, aber für den Gesundheitszustand meiner Mutter wurde hier bisher nichts erreicht. Eher im Gegenteil. Es scheint, als ginge es immer weiter bergab, wenn es nicht gerade einen Stilltand gibt. Die Lage ist bedrohlich, mein Vater kämpft mit den Tränen und ich fürchte, dass meine Mutter es gar nicht mehr in die neue Einrichtung schafft.

Mein Vater scheint auch nicht mehr zu glauben, dass meine Mutter diese ganzen Entzündungen noch lange überlebt. Zumindest redet er so. Er sagt, dass kein Körper es aushält so lange mit Antibiotika behandelt zu werden und wenn die Nieren wirklich versagen, dann war es das. Ich würde gerne etwas Aufbauendes sagen, doch was sollte das sein? Alles wird gut? Wohl kaum. Ich sage, dass eine Dialyse ja nicht bedeuten muss, dass es immer so sein muss. Er erwidert, dass er nicht glaubt, dass sie noch eine Dialyse durchhält und die Nieren sich dann nochmal erholen. Vermutlich hat er Recht.

Ratlos stehe ich später an ihrem Bett, rede mit ihr, streichle ihr den Kopf und es ist fast so als würde sie mich ansehen. Ist dies das letzte Bild, was ich von meiner Mutter haben werde? Ist heute alles aus?

Tag 100 + 40
Die Entspannung, die mich vorgestern erreicht hat, ist gestern schlagartig gewichen. Fast so als wollte mich irgendwer oder irgendwas darauf hinweisen, dass es nicht rechtens ist, mich zu entspannen. Oder als wäre dieser eine Tag, diese wenigen Stunden mir gestattet wurden, weil es jetzt wieder hart wird.

Ich hatte tatsächlich gedacht, dass es für meine Mutter und uns aufwärts geht, wenn sie nicht mehr in der Klinik ist, sondern ihr Zimmer in der Einrichtung für betreutes Wohnen bezieht. Doch seit gestern glaube ich nicht mehr daran, dass es diesen Schritt geben wird. Vielmehr fürchte ich, dass meine Mutter in Hagen sterben wird. Eine kleine Chance sehe ich noch, wenn sie vielleicht in ein anderes Krankenhaus auf eine Intensivstation verlegt wird, fürchte aber irgendwie auch, dass es längst zu spät ist. Wir scheinen meine Mutter ganz zu verlieren. Ausgerechnet in einer Phase, in der alles seinen Lauf zu nehmen schien. In einer Phase in der sie woanders betreut werden sollte. Eine Hoffnung, mag sie noch so unbegründet gewesen sein, war dieser geplante Umzug. Dort sollte ihr Immunsystem sich erholen und sich später zeigen, wie es meiner Mutter wirklich geht. Vielleicht weniger Tabletten, vielleicht kein Antibiotikum mehr. Erholung für ihren Körper, eine Chance für sie. Dies alles ist nun so weit weg, dass es mir wie eine große Lüge vorkommt. Eine Illusion, die es nie hätte geben dürfen. Eine Chance, die es nie gab.

Mein Vater ruft an. Er klingt resigniert. Hatte er früher die Hoffnung, dass alles gut wird, dass meine Mutter zurück kommt, so glaubt er heute nicht einmal mehr daran, dass meine Mutter am 07. November, in exakt zwei Wochen, in die Einrichtung nach Gahmen verlegt wird. Das betreute Wohnen, welches meiner Mutter eine neue Chance geben sollte, ist plötzlich so weit weg, wie nie zuvor. Kaum war es beschlossen, schon änderten sich die Dinge und alles ist anders. Mein Vater ist überzeugt davon, dass meine Mutter eine Lungenentzündung hat. Er spekuliert sogar, in welches Krankenhaus sie eventuell verlegt wird, glaubt dann aber, dass sie nicht verlegt wird, weil einfach in Hagen weitergemacht wird. Vermutlich bis zum Ende. Er muss sich die Nase putzen. Also weint er. Er ist niedergeschlagener als sonst. Und obwohl ich nie ein Optimist war, seine positiven Gedanken nie teilen konnte, so bin ich jetzt, während dieses Gesprächs derjenige, der noch nicht völlig aufgegeben hat. Jetzt bin ich derjenige, der die Realität verdrängt und immer noch daran glaubt, dass meine Mutter am 07. November verlegt wird. Ich bin nicht überzeugt davon, zweifle daran, aber verglichen mit meinem Vater, besteht bei mir noch ein Fünkchen Hoffnung. Zweckoptimismus?

Später höre ich die Sirenen eines Krankenwagens. Seit gestern machen mir Sirenen wieder Stress. Ich fürchte, dass meinem Vater etwas zugestoßen ist und der Krankenwagen für ihn ist. Ein altes Trauma ist zurück.

Kaum bin ich im Büro, erhalte ich einen Anruf von der Oberärztin. Sie konnte meinen Vater nicht erreichen, weshalb sie mich angerufen hat. Sie hat die Ergebnisse der Untersuchungen des Chirurgen. Meine Mutter hat entweder ein Hämatom oder einen Abszess am Bein. Von einer OP rät sie, wegen des schlechten Allgemeinzustands meiner Mutter, ab. Meine Mutter wird daher traditionell behandelt. Traditionell bedeutet, dass es ein Antibiotikum gibt. Die Ergebnisse der Blutuntersuchung liegen noch nicht vor. Meine Frage, ob meine Mutter auch eine Lungenentzündung hat, kann sie nicht beantworten. Es ist Wasser auf der Lunge, weshalb das nicht erkannt, aber auch nicht ausgeschlossen werden kann. Das Antibiotikum wirkt aber auch dort. Meine Frage, ob Wasser im Bein ist, wie zunächst vermutet und uns auch mitgeteilt wurde, verneint sie. Es ist tatsächlich so, als wisse dort niemand wirklich, was Sache ist. Oder die Kommunikation ist mangelhaft. Oder beides.
Dummerweise kann ich hier jetzt nicht weg und meinen Vater nicht zur Klinik begleiten. So wird er nachher von der Ärztin all diese Informationen zu hören bekommen und ich weiß, wie er darauf reagieren wird. Er wird zusammenbrechen. Hoffentlich wird er nicht wütend und beschimpft dann dort irgendwen. Hätte ich den Anruf eher bekommen, so hätte ich in begleiten können. Doch längst ist er auf dem Weg zur Klinik und der traurigen Wahrheit alleine ausgesetzt. So wie ich auch.
Wenn doch nur alles bis zum 07. November gut ginge. Vielleicht geht es ihr ja wirklich besser, wenn sie in der Einrichtung in Gahmen ist. Allerdings wird es immer unwahrscheinlicher, dass sie jemals dort ankommt. Diesen Kampf scheint sie nicht gewinnen zu können. Verdammt.
Nachdem mein Vater mit der Oberärztin gesprochen hat, ruft er mich an. Es sieht noch schlimmer aus als ich dachte. Die Nieren sind am Ende und die nächsten drei bis vier Tage entscheiden, ob die Medikamente anschlagen. Die Ärztin hat wenig Hoffnung. Es geht zu Ende. Jetzt wird mir bewusst, was ich bei dem Gespräch mit der Ärztin noch irgendwie verdrängt habe. Das Spiel ist aus. Monatelange Quälereien führen nun zum Ende. Alle Hoffnung umsonst, alles bangen vergebens. Selbst wenn meine Mutter auf diese Medikamente anspricht, wird es nur ein Aufschub sein. Es gibt kein Wunder. Nicht für uns. Mein Vater sagt, dass er bereits vor zwei Tagen geahnt hat, dass es so kommt. Die Augen meiner Mutter haben es ihm gezeigt. Mir fehlen die Worte. Obwohl er vermutlich Tränen in den Augen hat, wirkt er nun klarer als ich es bin. Ich bin sprachlos, irgendwie gelähmt. Er sagt, dass er der Ärztin gesagt hat, dass keine weitere Ergotherapie gemacht werden soll. Nichts, was sie zusätzlich belastet. Keine Massagen, keine Therapien. Die Ärztin notierte seinen Wunsch. Er sagte, dass er nur will, dass sie keine Schmerzen hat. Die Ärztin sagte, dass meine Mutter Morphin bekommt und keine Schmerzen hat. Mein Vater, der mich vom Parkplatz angerufen hat, will zurück zu ihr. Sie schläft zwar fast ständig, aber manchmal ist sie noch wach und er will bei ihr sein. Das verstehe ich.

Es sind vermutlich die letzten Momente meiner Mutter und ich sitze hier im Büro und schreibe blöde Bewerbungen. Wie unsinnig das jetzt gerade ist. Ob ich sie nochmal lebend sehen werde? Ich kann mich nicht konzentrieren und sitze hier mit einem Mann, der Bewerbungsunterlagen braucht. Ich versuche so professionell wie möglich zu bleiben. Wofür mache ich das? Nachdem der Kunde gegangen ist, schließe ich ab. Ich kann nicht mehr, ich will auch nicht mehr. Leere.

Ein Kunde will ins Büro und klopft. Ich reagiere nicht, ich kann nicht. Ich weine. Hemmungslos.
Agnes ruft an. Es dauert eine Weile bis ich mich etwas beruhigt habe und mit ihr reden kann. Ich bin gerade überfordert und verloren. Wir reden eine Weile bis ich so weit gefasst bin, das ich sogar etwas essen kann.

Obwohl es vermutlich zu erwarten war, es so kommen musste, bin ich geschockt. Ach wenn es unsinnig klingt, kommt es für mich plötzlich und aus heiterem Himmel. Wir hatten ihr eine Einrichtung gesucht, sie sollte umziehen. Sterben war keine Option. Nicht jetzt. Mir ist schlecht, ich habe Magenschmerzen.
Ich sitze im Büro und bin wie gelähmt. Ich kann nicht gehen, weil ich nicht weiß, wohin. Ich bin leer und überfordert, komme mit der Situation überhaupt nicht klar.

Ich kommuniziere mit Manni. Er schlägt vor, dass wir uns gleich in Lünen treffen und etwas durch die Stadt gehen. Ablenken. Ich kann nicht wirklich denken, nehme seinen Vorschlag aber an. Ich will nicht nach Hause. Nie mehr.

Zwar gehen die Magenschmerzen während unseres kurzen Ausflugs nach Lünen nie ganz weg, aber es lässt sich aushalten. Doch je näher der Zeitpunkt Lünen zu verlassen kommt, desto heftiger werden die Magenschmerzen. Und als wir uns verabschieden und ich losfahre werde ich immer panischer. Ich will nicht nach Hause, ich will raus aus dieser Situation. Obwohl die letzten Monate nicht leicht waren und es zwischendurch immer so aussah, dass es zu Ende geht, konnte ich mich scheinbar nichtdarauf einlassen. Ich bin überfordert, mir geht es beschissen. Ständig denke ich an meine Mutter. Wie fröhlich sie in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch wirkte. Ich bedauere es, dass ich sie nicht umarmt habe als sie mir zum Geburtstag gratuliert hat. Aber Umarmungen waren bei uns nie etwas, was dazugehörte. Ich umarme außer meiner Freundin eigentlich niemanden. Ich sehe meine Mutter, wie sie im Krankenhaus liegt, ihr schmerzverzerrtes Gesicht bei Berührungen, die Blicke als suche sie nach Hilfe, während ich einfach nur dastand und sie angesehen habe. Ich dachte, das wird schon, aber ich tat nichts, um ihr zu helfen. Hätte ich mich anders verhalten müssen?

Je näher ich meiner Wohnung komme, desto schlechter geht es mir. Ich will da nicht hin. Ich will einfach nicht nach Hause. Als ich zu Hause bin, ruft Agnes an. Sie macht sich fast Vorwürfe, weil sie nicht bei mir sein kann. Sie hat eine Grippe. Es passt einfach alles zusammen gerade. Obwohl sie für mich da ist, obwohl Manni mich abgelenkt hat, habe ich Angst, dass ich ganz alleine bin. Dennoch lenkt das Gespräch mich etwas ab. Dann klingelt es auch schon und mein Vater ist da. Und obwohl ich froh bin, nicht alleine zu sein, stresst es mich, weil ich nicht weiß, wie er drauf ist und ich Angst habe, dass es furchtbar wird.

Wir reden über meine Mutter, aber es wird nie zu emotional es nicht mehr auszuhalten. Wir fragen uns, warum meine Mutter nie Lust hatte Spazieren zu gehen, warum sie nicht so gut auf sich geachtet hat. Wir machen es ohne Vorwürfe und ohne eine Antwort zu bekommen, was ihre Gründe für all das waren. Menschen machen oft Dinge, die nicht gut für sie sind. Und auch wenn wir es nicht verstehen können, müssen wir es oft akzeptieren und können nicht helfen. Das Gespräch ist gut, weil es persönlich, aber auch etwas sachlich distanziert verläuft. Ich kann sogar so weit entspannen, dass ich noch etwas essen kann. Essen ist sehr wichtig für mich.

Mein Vater möchte einen Film gucken. Das finde ich gut, weil ich hoffe, dass es uns ablenkt. Der Film ist zwar schrecklich, aber dennoch gut genug, dass er uns irgendwie ablenkt. Mehr geht gerade vermutlich sowieso nicht. Nach dem Film geht mein Vater und ich gucke noch The Voice of Germany und Fußball. Es ist okay, aber ich habe weiter Magenschmerzen.

Später telefoniere ich erneut mit Agnes. Nach einer Weile entspanne ich etwas mehr und die Magenschmerzen werden erträglicher. Ich brauche wirklich jemanden, der sich um mich kümmert. Alleine sein ist gerade nicht gut für mich. Aber ich muss damit leben, dass nicht rund um die Uhr jemand bei mir sein kann. Nach dem Gespräch lese ich noch etwas, dann lösche ich das Licht.

Ich hatte immer Angst vor Situationen wie diesen. Die meiste Angst hatte ich davor, dass jemand stirbt. Meine Mutter jetzt so zu erleben ist aber irgendwie noch härter, weil es ja immer weiter geht. Es ist als erlebte ich das Sterben mehrfach. Und wenn der Schmerz eine Weile erträglich zu sein scheint, kommen neue Probleme, entstehen neue bedrohliche Situationen. Und ich habe Angst, in einer weiteren endlos erscheinenden Schleife gefangen zu sein. Dabei kann es eigentlich für den Menschen keine endlosen Schleifen geben, weil der Mensch ja irgendwann stirbt. Manchmal allerdings fürchte ich, dass es mit dem Tod gar nicht vorbei ist, sondern dass die Leiden danach noch viel schlimmer werden. Der Tod ist keine Erlösung. Das macht mir nur noch mehr Angst. Ich schlafe ein.

Tag 100 + 41
Die Nacht ist nicht gut. Ich wache mehrmals auf, habe Magenschmerzen und Rückenschmerzen. Mein Verlangen nach Diazepam ist groß. Glücklicherweise schlafe ich immer wieder ein. Zumindest bis etwa 07.00 Uhr. Ab da klappt das Einschlafen nicht mehr wirklich. Gegen 07.30 Uhr stehe ich auf, weil meine Magenschmerzen mittlerweile zu stark sind, um zu entspannen. Ich muss zur Toilette, nehme anschließend Bach Rescue Tropfen und muss würgen. Das System spielt verrückt.

Während ich im Schlafzimmer sitze, wird mir total schlecht und ich muss erneut stark würgen. Ich nehme Nuxal. Ab jetzt jede halbe Stunde zehn Tropfen. Am liebsten würde ich mir aber von einem Arzt eine Beruhigungsspritze geben lassen. Mein Magen dreht sich immer weiter um und ich möchte einfach nur abhauen, fliehen. Ich will, dass es aufhört, dass ich wieder atmen kann und es schaffe, mich nicht immer in jede schreckliche Situation so herein zu steigern, dass die Situation noch unerträglicher wird. Ich werde immer älter, aber lerne es einfach nicht, loszulassen und mich selbst nicht zusätzlich mit meinen Gedanken runter zu ziehen. Mein Verlangen nach Diazepam wird auch nicht kleiner, obwohl ich gerade sehr müde werde. Helfen meine Tropfen etwa jetzt? Ich nehme trotzdem noch ein paar Rescue Tropfen und ein paar Minuten später wieder Nuxal.

Meine Beine sind wie Pudding. Blutdruck 116/79. Puls 58. Das ist eigentlich okay für meine Verhältnisse. Wieder muss ich würgen und werde panisch. Verdammter Teufelskreis. Ab zur Toilette.

Agnes ruft an. Sie sagt, dass ich statt der Rescue Tropfen Neurexan nehmen und einen Spaziergang machen soll. Der Spaziergang tut mir gut. In der Wohnung wäre ich nur weiter durchgedreht. Ich frage mich, wieso ich es nicht selber schaffe, mich abzulenken oder Dinge zu tun, die mir helfen, wenn ich in so einer Situation bin. Der Besuch bei meiner Mutter macht mir trotzdem Angst.

Der Blutdruck meiner Mutter ist bei 71 zu 27. Das sieht nicht gut aus. Sie schläft, hat aber ein Auge etwas geöffnet. Ich bin sicher, dass sie uns beobachtet oder zumindest wahrnimmt. Die Stimmung ist niedergeschlagen, wir sind ratlos, resigniert und vor allem hilflos. Die Oberärztin kommt vorbei. Sie sagt, dass das Fieber sinkt, der Blutdruck viel zu niedrig ist und die Nieren noch immer nicht richtig funktionieren. Außerdem sind die Entzündungswerte trotz zweier Antibiotika sogar noch gestiegen. Sie sagt etwas von Dialyse und Quälerei. Vielleicht sagt sie auch etwas ganz anderes. Jedenfalls hat sie wenig Hoffnung. Wie viele Tage meiner Mutter noch bleiben, kann oder will sie nicht sagen. Ich höre ihr aufmerksam zu, doch nachdem sie gegangen ist, verlasse ich endgültig die Sachebene und bin fertig. Mir ist schlecht.

Ich streichle meiner Mutter das Gesicht, ihre Hände und würde gerne etwas sagen, was angemessen wäre. Doch was ist angemessen und was bekommt sie mit?

Wir gehen ins Cafe. Mein Vater sagt, dass er das gewusst hat. Er wirkt plötzlich total klar. Als wäre es unausweichlich, dass meine Mutter keine Chance mehr hat. Ich bin nicht klar. Ich denke, es gibt noch eine Möglichkeit. Vielleicht schlägt das eine oder andere Antibiotikum doch noch an. Ich weiß nicht, ob ich das glaube, ich weiß nur, dass ich versuche mich der Realität zu entziehen. Vor ein paar Tagen war ich noch Ersatzbetreuer, jetzt bin ich Sterbebegleiter. Das ist zu viel für mich.
Im Cafe reden wir möglichst emotionslos über die Fakten. Ich bemühe mich so sachlich und distanziert wie möglich zu sein. Meine Mutter soll nicht leiden und keine Schmerzen haben. Irgendwann reden wir über jemanden, der nach dem Tod seiner Frau ziemlich schnell eine neue Partnerin hatte. Mein Vater findet das verwerflich, ich finde es okay und sage es auch. Falsches Thema, denn nun bricht mein Vater in Tränen aus. Mist. Nach einer Weile geht es wieder und wir gehen zurück zu meiner Mutter.

Kaum sind wir bei meiner Mutter, kommt eine Pflegerin und sagt uns, dass der Chefarzt mit uns sprechen möchte. Mir wird heiß und schlecht. Es wird immer offizieller, immer realer.
Der Arzt stellt sich vor und erklärt uns die Lage. Meine Mutter hat eine Entzündung, dessen Quelle sich nicht finden lässt. Sie hat entweder einen Abszess in ihrem Bein oder einen Bakterienherd. Die Operation, die die Ursache beseitigen könnte, würde sie nicht überstehen. Das Antibiotikum wirkt nicht. Die Nieren drohen zu versagen. Sollte das Antibiotikum bis morgen nicht anschlagen, bleiben meiner Mutter nur noch wenige Tage. Es sei denn, wir wollen, dass sie an die Dialyse kommt. Damit könnte ihr Leben verlängert werden. Aber nur bis zur nächsten Entzündung. Der Körper meiner Mutter ist einfach zu schwach. Ich frage, wie es denn für meine Mutter wäre, wenn mit der Dialyse alles klappt und die Nieren wieder arbeiten. Die Chancen stehen 50:50 und selbst wenn es klappt ist es nur eine Frage der Zeit bis die Nieren wieder schlapp machen. Mein Vater will, dass meine Mutter keine Schmerzen hat und nicht leiden muss. Wir lehnen die Dialyse ab, sollte sie notwendig werden. Meine Mutter wollte nie künstlich ernährt werden. All das, was mit ihr jetzt passiert und bisher passiert ist, wollte sie sicher auch nicht. Leider macht man sich während man lebt darüber nicht wirklich Gedanken, schiebt das Thema vor sich her, unterschreibt keine Patientenverfügung und wenn dann alles mies läuft, ist man in einer Situation, die man nie gewollt hätte. Niemand kann so etwas wollen.

Wir gehen nochmal zu meiner Mutter. Es ist wie ein Abschiedsbesuch. Ich kann mich aber nicht verabschieden. Wir sagen meiner Mutter, dass sie schlafen soll und der Schlaf ihr gut tut. Sie öffnet bewusst die Augen und sieht uns an. Spürt sie, dass etwas anders ist? Sie tut mir leid, ich will ihr helfen, etwas sagen, aber ich kann nicht. Ich bin traurig und würde gerne weglaufen.

Die Fahrt nach Hause ist sachlich und dennoch bedrückend. Mein Vater redet von der Beerdigung. Ich kann kaum etwas sagen. Ich will keine Beerdigung. Ich will weglaufen. Mein Vater muss weinen. Ich kann nicht weinen, sitze einfach nur da. Versuche mich hinter meiner Mauer zu verstecken. Das kann nicht gutgehen.

Am Abend besucht mich Petra. Wir reden eine Weile und gucken dann einen Film. Ich bin nicht bei der Sache und bekomme immer weniger von dem Film mit. Muss ständig zur Toilette und bekomme dann einen Panikanfall. Friere, atme schwer, drohe zu hyperventilieren und schreibe Agnes, dass ich nicht mehr kann. Sie ruft sofort an und fragt, was los ist. Ich erzähle ihr alles und sie sagt, dass ich raus muss aus der Wohnung. Sie hat sicher recht. Ich soll wieder alle halbe Stunde Neurexan nehmen.

Petra und ich verlassen die Wohnung und spazieren durch den Regen. Zunächst wird gar nix besser. Ich bin panisch, atme schwer und habe einfach nur Angst. Das ganze System spielt verrückt. Es dauert eine Weile bis ich wieder etwas runter komme und es erträglich wird. Ich habe allerdings Angst wieder in die Wohnung zurückzukehren und später alleine zu sein. Ich muss da aber durch.

Nach dem Spaziergang schauen wir noch eine Weile fern. Mein Zustand schwankt von erträglich bis kurz vor der nächsten Panik. Ich will Diazepam. Ich brauche Diazepam. Ich will weg.
Nachdem Petra gegangen ist, gehe ich ins Bad. Ein furchtbarer Tag geht zu Ende.

Tag 100 + 42
Kurz nach Mitternacht telefoniere ich mit Agnes. Ich bin panisch, habe Angst, jammere ihr vor, dass ich Diazepam nehmen will, weil ich es sonst nicht aushalte. Normalerweise redet Agnes mir das immer aus, wenn ich so drauf bin. Heute sagt sie, dass es ihr nicht gutgeht, sie nicht mehr kann und ich tun soll, was ich tun muss. Ich wollte sie nicht belasten, bin aber zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um zu erkennen, wenn es genug ist. Agnes hat eine Grippe und hohes Fieber und ich bin derzeit einfach zu viel. Sie braucht Ruhe. Wir reden noch ein paar Minuten, dann beenden wir das Gespräch.

Ich nehme Calmvalera und schlafe bald ein. Gegen 05.00 Uhr wache ich auf. Mir ist schlecht, ich habe Angst und stehe auf. Bin überfordert. Es ist dunkel, mir ist kalt. Ich nehme Rescue Tropfen, esse eine kleine Banane und lege mich wieder hin. Nehme eine Neurexal und schlafe nochmal ein.
Gegen 07.00 Uhr wache ich wieder auf. Fühle mich gefangen, habe Magenschmerzen und nehme eine Neurexal. Mir ist kalt. Ich beschließe, dass ich nicht mit meinem Vater zur Klinik fahre, sondern mit meinem Wagen, weil ich dann jederzeit abhauen kann. Diese Entscheidung erleichtert mich kurz, bevor ich mich frage, ob ich das meiner Mutter antun kann. Ich drehe mich im Kreis, schlafe aber noch ab und zu ein, bis ich um 08.00 Uhr aufstehe. Müde und zittrig. Ich bin in einer meiner Schleifen, die ich nach meiner Therapie größtenteils abgelegt hatte. Hätte ich die Therapie nicht beenden sollen?

Mir ist kalt, fühle mich schlapp und bin müde. Aber mir ist auch schlecht. Ich esse ein Stück Banane und beschließe, die Wohnung zu verlassen. Ich muss hier raus. Sofort.

Auf dem Spaziergang suche ich nach Worten, mich von meiner Mutter zu verabschieden. Ich weine viel und laufe immer weiter. Es ist schwer sich vorzustellen, dass sie wirklich von uns geht. Ich scheine wenig bereit dafür zu sein. Nein, ich bin es gar nicht. Über eine Stunde wandere ich umher, telefoniere dabei mit Agnes und je näher ich am Ende meiner Wohnung komme, desto übler wird mir.

Ich schaffe es gerade so eine Suppe zu essen, dann muss ich auch schon wieder los. Die Fahrt ist anfangs sehr entspannend, doch je näher ich der Klinik komme, desto unentspannter werde ich. Ich will das alles nicht.

Als ich meinen Vater auf dem Parkplatz vor der Klinik treffe, sagt er, dass wir heute wohl zum letzten Mal hergefahren sind. Er glaubt nicht, dass meine Mutter es schafft. Ich sage, dass er Recht haben kann, aber kein Recht haben muss. Ich will so etwas nicht hören. Niemand will so etwas hören.

Meine Mutter ist wacher, zuckt allerdings ständig zusammen. Egal, ob wir sie berühren, ansprechen oder gar nichts tun. Sie ist sehr nervös. Ihr Urinbeutel ist gefüllt. Haben die Nieren ihre Arbeit wieder aufgenommen? Blutdruck 137/46. Deutlich besser als gestern. Vom Chefarzt keine Spur. Wir fragen beim Pflegepersonal nach. Alle schauen ungläubig, dass wir einen Termin haben sollen.
Es wird versucht den Chefarzt zu erreichen. Er geht nicht ans Telefon. Ein Pfleger kommt zu uns. Mein Vater weist ihn auf das Zucken meiner Mutter hin und sagt, dass er etwas tun soll, damit meine Mutter keine Schmerzen hat. Der Pfleger gibt ihr Morphin, lagert meine Mutter um und sie schläft tief und fest, während wir noch mit dem Pfleger reden. Er sagt, heute ist meine Mutter auf niedrigem Niveau stabil, was aber jederzeit sich ändern kann. Die Entzündungswerte minimal besser als gestern, so vermutet er aber scheinbar nur, weil keine Laborberichte vorliegen, wenn ich alles richtig verstehe. Gestern, so sagt er, waren die Chancen, dass meine Mutter den Tag überlebt bei 50:50. Und ob es heute nur ein kurzes Hoch ist oder die Antibiotika tatsächlich helfen, weiß wohl niemand. Jeder Tag kann also auch weiter der letzte sein. Ich hasse das. Ich will nicht, dass meine Mutter leidet.

Zwei Stunden später noch immer keine Spur vom Arzt. Es ist nicht einmal bekannt, ob er heute überhaupt im Haus ist. Gesehen wurde er jedenfalls nicht. Ich bin irritiert. Wozu macht er einen Termin mit uns, wenn er dann nicht erscheint? Oder wäre er nur erschienen, wenn meine Mutter gestorben wäre? Es scheint fast so. Und wieso hat er nicht wenigstens einen Oberarzt geschickt? Das ist alles Stress, der alles nicht gerade einfacher macht.

Ich fahre zurück, mein Vater bleibt bei meiner Mutter, die wieder wach und total schreckhaft ist und ständig zusammenzuckt. Das ist doch kein Leben. Warum muss sie denn so leiden?

Nach dem Besuch bei meiner Mutter ruft er mich an. Gegen Ende des Besuches hatte sich meine Mutter beruhigt und die Zuckungen ließen sogar irgendwann nach. Dann schlief sie kurze Zeit später ein und er verließ das Zimmer. Drei bis vier Tage darf sich ihr Zustand nicht wieder verschlechtern, dann hat sie es vielleicht noch einmal geschafft und die Kurve gekriegt. Ich wünsche es ihr so sehr. Und ich wünsche es uns. Doch ein schlechtes Gewissen habe ich auch, weil ich zwar unbedingt will, dass meine Mutter weiter lebt, auf der anderen Seite aber nicht will, dass sie leidet. Und wenn weiterleben Leiden bedeutet, ist mein Wunsch, dass sie lebt dann nichtegoistisch und unverantwortlich? Das ist alles Scheiße.

Als mein Vater mich am späten Abend anruft, werde ich etwas panisch und fürchte, dass irgendwas passiert ist. Doch als ich seine Stimme höre, erkenne ich sofort, dass alles in Ordnung ist. Ich atme durch.

Tag 100 + 43
Gegen 06.30 Uhr werde ich wach. Ich bin unruhig und habe Magenschmerzen. Ich muss natürlich zur Toilette, esse anschließend eine halbe Banane, nehme Calmvalera und hoffe, noch etwas schlafen zu können, weil ich völlig kaputt bin. Leider klappt das mit dem schlafen nicht wirklich. Ich döse vor mich hin und immer, wenn ich einzuschlafen drohe, zerstören meine Gedanken jede aufkommende Entspannung. Dennoch bleibe ich bis kurz vor acht im Bett. Dann halte ich es nicht mehr aus. Ich fühle mich schuldig, weil ich heute eigentlich nicht zu meiner Mutter will. Denke, wie sehr sie leidet und jeder Gedanke ist wie ein Tritt in meinen Magen. So schlecht ging es mir länger nicht. Vor allem nicht über einen längeren Zeitraum. Ich habe das Gefühl, dass dieses Leid nun bis zu meinem Lebensende so weitergeht. Eine Endlosschleife, eine Bestrafung, weil ich kein guter Mensch bin. Ich nehme Rescue Tropfen. Meine Beine sind wie Pudding. Wie kann ich das verdammte Gedankenkarussell in meinem Kopf nur ausschalten?
Und wieder muss ich zur Toilette. Ich kann gar nicht so viel Nahrung zu mir nehmen, wie ich zur Toilette muss. Dagegen ist jede Diät ein Witz. Gut, dass ich keine Waage habe.

Ich kann nicht mehr. Ich halte das alles nicht mehr aus. Zum ersten Mal seit Beendigung meiner Therapie, will ich nichts weiter als sterben. Ich halte diesen Stress nicht mehr aus. Ich will, dass es aufhört. Und gedanklich kann alles nur aufhören, wenn ich sterbe. Dann ist es vorbei. Ich komme mit der Situation nicht mehr klar und kann nicht selber handeln. Es ist so als wäre ich eine Marionette des Spielers. Eine Marionette, die gequält und dann weggeworfen wird. Ich will ganz schnell weggeworfen werden. Am besten sofort. Diese kranken Gedanken wollen meinen Kopf gar nicht mehr verlassen. Sie halten mich im Würgegriff und rauben mir den Atem. Ich habe genug von den Grausamkeiten des Lebens. Und ich hasse meine Depressionen. Ich hasse das Leben.

Mein Frühstücksmüsli kriege ich tatsächlich runter. Ich muss anfangs zwar ständig würgen, aber dann geht es. Weil ich zu Hause aber wahnsinnig werde, muss ich raus an die frische Luft. Zum Glück scheint die Sonne, was es etwas besser macht. Meine Beine sind auch weiter wie Pudding und ich bin kraftlos, aber ich muss mich bewegen.

Beim Spaziergang treffe ich meinen Vater. Wir gehen noch eine Weile, dann gehen wir zu mir. Wir quatschen etwas, bringen zusammen eine Uhr an und ich kann tatsächlich etwas entspannen, nachdem ich beschlossen habe, heute nicht zu meiner Mutter zu fahren. Nachdem mein Vater gegangen ist, gucke ich TV, mache wir etwas zu essen, putze die Wohnung und bin tatsächlich eine Weile ganz entspannt. Ich schaffe es, die Ausnahmesituation etwas in den Hintergrund zu schieben und bin sehr froh darüber.

Am Nachmittag mache ich einen weiteren Spaziergang. Mein Vater ruft an, um mir von seinem Besuch zu erzählen. Die Nieren meiner Mutter scheinen sich erholt zu haben. Ich denke, das ist gut. Meine Mutter hat fast die ganze Zeit geschlafen und war sehr nervös als sie wach war. Ein Arzt war weit und breit nicht zu sehen. Das hört sich gut an, obwohl es nichts bedeuten muss, denn zu den Entzündungswerten haben wir keine Informationen. Und erst wenn diese gesunken sind, könnte meine Mutter diese Krise überstanden haben. Mein Vater klingt jedenfalls ganz gut und ich bin froh, dass er keine schlechten Nachrichten hatte.

So lange meine Mutter lebt, sie da ist, ohne dass sie wirklich lebt, ist es dennoch irgendwie leichter als wäre sie nicht mehr da. Wenn sie doch nur nicht leiden müsste, wenn es die Hoffnung gibt, dass ihr Gesamtzustand sich irgendwie verbessert, wäre das eine Erleichterung. Allerdings frage ich mich, ob das nicht egoistisch ist. Meine Mutter kann sich dazu nicht äußern. Ich weiß nicht, was richtig ist.

Tag 100 + 44
Gegen 07.00 Uhr wache ich mit Magenschmerzen auf. Ich mag nicht aufstehen und will den Tag nicht.

Der Puls meiner Mutter ist bei 110. Dafür ist der Blutdruck mit 90/32 viel zu niedrig. Sie schläft, zuckt gelegentlich zusammen und ihre Temperatur steigt. Sie tut mir Leid. Wie viel Leid kann sie noch ertragen und wo führt das hin? Bis vor wenigen Tagen hatte ich noch irgendwie das Gefühl, dass es ihr zwar nicht gut geht, sie aber wenigstens nicht leidet und sie, wenn sie im betreuten Wohnen untergebracht ist, irgendwie zur Ruhe kommt. Doch heute glaube ich nicht, dass es so sein wird und halte es für sehr fraglich, ob sie es überhaupt dorthin schaffen kann. Das ist doch alles Mist.

Auch heute sehen wir keinen Arzt und keine Ärztin. Die Dinge laufen einfach weiter, meine Mutter bekommt Medikamente, wird umgelagert und ist einfach nur da. Ich hoffe, dass sie nicht leidet, auch wenn es so wirkt als würde sie leiden. Ich will, dass sie lebt. Aber will ich, dass sie so lebt? Niemand kann das wollen. Und auch, wenn jeder Besuch der keine akute Gefahr bedeutet, eine gewisse Entspannung suggeriert, so weiß ich doch, dass das Leben meiner Mutter mehr als nur ein wenig in Gefahr ist. Jederzeit kann es zu Ende gehen, jederzeit ein Anruf kommen, der alles durcheinander bringt und uns in ein anderes Tal der Tränen stürzen wird. Nein, das Leben ist nicht schön.

Tag 100 + 45
Neuer Tag, neuer Stress? Oder kommt endlich die Information, dass die Krise überstanden ist?

Ich bin sicher, es gibt viele Menschen, die sich fragen, wieso ich so oft im Krankenhaus bin, ob ich kein eigenes Leben habe und wieso ich so nah an meinen Eltern bin. Jemand in meinem Alter sollte distanzierter sein. Mag sein. Aber Politiker sollten auch nicht lügen und tun es trotzdem. Und ich bin nun mal so und meine Eltern spielen in meinem Leben wohl eine größere Rolle als ich es gedacht habe. Na und? Manche Dinge erscheinen vielleicht für manche komisch oder falsch, was aber nichts daran ändert, dass sie so sind, wie sie sind.

Meine Mutter ist unglaublich. Sie scheint selbst diese kritische Phase überstanden zu haben. Jedenfalls sagt die Ärztin meinem Vater, dass die Entzündungswerte sich bessern und meine Mutter bekommt sogar wieder Therapie. Ich kann es kaum glauben, als mein Vater mir später davon erzählt. Ich bin natürlich sehr froh darüber, dass meine Mutter es zu schaffen scheint, mache mir aber Sorgen, ob Ergotherapie nicht vielleicht etwas früh kommt und sie zu sehr anstrengt. Doch möglicherweise ist es insgesamt ein gutes Zeichen und sie kann tatsächlich nächste Woche verlegt werden und den nächsten Abschnitt dieser Ausnahmesituation erreichen.

Wie nah Leid und Freud beieinander liegen, ist eigentlich nicht zu fassen. Vor vier Tagen haben fast alle, abgesehen von der Assistenzärztin, meine Mutter schon aufgegeben und ihr nur minimale Überlebenschancen eingeräumt. Selbst mein Vater war zum ersten Mal scheinbar überzeugt, dass es zu Ende geht. Und heute wird wieder therapiert als hätte es den Zwischenfall gar nicht gegeben. Ich hoffe, dass es so einen Zwischenfall auch in Zukunft nicht mehr geben wird. Es muss einen Weg geben, den Gesamtzustand meiner Mutter zu verbessern und zu stabilisieren. Ihr Kampf muss sich einfach lohnen.

Tag 100 + 46
Schon am frühen Morgen scheint die Sonne. Passt eigentlich prima zu den Fortschritten meiner Mutter und beides sollte so weitergehen. Die Sonne sollte scheinen und meine Mutter weitere Fortschritte machen und die Krise überwinden und ihre Entzündungswerte weiter sinken. Das wäre was.

Meine Mutter scheint etwas wacher, wobei das nicht heißt, dass sie uns bewusst wahrnimmt. Vielleicht nehmen wir aber auch nur nicht wahr, dass sie etwas bewusst wahrnimmt. Sie ist recht schreckhaft, die Temperatur bei 38,3 und wir hoffen weiter, dass es ihr bald besser geht und keinen weiteren Rückschlag haben wird.

Bei mir scheint sich eine Erkältung anzukündigen. Ich bin alles andere als begeistert.

Tag 100 + 47
Was sich gestern schon angekündigt hat, ist heute Gewissheit. Ich bin erkältet. Schon wieder. Entweder habe ich mich irgendwo angesteckt oder der Stress der letzten Tage hat mich so geschwächt, dass diese Erkältung logische Folge ist. Was auch immer die Gründe sind, es ist einfach ein unpassender Zeitpunkt.

Mein Vater ist der Meinung, dass meine Mutter heute gut drauf war. Obwohl sie eine Blutübertragung braucht, weil irgendein Wert nur bei 7 war, klingt er nicht besorgt. Blutübertragungen kommen vor, meint er. Ich weiß nicht, ob ich seine Entspanntheit teilen kann. Aber ändern kann ich eh nichts. Egal, was ich davon halte. Ich weiß nur, dass etwas Entspannung mir gut täte.

Tag 100 +48
Während ich mit einer Erkältung ausfalle, denke ich darüber nach, was mein Vater öfter sagt, wenn er vom Besuch bei meiner Mutter erzählt. Oft glaubt er, dass meine Mutter lächelt, wenn er etwas zu ihr sagt. Auch am Mittwoch, als ich dabei war, war er der Meinung, meine Mutter würde lächeln. Ich muss gestehen, dass ich das leider nie so sehe. Die Gesichtsausdrücke meiner Mutter haben für mich selten etwas Entspanntes gehabt. Vor allem nicht in letzter Zeit. Ich sehe Panik, Angst, Erschrockenheit. Natürlich sehe ich auch, wenn sich ihr Gesicht entspannt, aber ein Lächeln oder Lachen ist mir bisher verborgen geblieben. Vielleicht schade, dass ich mir solche Illusionen nicht auch machen kann. Ich würde mich sehr freuen, wenn meine Mutter in ihrem Leben tatsächlich nochmal lächeln würde. Das hätte sie wahrlich verdient.

Tag 100 + 49
Es ist Samstag, mein Vater besucht meine Mutter, ich bin erkältet und in wenigen Tagen wird meine Mutter verlegt, wenn nicht irgendetwas Unvorhersehbares dazwischen kommt.

Mein Vater sagt, dass meine Mutter eigentlich ganz gut drauf war. Sie hat sogar, was sie ewig nicht getan hat, mit den Augen fixiert oder zumindest den Eindruck erweckt. Außerdem hat sie den Kopf etwas bewegt. Wir haben zwar keine Ahnung, deuten es aber so, dass es ihr etwas besser geht und die Krise überstanden ist. Die Blutwerte sind besser, aber das linke Bein gibt weiter Rätsel auf. Mal ist es dicker, mal weniger dick. 5 Zentimeter mehr Umfang von einem Tag zum nächsten und keine Erklärung dafür. Es bleibt gefährlich, davon bin ich überzeugt. Und es kommen mir Zweifel, ob sie in der Einrichtung, wenn sie am Freitag verlegt wird, wirklich besser aufgehoben ist. Mein Optimismus, was den Umzug in diese Einrichtung angeht, wird mehr und mehr von Zweifeln in Frage gestellt.

Tag 100 + 50
Es ist tatsächlich so, dass ich einen Schnupfen brauche, um etwas zu entspannen und eine gewisse Distanz zu dieser Ausnahmesituation zu bekommen. Als wäre ein halbwegs gesunder Umgang nur möglich, wenn mein Körper nicht richtig funktioniert und dafür sorgt, dass ich mich zurücknehme. Gesund ist mein Verhalten jedenfalls nicht, wenn ich ansonsten gesund bin. Noch zwei Tage bis zum nächsten, vermutlich letztem, Gespräch mit dem Oberarzt.

Tag 100 + 51
Noch ein Tag bis zum Arztgespräch. Das Bein meiner Mutter hat noch keine wirklichen Fortschritte gemacht. Die Wunde am Steißbein auch nicht. Dass sie die Augen wieder etwas bewegt, muss doch irgendwie zu erklären sein. Ist das alles willkürlicher Zufall oder eine Folge von Entzündungen, Bakterien und Medikamenten? Kann eine Reduzierung der Medikamente, falls überhaupt möglich, meiner Mutter helfen? Sie bekommt derzeit etwa zwanzig Medikamente. Hier ein kleiner Auszug: Baclofen, Xipamid, Keppra, MST 30 ret. Granulat, Nepresol, Carmen, Gentamycin 80, Xalatan, Dorzolamid, Clex 0,4. Das sind bei weitem nicht alle Medikamente, aber leider ist ein ausführlicher Blick auf das Patientenblatt in der Klinik nicht möglich.

Tag 100 + 52
Obwohl die letzten Tage, besonders für mich, recht ruhig verliefen, bin ich heute direkt nach dem Aufstehen angespannt. Und das nicht nur, weil ich heute, nach fast einwöchiger Pause, wieder meine Mutter besuche, sondern weil heute das Gespräch mit dem Oberarzt ansteht. Da gibt es sicher wieder Dinge zu hören, die wir nicht hören wollen. Unbequeme und deprimierende Wahrheiten. Und wer weiß, was das, was wir zu hören bekommen, auslöst.

Es ist eigentlich kaum zu glauben, meine Mutter heute in diesem Zustand zu sehen. Vor nicht einmal zwei Wochen war sie fast gestorben und jetzt öffnet sie die Augen, zuckt nicht permanent zusammen und wirkt irgendwie entspannt. Ich bin voller Zuversicht, dass ihr die Verlegung nach Gahmen gut tun wird.

Das Gespräch mit dem Arzt holt mich aber in nur wenigen Sekunden aus meinen Träumen zurück in die Realität. Der Arzt sagt, dass meine Mutter nicht zu retten ist. Es kann jederzeit vorbei sein. Vielleicht ein paar Tage noch, höchstens ein paar Wochen. Ich bin sprachlos, sitze einfach nur da. Mein Vater weint. Natürlich. Ich versuche sachlich zu bleiben. Will nicht, dass es wahr ist, was der Arzt sagt, weiß aber, dass es wohl so ist.
Der Arzt redet weiter. Der Zustand meiner Mutter wird schwanken. Es wird Tage geben, da ist sie nervös und wird Schmerzen haben und Tage, an denen sie sehr entspannt wirken wird. Aber dieser Zustand wird sich auch nicht mehr verbessern. Das ist jetzt ihr Leben. Mein Vater will nur, dass meine Mutter keine Schmerzen hat. Der Arzt sagt, an schlechten Tagen wird einfach die Morphindosis erhöht. Und die Mittel zur Entspannung. So einfach ist das und doch so grausam. Am Donnerstag, also übermorgen, wird meine Mutter verlegt. Da sie dann bestimmt zwei bis drei Tage sehr aufgeregt sein wird, bekommt sie mehr Beruhigungsmittel. Ob wir noch Fragen haben. Wir fragen nach den Hilfsmitteln und erfahren, dass wir uns darum nicht kümmern müssen. Immerhin etwas Positives an diesem Gespräch. Und letztlich völlig belanglos. Mein Vater wendet sich weinend ab. Alles was ich höre ist das Wort Scheiße. Als er sich etwas beruhigt hat, gehen wir.

Wir setzen uns ins Auto, reden etwas, sind niedergeschlagen, mein Vater weint und ich weigere mich zu weinen. Das werde ich noch früh genug müssen. Da mein Vater und ich gerade erkältet sind, sage ich ihm, dass wir am Donnerstag dafür sorgen müssen, dass wir Mundschutz tragen, weil wir gefährlich für meine Mutter sind. Er sagt, dass es keine Rolle mehr spielt, meine Mutter sowieso schon voller Bakterien ist. Ich sage ihm, dass wir sie nicht noch zusätzlich belasten müssen. Er sieht das anders. Alles scheint egal. Ich verstehe ihn nicht. Meine Mutter hat bis hierher gekämpft, überlebt, obwohl sie kaum eine Chance hatte und nun ist er so nachlässig und will sie zusätzlichen Gefahren aussetzen. Sie quasi vorsätzlich gefährden. Das kann ich nicht verstehen. Sollten wir nicht wenigstens die offensichtlichen Gefahren minimieren, wenn wir dazu in der Lage sind? Ich werde wütend.

Zurück bei meiner Mutter. Blutdruck 180/95. Vorhin war er noch bei 146/42. Diese Schwankungen sind sicher auch nicht gesund. Aber was ist an dem Zustand meiner Mutter noch gesund? Sie wurde vom Arztpersonal aufgegeben und wenn sie oder ihr Körper aufgeben, dann ist es endgültig vorbei.
Ich rede sehr intensiv zu ihr, streichle ihren Kopf, rede zu ihr. Sie schaut mich möglicherweise an. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Wie soll ich das wissen? Tut es ihr gut, was ich mache? Versucht sie mich zu erkennen? Erkennt sie überhaupt etwas? Ich denke daran, wie sie früher war. Sie war ein anderer Mensch. Sie hat gelebt. Gerne würde ich ihr das alte Leben zurückgeben. Ihre Zeit schenken Dinge zu tun, die sie nicht getan hat. Uns Zeit geben. Mir Zeit geben. Der Besuch ist so intensiv als würden wir uns verabschieden. Dabei geht es ihr heute besser als vor zehn oder elf Tagen. Aber die Worte des Arztes, dass es ganz schnell gehen kann, schweben durch meinen Kopf, verpesten die Luft und zerstören alle anderen Gedanken. Und wieder sehe ich uns als Sterbebegleiter. Ich frage mich, was das soll. Wozu gibt uns das Leben diese Aufgabe? Wem nützt diese ganze Scheiße etwas? Vermutlich niemandem.

Mein Vater sagt, dass wir uns langsam Mutters Unterlagen vornehmen müssen. Versicherungen und all den Kram. Widerlicher Gedanke. Aber wichtig. Und er sagt, dass Ärzte sich manchmal ja auch irren. Das stimmt. Sollten wir dann nicht besser Mundschutz tragen, weil wir erkältet sind? Ich blicke schweigend aus dem Fenster. Die Spirale des Leids dreht sich weiter und weiter und weiter. Ich will aussteigen.

Schon oft habe ich über die Beerdigung nachgedacht. Wie sehr mich das belasten wird. Ich komme mit Beerdigungen nur schwer klar. Gehe, wenn möglich, zu keiner Beerdigung. Ich möchte abhauen. Verreisen bis alles vorbei ist. Feige weglaufen. Die Augen verschließen. Es ist einfach so, dass das Leben sinnlos ist. Und endlich. Also irgendwie nix für mich. Doch weiß ich, dass es so ist und gelegentlich versuche ich es anzunehmen, zu sagen, dass es so lächerlich ist das menschliche Dasein, dass ich bis zu meinem Ende einfach nur tun und lassen will, was mir gerade in den Sinn kommt. Ich darf das Leben einfach nicht ernst nehmen, es ist lächerlich und es wird nur noch lächerlicher, je ernster man es nimmt. Und am Ende kommt man in ein Gefäß und die Erde dreht sich weiter als wäre nichts gewesen.

Natürlich ist der Zustand meiner Mutter alles andere als Erstrebenswert. Dennoch dachte ich, sie wäre nicht in Lebensgefahr. Dem Irrtum bin ich schon mindestens einmal erlegen. Sie schwebt vermutlich seit dem 07. Juni ständig in Lebensgefahr. Ich denke an den Stationsarzt aus Lünen, den wir alle ätzend fanden mit seinen Negativprognosen. Letztlich aber, hat sich Bewahrheitet, was er sagte. Meine Mutter hatte nie eine Chance, wird aber keinen Gehirntot sterben, sondern an Organversagen. Dass sie überhaupt so weit gekommen ist, ist eigentlich ein kleines Wunder. Ihr Lebenswille ist unglaublich. Schon alleine dafür hätte sie belohnt werden sollen. Wird sie aber nicht.

Nachdem ich abends etwas gegessen habe, kippt meine Stimmung. Mir ist plötzlich schlecht, meine Magen rebelliert, ich bin kurz davor panisch zu werden und habe das Gefühl nicht mehr atmen zu können. Erst ein längeres Gespräch mit Agnes bringt mich wieder runter.

Ich sehe einen Film, gehe ins Bett und bin noch immer recht entspannt, als die nächste Stresssituation auftaucht. Für mich aus heiterem Himmel, führen Agnes und ich eine Beziehungsdiskussion. Sie hat das Gefühl unsere Telefonate sind nur noch Pflichtabhandlungen für mich. Gesehen haben wir uns nun seit vier Wochen nicht und es sieht nicht so aus als wäre ein Treffen in den nächsten Tagen möglich. Sie sagt, dass wir vielleicht zu weit auseinander wohnen und es besser wäre, ich würde mir eine Freundin in der Nähe suchen. Mir schlägt dieses Gespräch total auf den Magen. Ich bin in einer Situation, die mich seit Monaten sehr anspannt und kann auch verstehen, dass Agnes sich nicht gut fühlt. Dennoch ist das, besonders nach diesem Tag, ein weiterer Schlag in die Magengrube. Ich bin gestresst und überfordert als wir nach etwa einer Stunde die Diskussion beenden. Drei Menschen sind derzeit nah an mir. Meine Eltern und Agnes. Meine Mutter werde ich verlieren und jetzt habe ich das Gefühl, Agnes früher oder später auch. Das ist zu viel für mich. Ich glaube, ich sollte niemanden mehr an mich heranlassen, dann kann ich auch niemanden mehr verlieren.

Tag 100 + 53
Nachdem ich die letzten Nächte gut geschlafen habe und ohne den Wecker kaum aufgestanden wäre, ist diese Nacht alles andere als entspannt und ich bin schon lange vor dem Klingeln des Weckers wach. Mir ist übel, mein Magendreht sich scheinbar permanent um und ich habe keine Lust auf den Tag. Ich bin komplett überfordert und will nur noch weg. Weit weg von allem. Am besten nie mehr wiederkehren oder nie mehr aufwachen. Es ist erschreckend, wie extrem ich auf Dinge reagiere, wie sehr ich leide, wenn etwas aus dem Gleichgewicht gerät. Seit gestern ist vieles aus dem Gleichgewicht geraten und ich frage mich, ob ich mich den Tatsachen besser stellen sollte, anstatt immer alles zu verdrängen. Bin ich ein blinder Egoist? War und bin ich ein schlechter Sohn und ein noch schlechterer Partner. Vermutlich.

Konnte ich die letzten Tage auf meine Beruhigungsmittel verzichten, so kommen sie heute wieder zum Einsatz. Ist mein Versprechen, kein Diazepam zu nehmen, noch gültig, wenn Agnes nicht mehr meine Partnerin ist? Ich denke nicht. Verliere ich meine Mutter und auch Agnes, werde ich wieder eine Therapie machen. Ich glaube gerade nicht, dass ich das alleine schaffe.

Ohne das Wissen von gestern, wäre es ein ganz normaler Besuch. Meine Mutter schläft viel, die Nieren arbeiten, die Entzündungswerte sind leicht gesunken und es wirkt nicht so als wäre sie in Lebensgefahr. Mein Vater sieht die Gefahr seines Schnupfens für meine Mutter nun ein und er nimmt sich ein paar Schutzhandschuhe und einen Mundschutz mit. Wenn meine Mutter sich etwas einfängt, dann wollen wir, wenn möglich, nicht verantwortlich sein.
Ich rede ein wenig mit bzw. zu meiner Mutter und es scheint manchmal so als würde sie mich mustern. Vielleicht ist es meine Stimme, die ihr vertraut vorkommt, vielleicht die Art, wie ich zu ihr spreche. Vielleicht aber, und das dürfen wir nie vergessen, sieht sie mich gar nicht an, sondern starrt nur in meine Richtung. Auch das es manchmal wirkt, als würde die etwas sagen sollen, ist vermutlich nur ein Wunsch, der fernab jeglicher Realität ist. Und wieder frage ich mich, ob sie weiß, wer sie ist oder wer wir sind. Erkennt sie uns, weil wir sie täglich besuchen oder ist es völlig egal? Was geht in ihr vor? Fragen, die niemals eine Antwort finden.

Mein Vater redet mit der blonden Pflegerin, die wir beide mögen. Er sagt ihr, dass er meine Mutter in ihrem neuen Zuhause öfter und länger besuchen kann. Die blonde Pflegerin findet das scheinbar nicht so gut, denn sie weist ihn darauf hin, dass er mal eine Pause braucht, weil er sonst irgendwann nicht mehr kann und umfällt. Ich stimme ihr zu. Mein Vater scheint es zu überhören. Auf dem Ohr ist er auch weiter taub. Meiner Mutter erzählt er später auch, dass es ja zwei Zimmer gibt und er immer bei ihr sein kann. Hoffentlich meint er es nicht so, wie ich es befürchte.

Morgen also wird meine Mutter verlegt. Hoffentlich verkraftet sie denn Stress gut und fällt nicht wieder in ihrer Genesung zurück.

Tag 100 + 54
Mein Mobiltelefon klingelt. Ich gehe ran. Eine Stimme sagt mir, dass meine Mutter gestorben ist. Ich wache auf. Zum Glück nur ein Traum. Doch dieser Anruf wird irgendwann früher oder später kommen. Ich will das nicht.

Erst gegen 17.00 Uhr kann ich meine Mutter, die bereits um 09.00 Uhr verlegt wurde, besuchen. Auf dem Weg zum Zimmer meiner Mutter, muss ich an mehreren anderen Zimmern vorbei. Da alle Türen offen stehen, blicke ich hinein. Überall das gleiche Bild. Menschen in einer beschissenen Lebenssituation zwischen Leben und Tod. So etwas kannte ich natürlich, doch jetzt selbst involviert zu sein, ist etwas ganz anderes. Ich war noch nie in einem Hospiz, aber irgendwie glaube ich, dass das hier auch eine Art Hospiz ist. Hier ist kein Leben. Hier ist es dunkel und deprimierend. Hier ist für die meisten die Endstation. Und ich fürchte, für meine Mutter auch.

Meine Mutter schläft sehr ruhig, was mich überrascht, erfreut und etwas beruhigt. Vor dem Besuch war ich sehr angespannt, jetzt wird es etwas besser. Mein Vater, der schon seit vier Stunden bei meiner Mutter ist, wirkt irgendwie niedergeschlagener als sonst. Seit dem Gespräch mit dem Oberarzt am Dienstag wirkt er immer niedergeschlagener. Das Leben ist grausam, ich mache mir Sorgen um ihn.

Ein Pfleger sagte, dass er mit dem Hausarzt meiner Mutter gesprochen hat, dieser allerdings wenig kooperativ war bzw. wenig interessiert schien, die Behandlung meiner Mutter fortzusetzen. Der Beatmungsarzt des Hauses will nochmal mit dem Hausarzt reden. Sollte er auch den Eindruck haben, dass dieser nicht will, müssen wir sehen, dass ein anderer Arzt das übernimmt. Ich fände es eh besser, wenn sich ein anderer Arzt meiner Mutter annehmen würde.

Für morgen müssen wir ein paar Dinge besorgen. T-Shirts, einen Schrank, Hygieneartikel usw. Hoffentlich geht es meiner Mutter trotz der miesen Prognosen noch eine Weile, gerne auch länger, besser. Ich will nur nicht, dass sie leidet. Aber wer will so etwas schon?

Tag 100 + 55
Auch heute ist mir nicht wohl beim Aufwachen. Das Todesurteil des Arztes schwebt über allem. Dabei wird das Todesurteil doch mit der Geburt übergeben. Aber irgendwie ist das was anderes.
Der Start in den Tag fällt mir ebenso schwer, wie das Frühstücken. Ich bin gefangen in meiner Blase der schlechten Gedanken. Vieles im Leben habe ich durch ignorieren, verdrängen und hinnehmen vielleicht besser verkraftet als erwartet. Diese Hürde erscheint mir immer wieder zu hoch. All meine negativen Gedanken lasse ich voll durchschlagen. Es ist als wollte ich leiden. Gesund ist mein Verhalten sicher nicht. Extremsituationen sind wenig förderlich für mein selbstzerstörerisches Verhalten. Ich muss die Tür finden, die mich aus meinem Alptraum entlässt. Oder habe ich die Tür schon längst zugemauert?

Während wir im Nebenzimmer meiner Mutter einen Schrank aufbauen, ist bei ihr im Zimmer viel los. Eine Einweisung findet statt. Es geht um die Matratze. Mindestens sechs Personen befinden sich im Zimmer meiner Mutter. Sie bekommt von all dem nichts mit. Vermutlich ist sie mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt. Natürlich ist es gut, dass sie der Stress kalt lässt, führt mir aber auch vor Augen, wie ausweglos die ganze Situation ist. Es macht mich traurig, meine Mutter so sehen zu müssen. Ein Pflegefall, hilflos, hoffnungslos und doch ein Mensch.

Ich will gerade gehen, als der Hausarzt meiner Mutter erscheint. Ich bin völlig überrascht. Er Untersucht meine Mutter, die einen geschwollenen rechten Fuß hat. Das Pflegepersonal vermutet eine Thrombose. Der Hausarzt eine Arthrose. Ich hoffe, er hat Recht. Dennoch ist das alles Scheiße. Ständig ist etwas Neues. Wieso muss meine Mutter das alles ertragen? Wieso dreht sich die Spirale des Grauens immer weiter?
Der Hausarzt sagt, dass er meine Mutter nicht weiter betreuen mag, weil er einfach zu weit weg ist und auch zu lange brauchen würde, wenn mal etwas ist. Klingt logisch. Er will beim Personal nachfragen, ob sie nicht einen Arzt wissen, der an seiner Stelle weitermacht. Arzt könnte ich auch nicht sein. Das könnte ich nicht ertragen.

In diesem Wohnheim ist Platz für elf Menschen, denen es ähnlich wie meiner Mutter geht. Die wenigsten werden je wieder nach Hause kommen. Die meisten werden hier sterben. Ich könnte hier nicht arbeiten. Dieses Elend würde mich vermutlich total zerstören. Täglich damit konfrontiert zu werden, erscheint mir unerträglich.

Im Verlauf des Tages stellt sich eine gewisse Ruhe bei mir ein. Tagsüber komme ich etwas besser mit dem Leben klar. Vor allem, wenn es keine neuerlichen Horrormeldungen irgendwelcher Ärzte gibt. Ignorieren, bis es vorbei ist. Nach dem Motto scheine ich mein ganzes Leben zu leben.

Ich muss einen Weg finden, mit der Situation wieder besser zurechtzukommen. Ich weiß nur nicht wie.

Tag 100 + 56
Das Aufstehen weiter eine Qual. Schon wieder eine Woche fast um. Wir rasen weiter mit einer Mordsgeschwindigkeit dem Ende entgegen. Besonders morgens kann ich an nichts anderes denken. Mir ist schlecht.

Am Nachmittag bin ich kurz bei meiner Mutter. Sie schläft und mein Vater hält ihre Hand. Mir tut es unendlich leid. Warum muss das Leben so grausam sein? Nach einer Weile öffnet sie die Augen und blickt starr nach rechts oben. Den Zustand hatten wir auch schon mal. Ich dachte, das ist längst Geschichte. Im Knappschaftskrankenhaus hat sich dieser Blick sehr verfestigt und nun ist er wieder da. Es geht hin und her, doch niemals wirklich voran.
Ich spreche zu meiner Mutter, streichle ihr Gesicht. Doch außer, dass sie gelegentlich zuckt, scheint sie mich nicht wahrzunehmen. Erst als ich ganz nah an ihr Gesicht gehe, entsteht kurz der Eindruck als würde sie mich ansehen. Aber ich weiß es nicht. Hoffentlich leidet sie wenigstens nicht. Hoffentlich geht es ihr in dieser Umgebung besser und hoffentlich tun wir ihr, soweit es überhaupt möglich ist, etwas Gutes mit der Unterbringung hier. Verdammtes Leid.

Tag 100 + 57
In der Nacht wache ich auf. Mir ist schlecht. Ich muss zur Toilette, muss würgen und bin am Ende. Über eine Stunde wandere ich durch die Wohnung, trinke Tee, nehme Nuxal und friere. Ich kann nicht mehr. Alles ist mir zu viel. Ich denke an meine Mutter, habe Angst vor allem und fühle mich schlecht. Ein Infekt? Eine Überforderung? Alles zusammen? Ich weiß nur, dass ich nicht mehr kann.
Nachdem es sich etwas beruhigt hat, lege ich mich hin. Ich schlafe unruhig, träume von meiner Mutter, habe Angst, dass sie gestorben ist und wache auf. Mir ist kalt. Ich nehme eine zusätzliche Decke und friere weiter.

Es ist vielleicht eine Stunde vergangen. Mir ist schlecht, ich muss zur Toilette. Dann zurück ins Bett. Unruhig und leicht panisch schaffe ich es dennoch in kurzen Etappen zu schlafen. Schlechte Träume oder Gedanken begleiten mich. Mein Magen schmerzt. Mir ist schlecht. Es ist 06.30 Uhr.

Bis ich vor acht aufstehe, schlafe ich zwar immer wieder kurz ein, wache aber auch schnell wieder auf. Dann schnell zur Toilette. Mein Magen schmerzt und ich werde immer panischer. Kaum von der Toilette zurück folgt die nächste Würgeattacke. Ich renne zur Toilette, klappe den Deckel hoch und muss mich zum Glück nicht übergeben. Meine Psyche spielt verrückt. Zwei Oberteile und eine Decke später, friere ich noch immer. Meine Hände sind so kalt, dass ich sie kaum bewegen kann. Habe ich mir doch etwas eingefangen? Mein Immunsystem ist derzeit sicher eh zu schwach, um alle Infekte abwehren zu können. Ich habe Angst, fühle mich überfordert und alleine. Ich will nicht mehr.

Wenn man den Zustand meiner Mutter über die letzten Monate betrachtet, scheint es tatsächlich so zu sein, dass er mit jeder Verlegung an einen anderen Ort schlechter wurde. Zwar wurden immer wieder irgendwelche Dinge erreicht, aber als Ganzes betrachtet, gibt es jetzt keine Sicherheit mehr. Sie schwebt in Lebensgefahr, die Prognosen sind schlecht und wenn ich sie betrachte, dann ist klar zu erkennen, dass sie schon mal weiter war, mehr auf ihre Umwelt reagiert hat und wirkte als würde es vorwärts gehen. Doch derzeit sieht alles nach Rückschritt aus. Jedem Schritt, den es nach vorne geht, folgen mehrere Schritte in die falsche Richtung. Das ist kaum zu ertragen und lässt wenig Raum für berechtigte Hoffnung.

Meine Mutter ist, laut meinem Vater, heute nicht so gut drauf. Als ich nachfrage, wie er das meint, sagt er nur, dass sie viel geschlafen hat. Ist das wirklich alles oder verschweigt er mir irgendwas?

Tag 100 + 58
Endlich eine Nacht in der ich gut schlafe. Ich träume, dass meine Mutter wieder sprechen kann und es ihr, nachdem der Trachealkatheter entfernt wurde, viel besser geht. Ich wundere mich über diese Zustandsänderung, doch bevor ich weitere Fragen dazu stellen kann, endet der Traum bzw. meine Erinnerung daran. Das Klingeln des Weckers beendet meinen Schlaf. Die Sonne scheint und alles wirkt so friedlich. Ich bin erholt.

Am Vormittag besuche ich meine Mutter. Es ist das erste Mal seit Monaten, dass ich sie alleine besuche. Sie schläft. Ich lese ihre Krankenakte: Hypoxischer Hirnschaden, Alter zerebraler Insult, Kardiogener Schock, arterielle Hypertonie, paralytischer Illeus, Diabetes mellitus Typ 2, Multiorganversagen, Permanentes Vorhofflimmern, Keimträger von Staphylokokken, Dekubitus im Sakralbereich. Ich verstehe nicht alles, kann das meiste aber irgendwie zuordnen. Verdammt viele Probleme für einen einzigen Körper.

Ich werfe einen Blick auf die Medikamentenliste:

1. Pantozol 40mg 1x täglich
2. Tizanidin 6mg 3x täglich
3. NaCl Tabletten 6x täglich
4. Baclofen 3x täglich
5. Xipamid 10 mg 2x täglich
6. Keppra 750 mg 2x täglich
7. Nepresol 25 mg 2x täglich
8. Furosemid 40 mg 2x täglich
9. Carmen 10 mg 2x täglich
10. ASS 100 mg 1x täglich
11. Xalatan
12. Dorzolamid
13. Atrovent
14. Salbutumol
15. MST Granulat
16. Clexane 0,4 ml 1x täglich
17. Protaphane 2x täglich
18. Actrapid

Das sind die Medikamente, die ich beim durchstöbern der Krankenakte erkennen kann. Das ist alles zu viel. Ein Blick auf einige Nebenwirkungen könnte das große Schlafbedürfnis meiner Mutter erklären. Vielleicht würde sie ohne aber auch nicht weniger schlafen. Gesund kann das alles nicht sein.

Zwischendurch wird sie ganz kurz wach. Ich versuche Kontakt mit ihr aufzunehmen, aber außer einem angestrengten oder auch erschrockenen, schmerzverzerrten Gesichtsausdruck, bekomme ich keine Reaktion und sie schläft rasch wieder ein. Ob sie sehr leidet? Oder ist der Hirnschaden zusammen mit der Medikation ausreichend, um ihr wenigstens Schmerz und Leid zu ersparen. Jeden Tag die gleichen Fragen. Eine Ecke voller Hoffnung und eine Realität, in der nicht wirklich Platz für Hoffnung ist. Ist das alles, was vom Leben bleibt. Vermutlich.

Später trainiert mein Vater etwas mit meiner Mutter. Das Bewegen der Hände, was bedeutet, die Hände von oben etwas nach unten zu bewegen, ist die einzige Übung, die möglich ist und auch immer wieder funktioniert. Mehr ist nicht möglich. Und so konzentriert sich mein Vater auf eben diese Übung. Doch die meiste Zeit, kann er einfach nur neben ihr sitzen, weil sie die meiste Zeit schläft.

Er erzählt mir, dass in den nächsten Tagen mit der Sprachtherapie begonnen werden soll. Sollte es tatsächlich geschafft werden, dass meine Mutter den Trachealkatheter nicht mehr braucht, kommt sie in ein Heim, weil in der Einrichtung nur Menschen mit Katheter bleiben dürfen. Er fügt zwar noch an, dass es ja sein kann, dass, wenn meine Mutter diesen Trachealkatheter nicht mehr benötigt, es ihr ja auch insgesamt so viel besser gehen kann, dass sie gar nicht in ein Pflegeheim muss. Es ist ihm aber anzusehen, dass er daran nicht wirklich glaubt. Zu groß wäre das Wunder. Aber egal, was wir hier planen und wünschen, am Ende liegt es nicht in unserer Macht die Geschehnisse zu beeinflussen. Wir müssen es hinnehmen und damit leben. So wie meine Mutter die Situation ertragen muss.

Tag 100 + 59
Ich merke, wie ich es schaffe, die Situation um meine Mutter etwas in den Hintergrund zu befördern. Ein wenig nur, aber es hilft. Das Bewusstsein, dass jede Veränderung wieder zu Panik führen kann, ist mir aber durchaus bewusst. Doch ich muss diese Zeit des Durchatmens nutzen, um durchzuatmen. Sonst halte ich es irgendwann gar nicht mehr aus. Ich bin zu labil für solche Situationen. Viel zu labil.

Ich verbringe den Tag mit Agnes. Wenn wir zusammen sind, schaffe ich es tatsächlich zu entspannen. Ich schlafe entspannter, wache entspannter auf und die ganze Ausnahmesituation rückt etwas in den Hintergrund. Die Pause zwischen diesem und unserem letzten Treffen war einfach zu lang. Doch leider sind die Umstände oft ungünstig und lassen sich nicht beeinflussen.

Tag 100 + 60
Ein weiterer Tag mit Agnes, bevor sie wieder zurück muss. So bin ich auch heute entspannter, bevor es ab morgen sicher wieder anders wird.

Meine Mutter, so sagt mein Vater, ist auch entspannt gewesen. Entspannt sein ist ein Zustand, der viel zu oft vernachlässigt oder verhindert wird.

Tag 100 + 61
Am Donnerstag ruft mein Vater mich um 08.36 Uhr an. Das Gespräch verläuft erst normal. Es geht um Zuzahlungen für eine Matratze und dann sagt er, dass er den Bericht vom Oberarzt aus der Helios Klinik bekommen hat. Keine Hoffnung. Das wird nichts mehr. Mein Vater schweigt, weint und will das Gespräch mit den Worten „Bis Morgen“ beenden. Ich sage ihm, dass es noch früh ist und wir später doch noch telefonieren. Er sagt „Ach ja“ und beendet weinend und völlig fertig das Gespräch. Sofort ist der letzte Rest Entspannung verflogen. Sofort bin ich wieder in der echten Realität. Die Realität, die ich mir geschaffen habe, hat keine Bedeutung mehr. Ich weiß nicht, ob ich zu meinem Vater gehen soll oder nicht. Ich bin direkt nach dem Aufstehen überfordert. Willkommen in der Realität.

Knapp fünf Minuten später ruft mein noch immer sehr getroffen Vater erneut an. Ich sage ihm, dass ich später noch ins Krankenhaus komme und er sagt, dass er mir dann die Rechnung und den Arztbericht mitbringt. Will ich das wirklich lesen? Ich weiß es nicht. Vielleicht irrt der Arzt sich ja. Aber kann das sein? Wir reden ein paar Minuten, auch über andere Themen, dann beenden wir das Gespräch. Mehr können wir gerade nicht tun.

Kurzes Gespräch. Nachhaltige Wirkung. Ich habe Magenschmerzen und bin gestresst. Gleichmut geht anders.

Am späten Nachmittag besuche ich meine Mutter. Mein Vater sitzt bei ihr und hält ihre Hand. Zunächst scheint es als würde sie schlafen, doch ihr rechtes Auge ist ganz leicht geöffnet. Ich übernehme den Platz von meinem Vater. Meine Mutter öffnet kurz auch das andere Auge. Ich rede mit ihr, sie scheint ihre Augen in meine Richtung zu bewegen. Sie ist leicht schreckhaft, aber seit sie hier ist, ist es bedeutend weniger als in Hagen-Ambrock. Ich habe auch weiter den Eindruck, dass es hier entspannter für sie ist und sie deshalb ruhiger ist. Auch sind ihre Hände weniger verkrampft. Mir ist durchaus bewusst, dass es auch an der Medikation liegen kann und es ihr dennoch sehr schlecht geht, aber ohne den Bericht vom Oberarzt, wäre alles viel erträglicher.

Auch glaube ich, dass das Personal hier sorgsamer mit den Patienten/Bewohnern umgeht. Es kommen immer zwei Leute, um jemanden anders zu lagern. Sie lassen sich Zeit, reden nett mit den Patienten und können zusammen sicher auch dafür sorgen, dass das umlegen/umlagern viel angenehmer für den Patienten ist. Jedenfalls ist meine Mutter, wenn sie anders gelegt wird, nur kurz aufgeregt, in der Klinik dauerte der aufgeregte Zustand immer viel länger an. Ich denke auch weiter, dass sie hier besser aufgehoben ist als in jeder Klinik und jedem Krankenhaus. Nur dumm, dass ich mich schon oft geirrt habe. Restrisiko.

Tag 100 + 62
Als meine Mutter plötzlich schwitzt, denke ich sofort, dass sie Fieber hat und die nächste Infektion und alles jetzt voll stressig wird. Mein Vater sagt, dass meine Mutter ab und zu so schwitzt und es nichts bedeutet. Hoffentlich. Mein Vater trocknet den Schweiß und nach ein paar Minuten ist der Spuk vorbei. Meine Mutter hat von all dem gar nichts mitbekommen. Sie wird erst wach als wie anders gelegt werden soll. Anschließend ist sie noch ein paar Minuten wach. Ihre Arme sind kurz sehr angespannt, dann entspannt sie wieder und legt, fast ohne Hilfe, die Arme etwas weiter runter. Kann es nicht doch Fortschritte geben? Muss alles, wirklich alles, verloren sein?

Mein Vater, der täglich mindestens vier Stunden bei meiner Mutter bleibt, nimmt sich zwar immer etwas zu trinken mit, trinkt aber nichts. Und so muss ich in fast dazu nötigen, etwas Wasser zu trinken. Ich bin aber nicht täglich bei meiner Mutter und kann ihn deshalb nicht täglich zum trinken animieren. Das ist doch Dreck.

Mein Vater fragt, ob ich den Bericht vom Oberarzt lesen will. Ich will nicht. Ich will in meiner Traumwelt leben und so tun als gäbe es diesen hoffnungslosen und durch und durch deprimierenden Bericht nicht. Zumindest will ich glauben, dass der Bericht falsch ist. Und falsche Berichte zu lesen, bringt mir gar nichts.

Tag 100 + 63
Mittagessen bei meinem Vater. Während wir essen, hört mein Vater plötzlich auf zu essen. Ich sehe ihn an, sehe wir seine Lippen zittern, er seine Tränen zu unterdrücken versucht, es ihm aber nicht gelingt und er dann die Küche verlässt. Ratlos sitze ich vor meinem Essen und weiß nicht, was ich tun kann.
Nach einem Moment kommt er zurück. Wie immer, sucht er nach irgendeinem Thema, was nichts mit den Tränen zu tun hat. Das Essen fällt ihm weiter schwer. Er ist fast fertig als er erneut die Küche verlässt. Ich bin total überfordert.

Später will er das Geschirr spülen. Doch kaum ist das Wasser eingelassen, muss er wieder raus. Er fängt an Wäsche aufzuhängen. Mehrmals muss er sich währenddessen die Nase putzen. So heftig war das noch nie. Auch als er damit fertig ist, er zurück in der Küche ist, laufen Tränen über sein Gesicht. Ich sage ihm, dass er wieder mehr spazieren gehen muss, weil das etwas ablenkt und gut tut. Er sagt, dass er es sich überlegt. Er schläft derzeit besonders schlecht. Ich vermute, der Bericht vom Oberarzt wird dazu beigetragen haben. Ich will diesen Bericht noch immer nicht lesen. Meinem Vater sage ich, dass Spazieren gehen auch helfen kann, dass er abends einschlafen kann. Er nimmt eine Bromazanil. Verdammt, wie bekomme ich ihn aus dieser Schleife raus? Was das angeht, sind wir uns wohl auch ähnlich. Einmal in etwas hineingesteigert, finden wir nur schwer eine Tür, die uns da wieder raus lässt. Ich kann nichts weiter tun als ihm zu sagen, dass er raus muss. Dass es ihm gut tun wird, wenn er spazieren geht. Dann bin ich mit meinen Weisheiten am Ende. Nein, ich bin selbst dann, wenn ich einen gewissen Abstand habe, keine echte Hilfe. Entweder ich bin selbst total verzweifelt oder völlig ratlos. Viel ist das nicht.

Tag 100 + 64
Das Pflegepersonal wirkt bisher durchgehend freundlich. Selbst die Pflegerin, die der Pflegerin aus Hagen, mit der mein Vater und ich anfangs nicht so ganz zufrieden waren, optisch sehr ähnlich ist, ist sehr freundlich. Insgesamt wirkt das Personal entspannter. Vielleicht wirkt sich das auch auf meine Mutter aus. Vielleicht ist das Arbeiten in dieser Einrichtung tatsächlich entspannter. Hoffentlich werden die Angestellten ordentlich bezahlt. Vielleicht finden wir das ja noch raus.

Wenn mein Vater mich anruft, während er bei meiner Mutter ist, bekomme ich jedes Mal eine Art Schock. Es könnte ja was passiert sein oder noch schlimmer. Zum Glück soll ich ihn nur an etwas erinnern. Durchatmen. Weitermachen.

Tag 100 + 65
Am Morgen des 18. November hat eine Pflegerin das Gefühl, dass meine Mutter ihr etwas sagen möchte. Dieses Gefühl habe ich, als ich sie am Nachmittag besuche, ebenfalls.

Zunächst schläft sie, doch nachdem sie wach ist und ich sie anspreche, sieht sie mich an. Zumindest macht es den Eindruck. Ich rede mit ihr, ihr Gesichtsausdruck ändert sich, sie beginnt zu zittern und es wirkt tatsächlich so als wollte sie mir etwas mitteilen. Dann sieht sie sehr traurig aus. Unzufrieden vielleicht, weil ich sie nicht verstehe, weil sie sich nicht mitteilen kann. Es ist schwer, das zu deuten. Ich versuche sie zu beruhigen. Meinem Vater wird das alles zu viel, er wendet sich ab, nimmt eine Bromazanil und ist sichtlich ergriffen. Meine Mutter gähnt, schaut noch einen Moment und während ich ihr Gesicht streichle, schläft sie kurz ein.
Als sie wieder aufwacht, wiederholt sich der Vorgang erneut. Es wirkt in der Tat so als würde meine Mutter etwas mitteilen wollen. Spricht mein Vater sie von der anderen Seite an, bewegt sie ihre Augen sofort in Richtung meines Vaters. Ist das jetzt nur eine, vom Oberarzt aus Hagen-Ambrock beschriebene Tagesformabhängige Situation oder geht es meiner Mutter jetzt hier in Gahmen so weit besser, dass sie in diesem Zustand bleibt? Fragen auf die es heute keine Antwort geben wird.

Später, als ich bei meinem Vater etwas abhole, werfe ich einen Blick in den Bericht der Helios Klinik. Ich weiß, dass ich das nicht wollte, doch als der Brief vor mir auf dem Tisch liegt, kann ich nicht anders. Beim Barthel Index erreicht meine Mutter genau 0 Punkte. Sie wird als eine Art Wachkoma Patientin bezeichnet. Aussicht auf Verbesserung ihres Zustandes gibt es nicht. Ihr Zustand wird insgesamt als sehr schwach bezeichnet und sie wird immer ein hilfloser Pflegefall bleiben. Dies ist nur eine kurze Zusammenfassung. Ich lese nicht jede Zeile des Berichts. Vielleicht kann meine Mutter die eine oder andere Aussage ja noch widerlegen. Wäre schön.

Tag 100 + 66
Der Tag ist sehr entspannt. Ich habe den nötigen Abstand, um etwas abzuschalten. Ich gehe zum Training, putze die Wohnung und sehe TV. Zumindest so lange, bis mein Vater um 19. 26 Uhr anruft. Er kommt immer später von meiner Mutter zurück. Während er bei meiner Mutter ist, isst er nichts und trinkt nur wenig. Schon alleine das macht mir Sorgen. Das Gespräch bereitet mir dann zusätzliche Sorgen. Er sagt, dass meine Mutter heute nicht gut drauf war. Sie war total nervös, schreckhaft und wollte seiner Meinung nach etwas mitteilen. Er rief das Personal, welches meine Mutter untersuchte. Scheinbar wurde nichts Außergewöhnliches festgestellt. Es wurde versucht, den Hausarzt zu erreichen, was aber nicht möglich war. Lediglich eine seiner Angestellten wurde erreicht. Diese versicherte, dass er sich zurückmelden würde. Tat er natürlich nicht. Je mehr mein Vater erzählt, desto unruhiger werde ich. Die Entspannung des Tages ist nun völlig verschwunden. Gegen Ende des Gesprächs frage ich meinen Vater, was er jetzt noch macht, ob er Fußball guckt. Fußball interessiert ihn nicht. Es klingt so als würde ihn gar nichts mehr interessieren. Ich kann das zwar verstehen, aber nur schwer ertragen. So geht das nicht. Diese ganze Sache wird, wenn es so weiter geht, doppelt schlecht ausgehen. Wir legen auf.

Gegen 22.00 Uhr ruft mein Vater mich an. Er braucht etwas gegen Schnupfen. Schon wieder. Vor dieser dunklen Zeit, war mein Vater fast nie erkältet, jetzt ist er es fast durchgehend. Er baut ab und ich kann nichts tun. Später weist mich Agnes darauf hin, dass Schnupfen eine Nebenwirkung vom Zopiclon sein kann. Ich muss versuchen ihm klarzumachen, dass er aufhören muss, diesen Mist, der auch nicht wirklich hilft, einzunehmen. Aber wie soll ich das schaffen? Er ist ja irgendwie Beratungsresistent. Und der Hausarzt ist keine große Hilfe, sondern verschreibt immer und immer weiter Zopiclon und Bromazanil. Bescheuert.

Tag 100 + 67
Ich träume schlecht. Dieses Mal von meinem Vater. Davon, wie er so tut als ginge es ihm gut, sich aber immer wieder ans Herz fast und die Sache zunächst runter spielt. Ich werde immer wütender, rufe einen Krankenwagen und schimpfe mit ihm. Dann wache ich auf.

Den Rest der Nacht ist mein Schlaf sehr bescheiden. Ich wache immer wieder auf und bin angespannt. Hört der Stress denn nie auf? Was kommt denn noch alles? Was hat der Spieler vor?

Meine Mutter schläft während meines Krankenbesuchs. Zwar nicht immer völlig entspannt, aber sie schläft. Ich finde das gut und beruhigend. Nach dem Besuch bin ich weniger gestresst. Bis zum nächsten Stress. Das Hamsterrad dreht sich weiter. Immer weiter.

Tag 100 + 68
Eine Frau, die ihre Zimmer in der Nähe meiner Mutter hat, sieht täglich fern und wirkt recht anwesend. In den anderen Zimmern, an denen ich vorbei muss, sieht es eher wie bei meiner Mutter aus. Die Patienten schlafen bzw. sind abwesend. So ist besagte Frau, die nebenbei TV schaut, immer wieder eine positive Abwechslung und ein netter Kontrast. Nicht für alle muss diese Einrichtung ein Hospiz sein. Das ist gut.

Regelmäßig wird einer der Patienten zur Dialyse abgeholt. Die drei Männer, die den Mann abholen und später zurück bringen, tragen nicht nur Mundschutz und Schutzhandsuche, sondern auch einen weißen Ganzkörperanzug, der sogar bis über den Kopf reicht. Wie in einem Science Fiction Film, doch leider auch traurige Momentaufnahmen einer mehr als unerfreulichen Situation.

Es gibt auch eine neue Pflegerin. Sie war vorher in verschiedenen Pflegeheimen. Hier findet sie es schon nach wenigen Tagen besser als in jedem Heim, in dem sie vorher war. Denn hier, so sagt sie, hat sie wenigstens etwas Zeit für die Patienten, In den anderen Einrichtungen konnte sie nicht einmal mit den Patienten reden, weil es zu wenig Personal gab und der Zeitplan so etwas nicht vorsah. Das ist echt erbärmlich. Angehörige zahlen für einen Heimplatz unglaublich viel Geld und bekommen unfassbar wenig. Das ist so krank, dass es verboten werden müsste.

Tag 100 + 69
Es gibt einen neuen Pfleger. Er kommt aus dem Krankenhaus in Werne. Dort, so sagt er, hatte niemand wirklich Zeit für die Patienten. Es fehlte an Personal und auf Dauer wollte er so nicht arbeiten. Auch er findet diese Einrichtung von Anfang an besser, weil sich hier noch wirklich um die Patienten gekümmert wird.

Meine Mutter wird alle zwei Stunden umgelegt. Wie gesagt, wird das immer von zwei Personen durchgeführt, nicht wie in der Helios Klinik nur von einer. Diejenigen, die das bei meiner Mutter machen, sagen, dass diese ganze Problematik am Steißbein, dass Wundlegen, hätte verhindert werden können, wenn meine Mutter regelmäßiger umgelegt worden wäre. Meine Mutter, die immer sehr nervös und unruhig war, wenn sie in der Helios Klinik ungelegt wurde, ist hier, nachdem es getan wurde, immer ziemlich ruhig und entspannt. Liegt es an den Tabletten oder am Personal? Wir werden es leider nie erfahren.

In den Räumen neben meiner Mutter wohnt eine Frau nunmehr zwei Jahre. Ihre Tochter sagt, dass sie wohl alles versteht und sie auch mit ihr kommunizieren kann. Vor ein paar Tagen musste die Frau ins Krankenhaus. Ohne Reanimation wäre sie gestorben. Dumm nur, dass sie gar nicht reanimiert werden wollte, was auch in ihrer Patientenverfügung steht. Leider (?) hat da aber niemand nach gefragt. Und so geht das Leben, oder Leiden, weiter. Ist das richtig?

Tag 100 + 70
Die Pflegerin, die hauptsächlich für meine Mutter zuständig ist, muss täglich zwölf Stunden arbeiten. Von acht bis acht. Ich finde zwölf Stunden etwas viel. Das kann nicht gesund sein und erscheint mir grundsätzlich fragwürdig. Wie viel Freizeit bleibt einem dann noch?

Ich sitze bei meinem Vater und er muss etwas ausfüllen. Weil seine Hand so stark zittert muss er mehrfach aufhören und wieder anfangen. Ich sage ihm, dass es mit seinen Tabletten zusammen hängen kann. Ich lese ihm alle Nebenwirkungen vor und frage ihn, warum er dieses Zopiclon weiter nimmt, wenn es auf der einen Seite nicht hilft und möglicherweise irgendwelchen Nebenwirkungen hervorbringt. Er sagt, dass er das Zopiclon ab sofort nicht mehr nimmt. Hoffentlich hält er sich auch daran. Weil sein zweites Medikament, Bromazanil auch voller Nebenwirkungen ist und ebenso wenig zu helfen scheint, versuche ich ihm zu erklären, dass auch das Zeug für die Einnahme auf Dauer zu gefährlich ist. Er sagt, dass er davon zunächst nur noch die Hälfte nehmen wird. Auch hier hoffe ich, dass er sich daran hält.

Tag 100 + 71
Wenn nichts passiert, kann ich etwas entspannen. Das Leben nimmt seinen Lauf und bei richtiger Verdrängung scheint alles in Ordnung zu sein. Ich wünschte, mein Vater würde es ebenso empfinden können, weiß aber, dass dem nicht so ist. Er sagt, dass er gestern kein Zopiclon genommen hat und deshalb noch schlechter geschlafen hat. Ich sage ihm, dass er vorerst das Bromazanil vor dem Schlafengehen nehmen soll. Vielleicht hilft das ja. Auf keinen Fall soll er auf die Idee kommen, dass Zopiclon erneut zu nehmen.

Tag 100 + 72
Ich beobachte meine Mutter, wie sie in ihrem Bett liegt, in regelmäßigen Abständen verkrampft und den Eindruck macht, als würde sie sehr leiden. Meine Versuche, sie etwas zu beruhigen, sei es durch Worte oder Berührungen, verlaufen im Sande. Nur ein Mal öffnet sie kurz ein Auge. Meine Reaktion darauf ist wissenschaftlich und menschlich sehr wertvoll. Ich winke. Meine Mutter schließt kurz danach das Auge und verkrampft weiter. Ein Pfleger, der ihr ihren Medikamentencocktail über die Magensonde zuführt, sagt, dass sie sicher gleich entspannen wird, da in dem Cocktail stets Morphin ist. Es ist der dritte Tag in Folge an dem meine Mutter mehr oder weniger stark unter diesen Verkrampfungen leidet.

Ich stehe neben ihr und frage mich erneut, was das für ein Leben sein soll. Meine Mutter scheint nicht anwesend zu sein. Nur noch das, was von ihr übrig ist und am Leben gehalten wird. Ohne ein Wunder wird meine Mutter auch nicht wiederkehren. Was würde ich geben, nur um noch einmal ein paar Minuten mit ihr zu haben, in denen sie die Möglichkeit hat, sich zu dem Zustand zu äußern und zu sagen, was wir tun sollen. Vermutlich alles.

Der Pfleger sagt, dass meine Mutter, wenn sie so verkrampft auch immer wieder Atmungsaussetzer hat. Das ist alles so unerträglich und sinnlos, dass mir die Worte fehlen.

Mein Vater kommt hinzu. Seine Aufgabe der nächsten Stunden wird es sein, die Hände und Arme meiner Mutter ein wenig nach unten zu bekommen und dort zu halten. Manchmal gelingt es ihm, manchmal nicht. Über diesen Status kommen wir scheinbar nie heraus. Wir sind am Endpunkt angelangt. Und alles, was darüber hinausgeht, muss wohl als Wunder bezeichnet werden. Erwähnte ich schon, dass Wunder relativ selten sind?

Tag 100 + 73
Mein Vater möchte, dass der Hausarzt meiner Mutter die Sprachtherapie aufschreibt. Der Hausarzt möchte aber nicht, weil er das für zu anstrengend hält. Mein Vater sagt, dass der Zustand meiner Mutter so nicht lebenswert ist und alles versucht werden muss, was möglich ist. Der Hausarzt möchte nicht. Mein Vater wird die Praxis nicht eher verlassen bis er die Überweisung hat. Der Hausarzt argumentiert, dass die Krankenkasse das eh nicht zahlen wird. Erst als er einsieht, dass mein Vater nicht eher geht, bis er die Überweisung hat, schreibt es sie. Mit dem Vermerk, dass der Logopäde selbst entscheiden soll, ob eine Sprachtherapie Sinn macht und durchgeführt wird. Diesen Kampf hat mein Vater gewonnen. Dafür, dass der Hausarzt meinem Vater ständig irgendwelche Pillen aufschreibt, hat er sich dieses Mal echt angestellt. Was er sich dabei wohl gedacht hat? Zugleich sollte es die letzte Amtshandlung des Hausarztes gewesen sein. In wenigen Tagen wird ein anderer Arzt meine Mutter übernehmen. Hoffentlich ist der nicht genau so komisch.

Mein Vater hat seine Besuchszeit mittlerweile auf sechs Stunden ausgedehnt. Das ganze Leid ist ihm deutlich anzusehen und ich bin überfordert damit, irgendwas für ihn zu tun.

Ist der Zustand meiner Mutter stabil, kommen von meinem Vater keine panischen und verunsichernden Aktionen, lebe ich weiter als wäre alles okay. Ich habe die nötige Distanz und komme irgendwie klar. Dennoch frage ich mich, ob dieses Verdrängen gesund ist. Müsste ich nicht irgendwie andersmit der Situation umgehen? Bin ich kaltherzig? Verbringe ich zu wenig Zeit bei meiner Mutter? Habe ich sie irgendwie abgeschoben? Eine Antwort bleibe ich mir schuldig.

Tag 100 + 74
Pflegestufe II. Ich habe keine Ahnung, wie die von der Krankenkasse auf die Idee kommen, meiner Mutter Pflegestufe II zuzuordnen. Wenn meine Mutter Pflegestufe II hat, wer soll dann Pflegestufe III bekommen? Leute, deren Arme und Beine abgefallen sind und die den ganzen Tag sabbern und schreien?

Insgesamt bin ich immer wieder von den Kosten, die so etwas verursacht, überrascht. Monatlich gibt es 1250€ Pflegegeld. Dazu kommen täglich 360€ für die Versorgung meiner Mutter. Das ist eine Menge Geld. Aber auch hier wird wohl alles seine Richtigkeit haben.

Meine Mutter ist seit Tagen selten wirklich wach, wenn ich sie besuche. Dafür zuckt sie immer mehr, reagiert mittlerweile auch auf Berührungen sehr empfindlich. Möglicherweise kommt es heute davon, dass die Ergotherapie heute begonnen hat. Vielleicht ist das auch nur Zufall, dass es heute besonders schlimm erscheint. In den nächsten Tagen soll ein Neurologe hinzugezogen werden, um ihr vielleicht andere Mittel zu geben, die sie etwas entspannen lassen. Außerdem soll mit einem HNO-Arzt gesprochen werden und der Hausarzt wird endlich ausgetauscht. Und so keimt neue Hoffnung auf, dass all diese Maßnahmen für eine Verbesserung des Zustandes meiner Mutter sorgen können.

Tag 100 + 75
Zuckerwerte, die ständig zwischen 400 und 500 pendeln, scheinen das dringendste Problem derzeit zu sein. Das Personal sagt, dass es daran liegt, weil der Hausarzt zu wenig Insulin aufschreibt. Ich bin da eher skeptisch, denn in den ersten Tagen waren die Zuckerwerte besser. Wenn es also am mangelnden Insulin liegt, würde es bedeuten, dass der Hausarzt die empfohlene und vorher verabreichte Menge an Insulin reduziert hat. Das mag ich nicht glauben. Ich bin ja noch immer der Meinung, dass meiner Mutter einfach viel zu viel Nahrung zugeführt wird. 2250 Kilokalorien erscheinen mir für jemanden, der sich nicht bewegen kann, etwas viel. Oder es ist das falsche Nahrungsmittel. Vielleicht irre ich aber. Ab Montag wird sich ein anderer Arzt um meine Mutter kümmern. Hoffentlich hat er gute Ideen, um den Zucker zu senken und den Allgemeinzustand zu verbessern.

Tag 100 + 76
Meine Mutter hat seit Monaten die Angewohnheit, ihre Hände in verkrampfter Haltung direkt vor dem Hals abzulegen. Durch ihr zucken bzw. krampfen, schlägt sie so immer wieder gegen den Trachealkatheter, was durchaus gefährlich ist, weil es zu Verletzungen führen kann. Als meiner Mutter heute Morgen abgesaugt wurde, war dann auch Blut darin enthalten. Vermutlich durch eine Verletzung, ausgelöst durch die vielen Kontakte der Hände meiner Mutter mit dem Trachealkatheter. Die Pflegerin, die hauptsächlich für meine Mutter zuständig ist, hat daraufhin eine Idee, die solche Kontakte verhindern soll. Sie legt ein Kissen in die Ellenbogen meiner Mutter, so dass diese nicht mehr die Möglichkeit hat, mit ihren Händen an den Hals zu kommen. Eine Idee, die mein Vater schon vor Wochen hatte, die aber bisher nicht umgesetzt wurde.

Da meine Mutter so keine Möglichkeiten hat, sich selbst zu schaden, ist schon am Nachmittag beim absaugen des Schleims kein Blut mehr festzustellen. Vielleicht wurde diese Maßnahme genau zum richtigen Zeitpunkt durchgeführt. Alternativ bliebe eh nur die Möglichkeit, die Hände meine Mutter anzubinden. Die Methode mit dem Kissen erscheint da irgendwie sympathischer.

Jetzt gilt es als nächstes die Zuckerwerte meine Mutter wieder in einen erträglicheren Bereich zu bekommen. Der neue Arzt meiner Mutter, der den Hausarzt ablösen soll, hat jedenfalls schon die ersten Anordnungen unterschrieben. Er kommt also tatsächlich nächste Woche und hat hoffentlich Ideen, die das Leben für meine Mutter erträglicher machen.

Tag 100 + 77
Es ist tatsächlich schon Dezember. Mein Vater hat mittlerweile einen sehr konkreten Plan, was die Besuchszeiten angeht. Um 13.00 Uhr fährt er los und bleibt meist bis 19.00 Uhr. Es ist zwecklos ihm zu sagen, dass er etwas flexibler sein soll. Spaziergänge nach den Besuchen gibt es nicht. Lediglich einmal in der Woche, freitags, geht er eine Stunde eher, um mit Bekannten etwas Karten zu spielen. Vormittags ist es damit beschäftigt, den Haushalt zu machen oder Essen zuzubereiten. Es ist derzeit unmöglich ihn dazu zu bewegen, spazieren zu gehen. Selbst wenn meine Mutter den ganzen Tag schläft, weicht er nicht von ihrer Seite. Freude an irgendwelchen Tätigkeiten bzw. Unternehmungen, hat er nicht. Reden wir über andere Leute, die wir kennen und die sich in seinem Alter befinden, endet das Gespräch oft damit, dass derjenige, wenn er dies oder das erledigt hat, eh den Arsch zukneift und nichts mehr davon hat. Schon alleine die Formulierung „den Arsch zukneift“, finde ich erschreckend deprimierend.

Dass mein Vater kein Interesse verspürt, die Wohnung weihnachtlich zu dekorieren, kann ich verstehen, aber seine komplette Verweigerung angenehmer Dinge ist schon schwierig zu ertragen.

Tag 100 + 78
Der erste Advent. Die Vorweihnachtszeit hat uns erreicht. Und keiner von uns hat sich je vorstellen können, dass es irgendwann mal so kommen wird und Weihnachten so deprimierend sein könnte.

Zusätzlich belastend ist die Tatsache, dass es keine Beständigkeit gibt. Kaum scheint alles entspannter zu sein, tauchen neue Probleme auf und wenn man darüber nachdenkt, scheint man zu erkennen, dass man es früher hätte bemerken sollen. Wobei man eh nur spekuliert und vermutet. So auch heute. Der Sauerstoffwert, oder wie auch immer es korrekt bezeichnet wird, bei meiner Mutter sollte stets bei 100 sein. Seit Freitag schwankt er wieder stark und geht sogar teilweise bis 82 runter. Das Gerät quittiert es mit einem Alarm. Dennoch haben wir uns keine besonders großen Sorgen gemacht. Heute geht dieser Wert teilweise bis 50 herunter. Meine Mutter hat häufig Atmungsaussetzer und keiner weiß warum. Der Arzt kommt angeblich morgen.
Vielleicht, so vermutet mein Vater, hat meine Mutter wieder irgendeinen Infekt. Gut möglich, vielleicht schläft sie deshalb seit Tagen so viel und ist während unserer Besuche fast nie wach. Schlittern wir jetzt, wo alles sicherer schien, schon wieder in die nächste Krise? Sind Stabilität und Kontinuität nur eine Illusion, was den Zustand meiner Mutter betrifft? Ich fürchte es.

Tag 100 + 79
Angespannter als in den letzten Tagen, starte ich in den Tag. Meine Mutter schläft fast eine Stunde, während ich bei ihr bin. Dann öffnet sie die Augen. Die Atmung ist etwas besser, sie ist aber weiter müde. Bei Berührungen und Geräuschen zuckt sie zusammen. Ich rede beruhigend auf sie ein. Zumindest hoffe ich, dass es sie beruhigt. Mein Vater wandert während ich meine Mutter volltexte durch die Zimmer. Ich sage meiner Mutter, dass ich sie lieb habe. Habe ich ihr noch nie gesagt. Zumindest nicht, soweit ich mich erinnern kann. Ich bilde mir ein, dass sie irgendwie darauf reagiert. Als würde sie kurz innehalten und mich fixieren. Einen kurzen Moment scheint es, als hätten meine Worte sie erreicht. Als wäre sie überrascht und hat es genau verstanden. Dieser kleine Moment unterscheidet sich in meinem Empfinden von den anderen Momenten. Ob es wirklich so ist oder ob ich es mir einrede bzw. wünsche, dass es so ist, kann ich nicht sagen. Ich streichle ihr den Kopf, sage ihr, dass sie sich entspannen soll und wünsche, ich könnte ihr helfen. Irgendetwas für sie tun.
Als sie für eine Weile ihre Augen schließt und sie dann wieder öffnet, kann ich es nicht lassen, zu winken. Hat vermutlich etwas von einem Teletubbie, aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Ich hoffe, dass mein Winken ihre Aufmerksamkeit auf mich lenkt. Aber ob ich mir irgendetwas zu ihr durchdringe oder ob all ihre Reaktionen willkürlich sind, ist, je nachdem, wie ich es gerade interpretiere, unterschiedlich. Gewissheit gibt es nicht. Es erscheint aber wahrscheinlicher, dass sie nicht weiß, wer wir alle sind.

Tag 100 + 80
Zwischen 13.00 Uhr und 14.00 Uhr soll der neue Arzt meine Mutter untersuchen. Damit mein Vater die Gelegenheit hat mit dem Arzt zu reden und ihn kennenlernen kann, fährt er extra früher zu meiner Mutter. Als er dort um 12.55 Uhr ankommt, erfährt er, dass der Arzt schon da war und wieder weg ist. Wozu gibt es Zeitangaben, wenn sich niemand daran hält?

Der Arzt hat drei Tabletten aus dem reichhaltigen Tablettencocktail meiner Mutter gestrichen. Um welche Tabletten es sich handelt, weiß mein Vater nicht. Ein Neurologe, der Patientenbesuche macht, ist schwer zu finden, weshalb mein Vater gefragt wird, ob weiter nach einem Neurologen gesucht wird. Natürlich. Warum nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen? Ich finde solche Fragen etwas dämlich. Am besten alle Behandlungen abbrechen, wenn sich nicht sofort ein Arzt findet. Zurück ins Mittelalter. Oder was?

Tag 100 + 81
Statt zuletzt ca. 1900 kcal bekommt meine Mutter nun täglich 1125 Kcal über die Nahrung zugeführt. Anweisung des neuen Arztes. Hoffentlich lassen sich so die Zuckerwerte verbessern.

Die Fluktuation unter den Mitarbeitern erscheint besonders in den letzten Tagen unverhältnismäßig hoch. Ständig neue Gesichter. Grund für diese häufigen Personalwechsel sollen die Arbeitszeiten sein. Täglich zwölf Stunden am Stück sind auf Dauer wohl nicht so prickelnd, wie sich der Arbeitgeber das vorstellt. Doch anstatt die tägliche Stundenzahl zu reduzieren, wird das Personal immer wieder kräftig durchgemischt. Gibt ja genug Arbeitsuchende und so kann stur und konsequent an den Arbeitszeiten festgehalten werden. Für mich sind maximal sechs Stunden die absolute Obergrenze. Nur gut, dass ich kein Maßstab bin.

Als meine Mutter während meines Besuches das erste Mal die Augen öffnet, starrt sie einfach nur die Ecke an. Sie reagiert auf nichts in ihrer Umwelt. Kein Zucken, keine Grimassen, kein verzerrtes Gesicht. Völlig regungslos starrt sie vor sich hin. Das ist beängstigend und wirft einmal mehr die Frage auf, ob sie sonst, wenn sie zu reagieren scheint , vielleicht doch nichts wahrnimmt und einfach nur unkontrollierte Dinge tut. Überhaupt ist dieser Anblick nur schwer zu begreifen. Was soll so etwas? Was hat meine Mutter von so einem Leben? Und weiß sie in irgendeiner Form, was sie da macht? Fragen, die sich wiederholen, neue Fragen, alte Fragen. Und nicht eine dieser Fragen wird je beantwortet werden.
Mein Vater wirkt auch teilweise sehr frustriert und resigniert. Vor allem, wenn er erzählt, dass sie ja schon mal weiter war, ihren Kopf bewegt hat, die Hände wenigstens etwas mit bewegt hat. Ändert sich ihr Zustand tatsächlich oder ist es nur unsere Wahrnehmung, die schwankt? Auch das bleibt unbeantwortet. Die Zeit rast, fast täglich erhalten wir neue Rechnungen, nur der Zustand meiner Mutter bleibt mehr als bescheiden. Wieder betrachte ich meine „neue“ Mutter und suche verzweifelt nach meiner „alten“ Mutter. Sie scheint nicht da zu sein und auch nie wieder zu kommen. Wohin ist sie gegangen und wen hat sie uns dagelassen?

Tag 100 + 82
Mein Vater und ich sitzen im Rathaus. Unsere Aufgaben als Betreuer meiner Mutter werden auch weiter gebraucht und müssen erweitert werden. Eine kurze Anhörung, viele Informationen. Unglaublich, was alles geregelt werden muss in einem solchen Unglücksfall. Gleichzeitig werden wir aufgeklärt, was meinem Vater bleibt, wenn meine Mutter irgendwann doch in ein Pflegheim kommt. Quasi nichts. Er wird dann ein Sozialfall. Existenz ruiniert wegen eines tragischen Zustands. Es ist unfassbar, in was für einem sozialen Land wir leben. Da bleibt man besser von Geburt an ein Sozialfall, dann kann einem nichts weggenommen werden. Aber zum Glück ist der Fall derzeit noch unwahrscheinlich. Aber sicher ist nichts, so viel steht schon lange fest.

Später erfahre ich, dass der neue Arzt meiner Mutter, telefonisch angewiesen hat, dass meine Mutter, wenn sie ihre Flüssignahrung aufgebraucht hat, eine andere Sorte bekommen soll. So sollen die Zuckerwerte gesenkt werden. Blöd finde ich, dass sie erst die alte Nahrung aufbrauchen muss, weil sie davon nämlich gerade erst viele Kartons geliefert bekam. Das wird also noch ein paar Wochen dauern bis die Nahrung umgestellt wird.

Tag 100 + 83
Vier Wochen sind längst vorbei. Die Anfangs guten Eindrücke und damit verbundenen Hoffnungen haben sich längst relativiert. Der Zustand meiner Mutter, besonders in den letzten Tagen, ist alles andere als akzeptabel. Schien es in der ersten Zeit so als würde sie hier in der Einrichtung entspannen und weniger gestresst sein, vielleicht sogar irgendwelche Fortschritte machen, so ist sie in den letzten Tagen so weit weg, wie selten zuvor. Selbst wenn sie nicht schläft, starrt sie einfach nur. Es macht immer seltener den Eindruck als würde sie reagieren. Entweder geht es ihr tatsächlich schlechter oder sie hat irgendwie aufgegeben. Entweder fehlen ihr Reize oder sie kann nichts damit anfangen. Sie schläft fast nur und es ist mir kaum mehr möglich, irgendeine Reaktion zu erkennen. Ihre Sauerstoffsättigung sinkt oft bedrohlich ab. Hilflos stehen wir all dem gegenüber und wissen so gar nicht, was wir tun sollen und was es bedeutet.

Nebenher stellen wir uns die Frage, ob meine Mutter hier wirklich optimal betreut wird. Denn was die Ärzte angeht, sind wir alles andere als zufrieden. Der neue Arzt meiner Mutter, hat sie zwar besucht, möglicherweise auch untersucht, aber wir haben nicht mit ihm sprechen können. Einen Nierenarzt, der den Blasenkatheter meiner Mutter wechseln soll, hat man zwar zwischenzeitlich gefunden, sagt man zumindest, aber der Blasenkatheter ist noch nicht gewechselt, obwohl das längst hätte passieren müssen. Ein Neurologe ist noch immer nicht in Sicht. Keiner der bisher angefragten Neurologen macht Hausbesuche. Und das meiner Mutter noch nicht einmal Blut abgenommen wurde in den vier Wochen, ist auch nicht wirklich nachvollziehbar. Was ich ebenfalls bedenklich finde ist die Tatsache, dass mir vom Pfleger, den ich extra dazu befragt habe, nicht gesagt werden konnte, welche Tabletten der Arzt denn nun abgesetzt hat. Lediglich die abgesetzte Hefetablette ist ihm aufgefallen. Vermutlich war das die einzige Tablette, die keine Nebenwirkungen verursacht. So langsam frage ich mich, warum zuerst alles getan wird, ein Menschenleben zu retten und nach einer Weile das Interesse am Patienten nur noch in sehr geringem Umfang vorhanden zu sein scheint. Und ich frage mich, wieso in allen Berichten steht, dass meine Mutter lediglich zweimal wiederbelebt wurde, wo der Arzt, der die Wiederbelebung durchgeführt hat, doch sagte, dass er insgesamt neunmal wiederbelebt hat. Vielleicht sollten wir diesem Arzt einfach die Schuld an allem, was nach dem Zusammenbruch meiner Mutter passiert ist, geben. Denn jeder, der gehört hat, dass meine Mutter neunmal wiederbelebt wurde sagt, dass diese Aktion unverantwortlich und Schuld am jetzigen Zustand meiner Mutter ist. Ich muss gestehen, dass das sehr nachvollziehbar für mich klingt. Aber Schuldzuweisungen helfen meiner Mutter nun mal nicht und bringen keinen weiter.

Tag 100 + 84
An den Wochenenden besuche ich meine Mutter nicht. Ich bin relativ entspannt, lebe meine Leben, vergesse aber nie, was mit meiner Mutter ist. Dennoch schaffe ich es derzeit, am Wochenende abzuschalten.

Tag 100 + 85
Als mein Telefon gegen sieben Uhr klingelt, ahne ich, dass etwas passiert ist. Als ich die Stimme meines Vaters höre, fürchte ich, dass es heute passiert ist. „Mutter ist gestorben.“ Diese Worte waren unausweichlich und mussten früher oder später fallen. Meine Antwort darauf ist vermutlich eine der häufigsten Reaktionen. „Oh, nein.“ Mehr weiß ich nicht. Mir fällt ein, dass mein Onkel auch an einem Sonntag starb und es ebenfalls früh war, als ich den Anruf bekam. Komische Zufälle. Makabre Zufälle. In meinem Kopf neben dem Schmerz immer nur ein Lied. Thank you von Dido.

Etwa eine halbe Stunde später holt mein Vater mich ab und wir fahren zu meiner Mutter. Obwohl ich sie eigentlich so nicht sehen wollte, blicke ich durch die Tür. Sie sieht schlafend aus. Nicht gruselig oder tot. Mein Vater und ich brechen in Tränen aus. Dann stehen wir Arm in Arm im Zimmer und sind einfach nur traurig. Nach einer Weile sagt er, dass er zu meiner Mutter möchte. Er geht zu ihr, ich stehe weinend auf dem Flur, gehe einen Moment später aber ins Zimmer, an meiner Mutter vorbei, und ins Nebenzimmer. Aus für mich sicherer Entfernung betrachte ich meine Eltern. Mein Vater redet mit meiner Mutter, ganz so, wie es in den letzten Tagen auch immer war. Doch ist dieses Mal alles ganz anders. Mein Vater verabschiedet sich und ich bin gerührt, einsam, ratlos, fassungslos und unendlich traurig. Das ist alles so surreal, dass es wahr sein muss. Einen solchen Moment habe ich mein Leben lang gefürchtet. Und wusste doch immer, dass er unausweichlich ist.
Mein Vater nimmt die Hand meiner Mutter, redet mit ihr, streichelt sie und sagt, dass sie noch warm ist. Ich behalte meinen Abstand und sehe zu, kann es nicht glauben, wandere durchs Nebenzimmer und denke, dass alles so ist, wie in den letzten Tagen. Doch das ist es nicht. Meine Mutter ist endgültig tot. Auch wenn ich denke, dass es für sie vermutlich eine Erlösung ist, wird es dadurch nicht besser. Es ist unwiederbringlich vorbei. Es wird nie wieder lustig, nie wieder Streit geben, nie wieder banal, albern oder anders sein. Es ist vorbei.

Nach ein paar Minuten gehen wir. Ich gehe mit etwas Abstand an meiner Mutter vorbei, sage Tschüss und verlasse das Zimmer.

In der Küche steht das ganze Pflegepersonal. Man wünscht uns Beileid, ist aber sachlich distanziert. Ich fühle mich unwohl, mein Vater kann die Tränen nicht unterdrücken. Warum auch?
Ich rufe ein Bestattungsunternehmen an. Das ist alles so unwirklich, so surreal. Nachdem alles erledigt ist, fahren wir zu meinem Vater. Banane essen, etwas trinken. Neurexan, Rescue Tropfen. Mein Magen ist unzufrieden. Doch noch geht es mir besser als erwartet.

Gegen 10.50 Uhr sind wir im Bestattungsunternehmen. Zum Glück müssen wir uns nicht um viele Dinge kümmern. Als es darum geht, die Texte für die Todesanzeigen zu finden, bekommen wir ein paar Texte und je mehr ich lese, desto trauriger werde ich. Mir kommen die Tränen, ich kann nix mehr lesen.
Wir suchen eine Urne aus, gehen an den Särgen vorbei. Ich fühle mich immer unwohler und versuche die Särge zu übersehen. Ich will hier raus. Bitte.

Später essen wir eine Kleinigkeit, stellen uns Gegenseitig eine Vollmacht aus und mein Vater füllt eine Patientenverfügung aus. Er sagt mir, wie er seine Beerdigung haben möchte. Das Leben in seiner Form ist ein grausames Arschloch. Der Tod viel zu Gegenwärtig. Ich bin zu schwach für diese Welt.

Wir verständigen Verwandte und Bekannte und sind später bei mir. Mein Vater geht um 19.30 Uhr zurück in seine Wohnung. Ich esse etwas und es ist kurz vor 20.00 Uhr als ich plötzlich starke Magenschmerzen bekomme und raus muss. Zum Glück begleitet mich Petra auf meinem Spaziergang, der gut anderthalb Stunden dauert und während dem ich ab und zu tatsächlich etwas abschalten kann. Doch kaum habe ich Petra weggebracht, geht es mir schlechter. Da ich zu schwach bin, weiter spazieren zu gehen, muss ich nach Hause. Mir ist schlecht und es dauert eine ganze Weile bis es einigermaßen geht. Von 23.30 bis etwa 01.30 Uhr telefoniere ich mir Agnes. Ich brauche sie sehr. Mehr als ich es mir je eingestehen wollte. Mittwoch ist sie wieder bei mir. Bis dahin muss ich durchhalten und versuchen es irgendwie auszuhalten. Nach einer Weile schlafe ich tatsächlich ein.

Der Tag danach
Ich schlafe schlecht, wache mehrfach auf und habe Magenschmerzen. Die Heftigkeit meiner Beschwerden lässt mich ziemlich verzweifeln. Ich will, dass es aufhört, will raus aus der Situation. Ich habe Angst. Angst vor dem Leben ohne meine Mutter. Angst vor dem Leben generell. Angst vor dem Tod. Eigentlich habe ich vor allem Angst und gerade jetzt besonders davor, dass die Magenschmerzen nie mehr aufhören und meine Essstörungen wieder voll durchbrechen. Dabei hatte ich es gerade geschafft, die 70 kg Grenze zu überschreiten. Ich will nicht wieder abnehmen. Will keine Essstörungen.

Das Aufstehen wird von heftigen Magenschmerzen begleitet. Ich würge und bin leicht panisch, total überfordert. Begleitet von der Angst es nicht zu schaffen. Angst vor der Beerdigung. Angst vor der Angst. Teufelskreislauf.

Meine Mutter fehlt mir. Und auch wenn sie die letzten Wochen nicht da war, war es anders. Auch wenn klar war, dass sie vermutlich nie wieder kommt, ist der Verlust jetzt, wo unwiderruflich feststeht, dass sie nie wiederkommt, heftiger als gedacht. Wenn ich so alt werde wie meine Mutter, bleiben mir noch 28 Jahre. Ich weiß nicht, warum ich solche Gedanken habe, aber sie sind da. Sieht man sich nach dem Tod wirklich irgendwo wieder oder ist der Tod wie eine Narkose aus der man niemals aufwacht? Will ich das wissen? Oft fürchte ich, dass es nach dem Leben noch schlimmer wird. Ich denke, dass ich dann nur noch Magenschmerzen haben werde und für meine Art, wie ich war, bestraft werden muss. Angst vor dem Leben, Angst vor dem Tod. Neben meinen Essstörungen habe ich Angst vor einer tiefen Depression. Ich bin anfällig für so etwas. Besonders in Extremsituationen. Wird je wieder Normalität einkehren? Habe ich Normalität überhaupt verdient? Wenn es mir schlecht geht, denke ich häufig, dass es mir auch so schlecht geht, weil ich ein schlechter Mensch bin und nehme mir auch jedes Mal vor ein besserer Mensch zu werden. Gelungen ist es mir bisher nie. Zumindest nicht nachhaltig. Vielleicht sollte ich doch noch eine Therapie machen.

Mein Vater sagte gestern, dass er immer dachte und hoffte, vor meiner Mutter zu sterben. Doch das Leben und der Tod scheren sich einen Dreck darum, was wir möchten.

Bevor ich meinen Augenarzttermin wahrnehme, nehme ich Rescue Tropfen, Neurexan und esse natürlich nichts. Ohne Frühstück aus dem Haus. Mein persönlicher Kreislauf ins Verderben kommt ins Rollen. Ich muss aufpassen, dass ich nicht darin versinke.

Am Nachmittag bin ich mit meinem Vater unterwegs. Wir suchen einen Mantel, den er zur Beerdigung tragen kann, finden aber nichts. Wir sind beschäftigt, was gut ist. Zwei Stunden sind wir unterwegs, dann müssen wir den Leuten sagen, wann die Beerdigung stattfindet. Wir versuchen es so distanziert wie möglich, was aber eigentlich nicht möglich ist.

Am Abend bin ich bei den Brüdern. Allein zu Hause zu sein, erscheint mir unmöglich. Zwischendurch geht es mir ganz gut, dann wieder nicht. Als es nach Hause geht, werden meine Magenprobleme schlimmer. Erst das Telefonat mit Agnes entspannt mich wieder.

Zeit sich damit abzufinden
Der Schlaf in der nächsten Nacht ist etwas besser. Die Hoffnung, dass es jeden Tag etwas besser wird, ist gegeben, aber ich bin misstrauisch. Alles erscheint weiter so surreal. Grausames Leben. Fluss ohne Wiederkehr. Schwer zu begreifen, dass meine Mutter nicht mehr da ist, nie wieder da sein wird. Fragen, ob ich alles getan habe für sie, während der Zeit, ob ich alles gesagt habe, ob ich hätte mehr tun könne, sie besser unterhalten, ihr Hoffnungen machen sollen, geistern durch meinen Kopf. Und immer wieder Thank You von Dido.

Am Abend gehe ich mit meinem Vater spazieren. Er hat in der letzten Nacht ebenfalls besser geschlafen. Wir können uns vielleicht etwas vom Schock erholen, doch ein unfassbar schwerer Tag steht uns bald noch bevor. Die Beerdigung. Davor habe ich Angst.

Von Mittwoch bis Freitag ist Agnes bei mir. Die Zeit ist sehr entspannend und tut mir sehr gut. Die Ereignisse bleiben natürlich präsent, aber die Distanz erscheint größer. Ich frage mich, ob ich nicht zu sehr verdränge, ob ich nicht mehr fühlen müsste, nicht mehr trauern. Ich weiß es nicht. Im Moment tut dieses Verdrängen mir anscheinend ganz gut. Um am Freitagabend nach der intensiven Zeit nicht alleine zu sein und in ein Loch zu fallen, besuche ich den Loerz. Ich denke, das ist klug.

Der nächste Tag bereitet mir Sorgen. Der Mann, der die Rede in der Trauerhalle und am Grab hält, besucht uns. Mein Vater erzählt von den letzten sechs Monaten. Dann fragt er, was für ein Mensch meine Mutter war. Zu viel für meinen Vater. Weinend verlässt er das Zimmer. Ich versuche Distanz zu wahren. Es fällt mir schwer. Mein Vater kommt zurück und es werden die letzten Details geklärt. Als der Mann sich verabschieden will, kann mein Vater nicht mehr. Weinend verlässt er erneut das Zimmer. Der Mann versucht ein paar tröstende Worte zu finden, was aber nicht wirklich gelingt. Ich denke, dieses Gespräch, welches sich nur um den Tod meiner Mutter drehte, hat die Endgültigkeit eines Lebens mit meiner Mutter nochmal untermauert. Sie ist nicht kurz weg, sie lebt auch nicht woanders, sie ist tot. Und das zu begreifen ist nicht nur schwer, es ist irgendwie unerträglich. Ich begleite den Mann zur Tür und gehe zurück zu meinem Vater. Er weint noch immer, sagt mehrfach „Scheiße“ und dass er das doch alles nicht will. Ich will das auch alles nicht. Ich will auch keine Beerdigung und erst recht keine Trauerfeier. Das Leben ist nichts für Weicheier. Ich bin leider ein Weichei. Unter anderem deshalb habe ich seit Jahren Probleme mit der Endlichkeit des Lebens.

Später fahren wir zusammen einkaufen. Und auch das ist irgendwie nicht real. Irgendwie kann ich nicht begreifen, dass meine Mutter nie mehr dabei sein wird. Als mein Vater anschließend den Einkaufswagen zurück bringt, denke ich, dass meine Mutter früher zu Hause gewartet hätte. Oder meist an meiner Stelle mit meinem Vater hier war. Mein Vater scheint ähnliche Gedanken zu haben, denn als er zurück kommt, weint er. Das Leben ist beschissen.

Nach dem Einkauf erledigen wir noch einigen Papiekram. Wir schicken Rechnungen zur Krankenkasse, um die Zuzahlungen erstattet zu bekommen. Warum Geld verschenken? Danach sitzen wir noch eine Weile bei mir, bevor mein Vater nach Hause fährt. Kaum ist er dort, ruft er mich an. Weitere Rechnungen über Zuzahlungen sind eingetroffen. Bei der Anzahl an Rechnungen blickt keiner mehr durch. Krank sein ist verdammt teuer. Und kompliziert.

In den nächsten Tagen wird es etwas besser. Ich versuche nicht so intensiv darüber nachzudenken, was passiert ist, was es bedeutet und dass ich meine Mutter nie wieder sehen werde. Nie wieder. Die Tage vergehen, der Tag der Beerdigung rückt näher. Der Tag vor dem ich schon seit Jahren Angst habe. Seit meine Mutter im Jahr 2000 einen Schlaganfall hatte, ist diese Angst immer irgendwie präsent gewesen. Und doch bin ich nicht darauf vorbereitet.

Am Montag hole ich Agnes ab. Gegen Abend geht es mir dann langsam schlechter. Wir lenken uns so gut es geht ab, gehen gegen 01.30 Uhr ins Bett und ich schlafe tatsächlich ein. Aber nicht ganz drei Stunden. Dann wache ich auf, habe Magenprobleme, bin nervös, unentspannt und wandere durch die Wohnung. Auch wenn meine Gedanken nicht bewusst bei der Beerdigung zu sein scheinen, wird die Beerdigung Ursache meines Zustandes sein. Bis etwa acht Uhr wandere und schlafe ich im Minutentakt.

Beerdigung
Nach der gruseligen Nacht, steht das Schlimmste noch bevor. Die Beerdigung. Bevor es soweit ist, machen Agnes und ich einen Spaziergang, weil ich es in der Wohnung nicht aushalte. Dann ist es soweit. Wir holen meinen Vater ab und fahren zum Friedhof. Menschen tauchen auf, sprechen uns ihr Beileid aus und der Moment in die Trauerhalle zu gehen, rückt näher.

Wir sitzen in der ersten Reihe, vor uns die Urne meiner Mutter. Wieder ist alles vollkommen surreal. Das soll es gewesen sein? Ein Leben einfach so beendet, meine Mutter nichts weiter als Staub. Unvorstellbar, doch traurige Wahrheit. Wenn das alles ist, was bleibt, wieso macht man sich dann das Leben so schwer? Wo um Himmels Willen ist da der Sinn?

Während der Trauerfeier kommen mir oft die Tränen und ich muss mich sehr beherrschen. Meinem Vater scheint es ähnlich zu gehen. Das alles wollte ich nie erleben. Agnes hält meine Hand, ich starre zu Boden, an die Decke und zur Urne. „Wir werden Dich vermissen“, steht auf einer Schleife. Ich lese es und werde sehr traurig. Das hier ist alles wahr, es gibt kein Zurück. Wozu das alles?

Als der Träger die Urne an uns vorbei führt und wir ihm folgen müssen, bin ich ziemlich am Ende. Das ist alles zu real, um erträglich zu sein. Das Urnengrab so klein, der Verlust so groß. Nichts scheint zusammen zu passen. Gerne würde ich wissen, wie meine Mutter darüber denkt. Dass sie nie wieder denkt, nichts von alldem sieht und einfach nicht mehr existiert, erscheint mir noch immer unmöglich. Die Urne wird ins Grab gesetzt. Asche zu Asche.

Wir stehen vor dem Grab. Ich starre, kann aber nicht klar denken. Ich mag weder Erde, noch Blüten ins Grab werfen. Mein Vater gibt das Zeichen, dass wir nun gehen müssen. Ich wäre sonst vermutlich ewig hier stehen geblieben.

Nach der Beerdigung
Später sitzen wir alle in einer Gaststätte zusammen. Die Verwandten, Nachbarn, Leute vom Kegelclub und andere Bekannte meiner Mutter. Ich kenne nicht alle Leute, die hier sind. Wir essen etwas, trinken etwas und ich merke, dass ich trotz dieser surrealen Situation etwas entspannter bin. Irgendwann, so hoffe ich, werden wir damit leben können. Irgendwann wird es hoffentlich wieder einen normalen Ablauf geben. Doch es wird nie wieder sein, wie es mal war. Ich hasse Veränderungen.

Mein Vater kann in den nächsten Nächten nicht wirklich schlafen. Ich hingegen schlafe gut. Ich distanziere mich von der Situation so gut es geht. Dennoch denke ich ständig an meine Mutter. Manchmal macht es mich sehr traurig. Manchmal denke ich, dass meine Mutter noch irgendwo ist und ein anderes Mal möchte ich ihr dieses und jenes zeigen, bevor mir bewusst wird, dass ich das für immer vergessen kann.

Sorgen bereiten mir die bevorstehenden Weihnachtstage. Ich frage mich, wie wir dieses überstehen sollen. Wie mein Vater sich wohl in der Wohnung, in der alles an meine Mutter erinnert, fühlt, frage ich mich auch. Es muss furchtbar sein, wenn man nach so langer Zeit seine Partnerin verliert und dann alleine in der Wohnung zurück bleibt. Nein, das Leben ist nichts für Weicheier. Das Leben ist zu begrenzt, um sich entspannt zurückzulehnen und es zu genießen. Zumindest erscheint es mir zu oft so. Teufelskreis Leben.

Manchmal empfinde ich es als Unverschämtheit, vielleicht sogar Frechheit, einfach weiterzuleben. Sicherlich habe ich kaum eine andere Wahl, aber dennoch erscheint es manchmal falsch zu sein. Ungerecht ist das menschliche Dasein allemal. Die Wohnung, in der mein Vater nun alleine lebt, ist voller Erinnerungen. Und doch ist sie nicht mehr als eine Erinnerung, die verblassen wird. Das ist der Lauf der Dinge.

Oft denke ich an Momente, die meine Mutter im Krankenhaus verbracht hat. Den ersten Abend, direkt nach dem Vorfall. Die Hoffnungen und Ängste, sehe Bilder aus dieser Zeit und empfinde Mitleid und Trauer. Frage mich, ob ich nicht viel mehr hätte erzählen sollen, wenn ich bei meiner Mutter war. Ob meine passive Ratlosigkeit ihre Genesung vielleicht beeinträchtigt hat, ob mein Schweigen ihren Lebensmut geraubt hat. Ich sehe ihre Gesten und Blicke, deute sie heute anders. War sie viel klarer als es oft schien? Sah sie meine Resignation und resignierte deshalb auch? War ihre Kommunikations- und Mitteilungsmöglichkeit nur so stark eingeschränkt, ihre Wahrnehmung aber keinesfalls? Habe ich sie im Stich gelassen, zu früh aufgegeben? Werde ich je Antworten finden? Vermutlich, nein, sogar mehr als wahrscheinlich, nicht. Es ist ein Dilemma, welches nur dann zu ertragen ist, wenn ich nicht permanent nachdenke. Und doch kommt die dunkle Weihnachtswolke Stück um Stück näher. Licht außer Sicht.

Während mein Vater täglich am Grab meiner Mutter war, war ich nicht ein einziges Mal dort. Ich frage mich, woran es liegt? Gleichgültigkeit? Aus den Augen, aus dem Sinn? Ich lebe einfach so weiter. Versuche zu verdrängen und zu ignorieren. Und mit jedem weiteren Tag, der vergeht, frage ich, was mit mir nicht stimmt. Mein Verhalten, dieses Abschotten, erscheint mir fragwürdig. Andererseits mache ich das ja nicht nur in diesem Fall so. Wenn ich recht darüber nachdenke, dass ist es mein typisches Verhalten. Ich lebe unter einer Glocke, versuche alles Mögliche von mir fernzuhalten und mich zu distanzieren. Ich glaube, ich bin nicht ganz richtig im Kopf.

Am 23. Dezember holt mein Vater mich ab, um mit mir einkaufen zu fahren. Vorher möchte er aber noch mit mir zum Friedhof, um mir etwas zu zeigen. Und so besuche ich zum ersten Mal das Grab meiner Mutter. Mein Vater stellt ein paar Blumen weg und zum Vorschein kommt der Grabstein meiner Mutter. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde. Und so stehe ich am Grab, betrachte den Grabstein, betrachte die Umgebung und kann und will noch immer nicht glauben, dass das alles wirklich wahr ist. Wieder sehe ich das Lachen meiner Mutter, die Fröhlichkeit der letzten Tage vor dem Vorfall, sehe ihr Leid und ihre Blicke, während des sechsmonatigen Martyriums. Zwei Einstellungen, die unterschiedlicher nicht sein können. Einundsiebzig Jahre. Nein, das ist nicht alt. Früher fand ich das alt. Heute finde ich alles unter achtzig, zumindest, wenn jemand fit wirkt, nicht alt. Verdammte Zeituhr des Lebens. Einfach ausgestellt. Es bleibt alles surreal. Sie kommt nicht wieder. Wir bleiben zurück.

Ich schreibe den Hausarzt an, um die Todesursache meiner Mutter zu erfahren. Mein Vater möchte das.

Weihnachten
Zum ersten Mal Weihnachten ohne meine Mutter. Es ist nichts weihnachtlich hergerichtet, nichts erinnert wirklich an Weihnachten außer das Datum, das Fernsehprogramm und die geschmückte Umwelt. An Weihnachten ist die Stimmung oft etwas merkwürdig, doch dieses Jahr ist es noch viel schlimmer. Leerer. Wo früher meine Mutter war, ist jetzt eine Lücke. Geschenke, die sonst unter dem Baum lagen, gibt es nicht mehr. Früher gab es reichlich zu essen, heute gibt es wenig und hat nichts mit Weihnachten zu tun. Wir essen, weil wir essen müssen und sitzen ratlos und niedergeschlagen da. Gedrückte Stimmung. Ach, würde weglaufen doch nur etwas bringen. Dann gibt es auch schon die erste Bescherung ohne meine Mutter. Der Teil ist fast wie früher, aber doch ganz anders. Schnell ist es vorbei und dann sitzen wir wieder ratlos in der Wohnung und es fühlt sich alles falsch an. Fremd. Schweigen. Ratlosigkeit. Resignation. Dann muss ich gehen. Raus aus der Wohnung, zurück in mein Leben. Was anderes ist auch gar nicht möglich und zu sagen gibt es vielleicht so viel, doch gesagt wird wenig.

Auch die beiden Weihnachtstage sind bedrückend. Zeit zieht sich, wir besuchen und gegenseitig und wollen eigentlich nur, dass die blöden Feiertage vorbei sind. Spaziergänge. Friedhof. Zeit bewegt sich vor.

Die letzten Tage eines schlechten Jahres
Die Tage vergehen. Die neue Lebenssituation gefällt uns natürlich nicht. Mein Vater geht jeden Tag zum Friedhof, ich meide den Friedhof. Obwohl wir eigentlich schon seit Juni ohne meine Mutter sind, fühlt es sich weiter unwirklich an. Es fällt weiter schwer zu glauben, dass meine Mutter tot ist. Aber das war es, sie kommt niemals zurück.

Gelegentlich werfen wir etwas weg. Ihre Zahnbürste zum Beispiel. Im Gegensatz zu meinem Vater ist dieses entsorgen für mich scheinbar wichtig. Ich will keine Erinnerungen wegschaffen. Ich brauche das einfach, damit es weitergehen kann. Kaltes Abwickeln unabdingbarer Notwendigkeiten.

Am 30. Dezember ruft der Arzt an. Er sagt, dass es keine Obduktion gab und davon ausgegangen werden muss, dass meine Mutter an Herzversagen gestorben ist. Ich finde das alles traurig und so diskutieren mein Vater und ich mal wieder darüber, ob meine Mutter noch leben könnte, wenn sie regelmäßig zu den Untersuchungen gegangen wäre. Mein Vater meint, dass meine Mutter es wohl gewusst hat, wie schlecht es um sie steht, weil sie zuletzt keine Untersuchungen mehr wollte und auch nicht mehr wirklich spazieren gehen wollte. Er meint, dass es ihr schon sehr schlecht gegangen sein muss. Ich weiß nicht, mir ist das nicht wirklich aufgefallen. Und wäre sie nicht, wenn es ihr auffällig schlecht gegangen wäre, erst Recht zum Arzt gegangen? Oder wollte sie wirklich nicht mehr leben? Und war sie in ihren letzten Tagen deshalb so zufrieden, vielleicht sogar glücklich, weil sie wusste, dass sie bald stirbt? Ich kann es mir nicht vorstellen. Diese ganzen Gedankenspiele quälen nur und führen zu keinem Ergebnis, denn außer meiner Mutter kennt niemand diese Wahrheit. Und sie wird sie uns nicht verraten.

Die Zeit ohne meine Mutter
Mittlerweile sind gut zwei Monate vergangen. Meinem Vater geht es mal besser, dann wieder wirkt er sehr niedergeschlagen. Er trennt sich von einigen Sachen, was ihm teilweise sehr schwer fällt, was aber vermutlich sein muss, um eine gewisse Distanz zu bekommen. Täglich geht er zum Friedhof. Ich mache das weiterhin nur selten. Friedhofsbesuche sind einfach nicht mein Ding. Zu hilflos stehe ich dann vor dem Grab, zu wenig hilft es mir und meiner Mutter erst recht nicht.

Es ist mittlerweile durchaus leichter, zumindest empfinde ich es so. Ich denke oft an die Fahrten in die verschiedenen Krankenhäuser, sehe Bilder aus der Vergangenheit, frage mich oft, wie das alles sein kann. Besonders vor dem Einschlafen kommen diese Bilder. Es tauchen Fragen auf, ob ich wirklich genug getan habe für meine Mutter. Ich glaube oft, dass ich nicht genug mit ihr geredet habe, innerlich oft resignierte und meine Mutter all das spürte und ihr Lebenswille dadurch sank. Ja, es ist mir durchaus bewusst, dass ich das alles nicht wissen kann, dass es wenig Sinn macht, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Aber dennoch sind solche Gedanken da. Bin ich ein schlechter Sohn? Ist es richtig, dass ich so distanziert lebe, wie ich es tue? Verdränge ich zu viel oder ist es gesund? Sind meine Gedanken an meine Mutter, an diese Zeit und an das Leben vor der Zeit normal oder Folge dessen, dass ich mich nicht gut verhalten habe? Bin ich kalt? Ich weiß es nicht. Es ist jedenfalls oft alles total unwirklich. Und der Gedanke, nie Antworten zu finden und die eigene Sterblichkeit vor Augen zu haben, ist auch nicht gerade förderlich. Alles erscheint bizarr und je mehr ich darüber nachdenke, desto unwirklicher und zugleich sinnloser erscheint es. Das ist alles, was von einem bleibt. Eine Grabstelle. Weiter nichts. Und wenige Generationen weiter, weiß niemand mehr, dass man existiert hat. Für mich macht das keinen Sinn.

Meine Mutter starb mit 71. Ich werde auch vermutlich nicht viel älter. Also bleiben mir noch etwa 28 Jahre. Viel Zeit. Und doch sehr wenig Zeit. Zu wenig. Zu wenig, um zu glauben, dass alles schön werden kann. Verdammt.

Vier Monate
Es sind tatsächlich schon vier Monate vergangen, seitdem meine Mutter verstorben ist. Noch immer erscheint es manchmal derart unrealistisch, dass es sich nicht beschrieben lässt. Das Leben nach dem Tod meiner Mutter geht einfach weiter. Wir haben mittlerweile die meisten ihrer Sachen abgegeben, vieles wegwerfen müssen. Das Leben muss ja weitergehen. Mein Vater geht weiter sehr oft zum Friedhof. Ich frage ihn nicht, ob er jeden Tag geht. Zweimal war ich bisher alleine dort. Freitags kauft mein Vater immer Rosen und stellt diese, zusammen mit einer Kerze, bis zum Sonntag bei meiner Mutter hin. Die letzten Freitage sind wir gemeinsam zum Friedhof gegangen. Es bleibt trotzdem alles fremd und fühlt sich komisch an.
Dennoch ist es gut, dass ich es oft verdrängen kann, dass ich nicht permanent an all das Leid und den Tod denken muss. Doch noch oft habe ich Bilder aus der Zeit, in der meine Mutter in den verschiedenen Einrichtungen lag, vor mir. Spüre die Situationen, sehe manches ganz klar vor mir und frage mich, wie das alles sein kann, ob wir hätten etwas verhindern könne, irgendwas für meine Mutter hätten tun können. Ob ich nicht zu sehr mit meinem Leben beschäftigt war, anstatt mich um meine Mutter zu kümmern. Haben wir das Bestmögliche für sie getan? Unsinnige Fragen, werden sie doch für immer unbeantwortet bleiben. Bleiben werden neben der Erinnerung an meine Mutter, leider auch die intensiven und deprimierenden Erinnerungen und Gefühle der letzten Monate. Vielleicht werden die Erinnerungen weniger, vielleicht auch nicht. Die Vorstellung, wie es meinem Vater damit geht, ist in jedem Fall mies. Aber das Leben muss weiter gehen. Das Leben kann keine Rücksicht auf Einzelschicksale nehmen. Das Leben hat keine Zeit für Sentimentalitäten. Da muss der Mensch schon selber mit klarkommen.

Wir werden mit all dem klarkommen, weil wir es müssen. Wir haben keine Wahl. Nicht in diesem Punkt. Und am Ende holt uns alle die Endlichkeit ein. So viel steht jedenfalls fest.

Neue Probleme
Seit einiger Zeit hat mein Vater Magenprobleme. Ob es wegen der Situation oder es ein körperliches Problem ist, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls müssen die Schmerzen schon belastend sein, denn sonst würde er kaum zum Arzt gehen. Dieser verschreibt ihm Omeoprazol. Das Standardmedikament. Da nach einer Woche keine Besserung eintritt, verschreibt er MCP Tabletten. Auch diese bleiben wirkungslos.

Der Geburtstag meines Vaters am Ostersonntag ist irgendwie bedrückend. Passend dazu lässt mein Vater irgendwie nach. Er wirkt antriebslos, leer, müde, ausgelaugt. Ob es mit seinem Geburtstag, der zum ersten Mal nach vielen Jahren ohne meine Mutter stattfindet, zu tun hat, oder ob die Magenschmerzen verantwortlich sind, weiß ich nicht. Mein Vater redet ja nicht wirklich über seine Probleme.

Weil auch die Tabletten nicht wirken, bekommt mein Vater einen Termin zu einem Magen CT. Es ist der 30. April 2014. Die Untersuchung soll am 05. Mai stattfinden. Wir machen einen Spaziergang als mein Vater sagt, dass sein Magen sich gebläht anfühlt. Ich versuche mehr zu erfahren, doch wirklich kann oder will mein Vater nichts dazu sagen. Erst nach einer Weile sagt er, dass er täglich Aspirin nimmt, um die Schmerzen überhaupt zu ertragen. Das finde ich sehr bedenklich und ab sofort mache ich mir echte Sorgen. Das klingt nicht nach einer Kleinigkeit. Ich fürchte einen Tumor. Im letzten Jahr war mein Vater zwar noch zu einer Magen- und Darmspiegelung, aber Tumore wachsen schnell oder vielleicht ist er auch an einer Stelle, wo die Spiegelung nichts sehen konnte. Ich bin beunruhigt und finde, dass fünf Tage bis zur Untersuchung verdammt lang sind.

Der nächste Schock
05. Mai 2014. Nach der Untersuchung kommt mein Vater direkt zu mir. Sein Gesichtsausdruck und mein Pessimismus lassen nichts Gutes erahnen. Gleich muss er zur Besprechung beim Hausarzt. Der Begriff Krebs fällt und es dauert eine Weile bis es möglich ist, alle Informationen zu sortieren. Eigentlich gelingt dies erst, nachdem er bei meinem Hausarzt, seiner hat Urlaub, war. Mein Vater hat eine große und eine kleine Zyste auf einer Niere. Und dazu wurde etwas an der Bauchspeicheldrüse entdeckt, was nicht gut ist. Der Hausarzt konnte es nicht genau erkennen und rief im Krankenhaus, wo die Untersuchung stattfand an, um mehr zu erfahren, was sich allerdings als schwierig herausstellte. Im Krankenhaus gibt es ein Computerproblem, weshalb man nichts Genaues sagen konnte. Ein Arzt sagte dann gegen Ende des Gesprächs, dass es sich wohl um einen bösartigen Tumor handelt.
Ich weiß nicht, ob man das auf dem Röntgenbild wirklich sehen kann. Ich weiß auch nicht, ob man anhand eines Röntgenbildes zwischen einem gutartigen und einem bösartigen Tumor entscheiden kann. Ich weiß nur, dass man so leichtfertig weder mit Diagnosen, noch mit Patienten umgehen sollte. Sollte man nicht mit den Patienten reden, statt sie sofort nach der Behandlung lediglich mit dem Hinweis, dass etwas an der Bauchspeicheldrüse nicht in Ordnung ist, zum Hausarzt schicken? Haben Ärzte keine Fürsorgepflicht? Sind Patienten nur durchlaufende Kosten oder Objekte. Es sieht fast so aus.

Nachdem mein Vater vom Arzt zurück ist und mir unter Tränen von der Diagnose erzählt, wird mir schlecht und ich muss zur Toilette. Und obwohl die Diagnose noch nicht gesichert ist und es ja auch nicht so schlimm sein muss, bricht für mich meine kleine Welt erneut zusammen. Erst meine Mutter und nun das. Da sag noch mal einer, dass Leben ist schön.

Weil es schwer fällt, über all das zu reden und wir es weder wahrhaben wollen, noch ändern können, renovieren wir gemeinsam meine Wohnung, fahren in den Baumarkt und versuchen zu verdrängen, was nicht wirklich zu verdrängen ist. Mein Vater hat während der Zeit öfter Tränen in den Augen. Ich frage mich, wie hart so eine Diagnose, auch wenn noch nicht gesichert, sein muss. Vor allem, wenn die Frau mit der man früher alles teilen konnte, nicht mehr da ist. Wie allein und verzweifelt muss man dann wohl sein?

Als mein Vater später gegangen ist, kommen mir die Tränen. Ich kann es weder steuern noch stoppen. Es ist einfach zu viel für mich. Und wieder zeigt das Leben seine finstere Fratze. Und wieder bin ich hilflos ausgeliefert. Sind wir hilflos ausgeliefert. Völlig aufgelöst und überfordert nehme ich Neurexan und Bach Rescue Tropfen. Versuche etwas zu essen zu machen. Doch Panik und Verzweiflung haben Besitz von mir ergriffen und es scheint sich, wenn auch in anderer Form, das Leid vom letzten Jahr einfach fortzusetzen. Nicht ganz fünf Monate nach dem Tod meiner Mutter. Will sie ihn zu sich holen? Ein neuer Alptraum scheint zu beginnen. Folgt dem letzten schlechten Jahr nun ein weiteres? Gerät das Leben erneut aus den Fugen? Ich hoffe nicht, fürchte es aber.

Später telefoniere ich mit Agnes, die den Vorschlag macht, mit Petra rauszugehen, weil sie merkt, dass ich mit der Situation nicht klarkomme. Ich indes heule nur. Hoffentlich ist das kein Selbstmitleid, was mir durchaus zuzutrauen ist. Nein, ich weine wegen meinem Vater und weil Agnes für mich da ist. Ich weine, weil ich ihr Stress bereite und weil mich das alles überfordert. Meine kleine Welt droht erneut unterzugehen. Verheult rufe ich Petra an, die wenige Minuten später bei mir ist. Ich esse eine Kleinigkeit, bekomme aber nicht viel runter, dann machen wir einen Spaziergang.

Der Tag danach
Zwar schlafe ich gut, wache aber gegen 07.00 Uhr auf. Und kaum bin ich aufgewacht, dreht sich die Spirale aus Angst und Verzweiflung. Mir ist schlecht und meine Wohnung erscheint mir wie ein Gefängnis. Wieder einmal scheint mir das Leben zu zeigen, wie sinnlos es doch ist. Um acht muss mein Vater zur Blutabnahme und anschließend zur Ultraschalluntersuchung. Mir indes sind positive Gedanken schienbar unmöglich. Ich bin müde und kaputt, doch zu unentspannt weiter zu schlafen. So ist es wenig verwunderlich, dass ich aufstehe und zuerst Neurexan nehme. 6 Tropfen. Erscheint mir zwar unverhältnismäßig wenig zu sein, aber der Tag hat ja auch gerade erst angefangen.

Um kurz nach acht steht mein Vater vor der Tür. Er war gerade zum Blutabnehmen und da die Ultraschalluntersuchung erst um neun ist, wartet er bei mir. Die Stimmung kann als bedrückt bezeichnet werden. Er sagt, dass ich niemandem davon erzählen soll, weil ja noch nichts sicher ist. Ich sage zu, obwohl doch schon Agnes und Petra Bescheid wissen. Ich muss immer alles teilen. Irgendwie. Aber das geteiltes Leid, halbes Leid ist, halte ich für unwahrscheinlich. Mein Vatersieht geknickt aus. Und irgendwie auch ungesund. Ob ich mir das nur einbilde, oder ob es wirklich so ist, spielt eigentlich keine Rolle. Eine Weile sitzen wir angespannt im Wohnzimmer. Ich sehe ihm an, dass er Angst vor der Untersuchung hat, doch kann ich nichts sagen, was ihn eventuell aufbauen könnte. Also schweige ich.

Nachdem er gegangen ist. Lege ich mich aufs Bett und rufe Agnes an. Ich werde müde und wir beenden das Gespräch, damit ich etwas schlafen kann, was aber nur phasenweise gelingt. Ich friere. Nach einer Stunde stehe ich wieder auf, weil ich Magenschmerzen habe und nicht wirklich entspannen kann. Nein, das ist alles nichts für mich. Ich will doch nur, dass wir ein paar Jahre Ruhe haben. Wie soll ich so ein Freund des Lebens werden, wenn Leben immer wieder Leiden bedeutet?

Ergebnisse
Da ich auch einen Termin beim Arzt habe, gehe ich zusammen mit meinem Vater rein, um seine Ergebnisse und das weitere Vorgehen zu erfahren. Zunächst ist der Arzt etwas beruhigt, da alle Blutwerte in Ordnung sind und weil er beim Ultraschall gesehen hat, dass das, was an der Bauchspeicheldrüse ist, glatt und nicht gezackt ist, geht er eher davon aus, dass es kein bösartiger Tumor ist. Das klingt zumindest für den Moment gut. Zur weiteren Untersuchung wird er in die Städtischen Kliniken in Dortmund überwiesen. Dort wird am kommenden Montag das weitere Vorgehen besprochen.

Erst später erfahre ich von meinem Vater, dass er schon gestern wusste, dass der Arzt keinen bösartigen Tumor vermutet. Nicht auschließen kann, aber nicht vermutet. Hätte er mir ruhig gestern schon sagen können, um mich etwas zu beruhigen. Sei´s drum.

Termin in den Städtischen Kliniken
Wie zu erwarten bin ich kurz vor dem Termin, zu dem ich meinen Vater begleite, nicht wirklich entspannt. Sicherlich waren die Ergebnisse vom Hausarzt positiv, doch was es wirklich bedeutet, weiß man nicht.

Pünktlich erscheinen wir zu dem Termin, der in der Abteilung CPM stattfindet. CPM bedeutet Chirurgisches Patienten Management, erinnert mich an QM und scheint für lange Wartezeiten zu stehen. Denn es dauert exakt 90 Minuten bis mein Vater endlich an der Reihe ist. Dieses Patienten Management scheint, zumindest was Zeiten angeht, ein Flop zu sein. Da mein Vater alleine zum Arzt möchte, warte ich.
Der Arzt kann auf dem CT nicht wirklich etwas erkennen, weshalb er ein neues CT anordnet. Außerdem wird meinem Vater Blut abgenommen. Es scheint keine große Eile zu bestehen, eine Operation ist dennoch angesagt, um herauszufinden, was da bei meinem Vater an der Bauchspeicheldrüse wächst. Vor der Operation soll mein Vater noch gründlich untersucht werden. Magen, Herz und so weiter. Ich begrüße diese Maßnahmen und mein Vater sieht nach dem Gespräch wesentlich entspannter als noch vor dem Gespräch aus. Der nächste Termin ist übermorgen. Es bleibt zu hoffen, dass es dann keine Ergebnisse gibt, die alle Hoffnungen zunichtemachen.

CT
Mittwoch, 14. Mai 2014. Erneut sind wir in den Städtischen Kliniken. CT-Untersuchung. Mein Vater muss einen Liter Kontrastmittel trinken, bekommt eine Spritze in den Arm, über welche später erneut Kontrastmittel gespritzt wird, und muss dann einen weiteren Liter trinken. So vergeht eine Menge Zeit, die ich nutze, um mich umzusehen. Es ist hier wohl die Krebsstation und manche der Leute hier sehen deutlich gezeichnet aus. Hoffentlich bringt die Untersuchung Gewissheit, dass mein Vater kein Krebspatient wird. Die Untersuchung dauert keine zehn Minuten, anschließend müssen wir aber noch dreißig Minuten warten, ob es irgendwelche Nebenwirkungen vom Kontrastmittel gibt. Es gibt Durchfall.
Am Ende waren wir fast zwei Stunden im Krankenhaus und mir scheint es so als würde das Leben eine einzige Krankheit sein. Ich habe es so satt so viel Zeit in Krankenhäusern zu verbringen. Morgen um 14.00 Uhr soll mein Vater anrufen, nach den Ergebnissen fragen und das weitere Vorgehen besprechen.

Neuer Alptraum?
Der Tag hat kaum begonnen, da ruft mich mein Vater an, um zu sagen, dass er morgen früh zur Besprechung ins Krankenhaus muss. Mich beunruhigt das sehr, weil ein früher Anruf vom Krankenhaus und der frühe Termin darauf schließen lassen, dass Eile geboten ist. Unverzüglich verfliegt die gleichmütige Entspannung und es entsteht eine neue Stresssituation. Ich kann an nichts anderes denken als ein schlechtes Untersuchungsergebnis und die daraus resultierende Eile. Anspannung legt sich über mich und droht mich zu verspeisen. Befinden wir uns schon wieder in einem Alptraum, der kein gutes Ende für uns bereit hält? Ich hoffe nicht.

Nächster Termin im Krankenhaus
In der Nacht vor dem Termin schlafe ich unruhig. Die Situation stresst mich und bereitet mir Unbehagen. Die Ungewissheit und das mögliche Urteil Krebs taugen nicht für erholsamen Schlaf.

Bereits zum dritten Mal in dieser Woche machen wir uns auf den Weg ins Krankenhaus und warten noch immer auf eine Art Entwarnung. Doch diese wird es nicht geben, denn der Tumor wächst ins Gewebe, der Arzt geht von Krebs aus und spricht von einer großen Operation. Eine Art Entwarnung kann man das nicht nennen. Im Gegenteil. Alle Hoffnung scheint vergebens. Der nächste Termin wird der 26.05. Da finden letzte Untersuchungen vor der OP, welche für den 28.05. geplant ist, statt. Wir nehmen es möglichst gefasst und distanziert hin. Was wirklich in meinem Vater vorgeht vermag ich nicht zu beurteilen.

Später auf der Rückfahrt sagt mein Vater mir, wo ich Geld finde, falls er nach der OP nicht wieder erwacht. Die Sterbeversicherung liegt bereit und dann kämpft er mit seinen Tränen. Ich sage ihm, dass ich das alles nicht brauche, weil er ja nur für zehn Tage ins Krankenhaus muss. Er beruhigt sich wieder und wir fahren einkaufen, um uns abzulenken. Zehn Tage können wir nun maximal mit dem Verdrängen verbringen, dann wird hoffentlich alles gut oder gar nichts wird mehr gut. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wenn es so deprimierend wie das Leben vor dem Tod ist, dann besser nicht.

Verdrängung funktioniert nicht
Die nächsten Tage versuchen wir so weiterzuleben, wie bisher und so zu tun als wäre nichts. Ich denke nicht, dass es funktioniert. Mein Vater erzählt von den Dingen, die er, nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen ist, tun wird. Alles so als wäre es nur ein Routineeingriff. Ich weiß nicht, ob er es wirklich so sieht oder das nur sagt um mich und/oder sich zu beruhigen. Fragen möchte ich aber nicht, weil es manchmal sicherer erscheint, nicht alles zu wissen. Mir geht es damit scheinbar dennoch nicht gut. Denn als die Tage länger werden, das Wetter sich spontan bessert und alles nach Sommer aussieht, fühle ich keine Freude oder gar Optimismus. Im Gegenteil. Das schöne Wetter legt eine Decke aus Depression und Ratlosigkeit über mich. Ich verliere scheinbar jeglichen Antrieb. Möglicherweise hat es damit zu tun, dass bei schönem Wetter der Alptraum mit meiner Mutter begann. Schönes Wetter hat derzeit nichts Schönes. Es macht mir Angst vor der Zukunft und immer wieder erdrückt mich der Gedanke, dass es auch dieses Mal nicht gut ausgeht. Und was dann?

2 Tage bis zur OP
Je näher der Termin rückt, desto angespannter wird es. Die Erinnerungen an die Monate mit meiner Mutter werden intensiver. Alles, was sonst in irgendeiner Schublade tief in mir schlummert, droht herauszukommen. Ich schließe die Schublade immer wieder, doch die Erinnerungen finden immer neue Wege. Und wenn es mal keine Erinnerungen gibt, ist ja immer noch die Angst da, welche mich auf die Gefahr hinweist. Fahre ich irgendwelche Strecken, die ich mit der Fahrt zum Krankenhaus zu meiner Mutter verbinde, fühle ich mich manchmal völlig hilflos, fast Ohnmächtig. Läuft im TV eine Krankenhausserie kann es vorkommen, dass ich mich gefangen fühle. Es ist wie eine Schlinge, die sich mehr und mehr um meinen Hals zieht.

Heute fahre ich mit meinem Vater zu den Voruntersuchungen für die OP. Wieder werden wir Zeit in einem Krankenhaus verbringen und ich fürchte, dass es lange Zeit so weiter geht. Als meine Mutter zuletzt ins Krankenhaus musste, kam sie nicht wieder. Und die Gefahr, dass es bei meinem Vater ähnlich endet, ist in meinen Augen alles andere als surreal. Der Fluch des Lebens ist eng verknüpft mit dem Fluch des Sterbens.

Der Termin im Krankenhaus verläuft zunächst planmäßig. Nach etwa dreißig Minuten Wartezeit wird mein Vater von einem Arzt zur Besprechung abgeholt. Dieser kann weder sagen, dass es Krebs ist, noch kann er sagen, dass es keiner ist. Er weiß nur, dass es eine große, aufwändige Operation wird und mein Vater 14 Tage im Krankenhaus bleiben muss. Rund um den Tumor, der etwa 5,5 cm groß ist, wird weiteres Gewebe abgeschnitten, um sicher zu gehen, dass da nichts zurück bleibt. Auch wenn es gutartig ist, ist die OP wichtig, weil aus gutartigen Tumoren jederzeit bösartige Tumore werden können und die Schmerzen, die mein Vater derzeit hat, nicht von alleine weggehen werden. Der OP Termin wird allerdings um sechs Tage verschoben. Es sollen heute weitere Untersuchungen gemacht werden. Dazu werden wir nun in die Kardiologie geschickt, wo ein Belastungs-EKG und ein Lungenfunktionstest gemacht werden sollen. Wir melden uns an, nehmen Platz und warten und warten und warten. Dann kommt eine Frau, fragt, ob wir auf den Lungenfunktionstest warten und sagt, dass wir uns hätten anmelden sollen. Wir sagen, dass wir das längst getan haben. Es wird hektisch, das Chaos scheint seinen Lauf zu nehmen und dann, wir haben nicht mehr damit gerechnet, wird der Test durchgeführt. Anschließend soll mein Vater Platz nehmen bis er aufgerufen wird, um das Belastungs-EKG durchzuführen.
Weil wir nach einer halben Stunde ungeduldig werden, fragt mein Vater bei der Frau, die unsere Anmeldung schon nicht weitergegeben hat nach, wann er an der Reihe ist, worauf sie ihm mitteilt, dass es zu voll ist und er heute gar nicht mehr dran ist. Es wäre wirklich toll gewesen, wenn sie das von sich aus gesagt hätte und uns nicht blöd hier sitzen lassen hätte. Bleibt zu hoffen, dass die nicht so operieren, wie sie Termine managen.
Wir gehen zurück zur CPM-Abteilung und teilen unsere Erlebnisse mit. Die Mitarbeiterin scheint entsetzt und sagt, dass die Untersuchungen dann am Tag vor der OP stattfinden werden. Mein Vater ist sichtlich genervt. Vor allem als er erfährt, dass er am Tag vor der OP bereits um 08.30 Uhr da sein soll. Wäre ich an seiner Stelle auch.

Es ist wahrlich eine angespannte Situation, die wir hier vorfinden. Ungewissheit über den Befund, Ungewissheit über den Ausgang der OP, Ungewissheit über die Zeit nach der OP und die Zukunft überhaupt. Alles erscheint zweifelhaft. Mein Vater überspielt alles sehr geschickt. Er redet von der Zeit nach der OP und so als wäre danach alles wie eh und je. Das wäre wünschenswert, aber bei so einer OP, egal, ob der Tumor gut- oder bösartig ist, ist es nicht sicher, dass danach alles ist wie es immer war.

Das ganz normale Chaos
Einen Tag vor der geplanten OP soll mein Vater um 08.30 Uhr im Krankenhaus sein, um alles, was vor der OP erledigt werden muss, zu erledigen. Wir sind pünktlich und dürfen warten. Es ist mittlerweile nach 00.09 Uhr als mein Vater zum Gespräch mit einem Arzt gerufen wird. Dieser spricht von einem großen Tumor, der aber auch eine Entzündung sein kann. Genaues weiß man erst, wenn die Proben eingeschickt wurden und die Befunde vorliegen. Möglicherweise muss die Bauchspeicheldrüse komplett entfernt werden, was aber versucht wird zu vermeiden. Nach dem Gespräch wird meinem Vater Blut abgenommen, ein EKG gemacht und wir sollen zum Gespräch mit dem Narkosearzt. Um 11.30 Uhr wird dann das Belastung-EKG gemacht, anschließend soll er sich auf der Station anmelden.
Es ist 10.10 Uhr als wir uns anmelden, um mit der Narkoseärztin zu sprechen. Auf dem Flur und im Wartebereich ist es total voll. Wir können eine halbe Stunde rausgehen, weil es dauern wird. Ich weise auf den 11.30 Uhr Termin hin. Ob es klappt, wird sich zeigen. Als wir um 10.45 Uhr wieder zurück sind, sagt man uns, dass es mit dem Termin klappen wird, weil mein Vater eher drangenommen wird. Um 11.15 Uhr fragen wir nach und erfahren, dass mein Vater als nächster dran kommt. Um 11.25 Uhr ist er an der Reihe, weist darauf hin, dass er bald zum EKG muss und darf sofort wieder gehen. Die Narkoseärztin möchte erst das Ergebnis vom Belastungs-EKG haben, bevor sie mit meinem Vater spricht. Großartig. Die Wartezeit hätten wir auch woanders verbringen können.
Das Belastungs-EKG findet sofort statt, dann geht es zurück zur Narkoseärztin. Diese sagt, dass die Unterlagen von meinem Vater bearbeitet werden und wünscht ihm alles Gute. An einem Gespräch besteht offensichtlich kein Interesse mehr. Alles sehr verwirrend. Und so stehen wir ratlos und durchaus genervt auf dem Flur. Dann wird mein Vater völlig überraschend in ein anderes Zimmer gerufen. Dort spricht er mit einer anderen Narkoseärztin, welche ihm die OP erklärt. Sie erzählt von einem Schlauch der in seinen Rücken gemacht wird, um darüber Schmerzmittel zuzuführen. Von einem Schlauch im Hals, einem in der Schulter und einem Blasenkatheter. Dazu eine Magensonde. Die Operation ist sehr aufwendig und dauert mehrere Stunden. Vermutlich wird meinem Vater nun erst klar, was da auf ihn zukommt. Nach dem Gespräch sieht er jedenfalls erschrocken und durchaus niedergeschlagen aus. Auch ich bin erschrocken, was für die OP alles nötig ist. Nach der OP kommt er wohl zwei bis drei Tage auf die Intensivstation. Dennoch, so sagt man ihm, heilt alles im Normalfall schnell zusammen. Normal ist ein Begriff, der zu einer solchen Situation nicht zu passen scheint.

Wir gehen auf die Station. Zimmer 722 wird heute Nacht seine Unterkunft sein. Ob er nach der OP wieder hier landet, weiß wohl niemand. Sollte er, wie angekündigt, nach der OP einige Zeit auf der Intensivstation liegen, wird er vermutlich im Anschluss auf ein anderes Zimmer verlegt. Wo ich nach der OP anrufen kann, um zu erfragen, wie es gelaufen ist, erfahre ich nicht wirklich. Dafür hinterlasse ich meine Nummer und hoffe, dass ich nicht angerufen werde, denn wenn ich angerufen werde, dann sicher nicht, weil alles gut verlaufen ist. Mein Vater möchte nicht, dass ich ihn in den ersten Tagen besuche. Auf der einen Seite verständlich, auf der anderen befremdlich. Erst am Wochenende soll ich ihn besuchen. Sobald er kann, ruft er mich an. So werde ich vermutlich vor Freitag nichts mehr von ihm hören. Nur noch eine Nacht bis zur großen OP. Hoffentlich geht alles gut.

OP
Während ein Teil von mir fürchtet, dass mein Vater bei der OP stirbt, glaubt der andere, dass nach der Operation alles gut sein wird und wir eine Zeit unbeschwert und frei weiter leben können. Beide Teile sollen sich irren.

Es ist fast 13.00 Uhr als mein Mobiltelefon klingelt. Der Chefarzt persönlich. Er klingt sehr klar und unaufgeregt als er mir von der Operation berichtet. Es ist schnell zu erkennen, dass er keine guten Nachrichten hat. Der Tumor ist groß und konnte nicht ganz entfernt werden. Die komplette Bauchspeicheldrüse und noch mehr, ich bin zu durcheinander, um alles zu behalten, hätte entfernt werden müssen. Das Risiko viel zu groß. Der Tumor aggressiv und schnell wachsend, hatte schon etwas abgeklemmt, unterbrochen oder zugeschnürt. Es tut ihm Leid, mir keine bessere Nachricht mitzuteilen. Meinem Vater will er von dem Ausmaß, er meint der Hoffnungslosigkeit, nichts sagen. Warum nur, sagt er es dann mir? Warum muss ich es wissen? Eine Chemotherapie wird folgen. Die Hoffnung, dass sie anschlägt ist da, aber gering. Die Lebenserwartung liegt bei einem Jahr oder keinem Jahr. Ich bin zu geschockt, um es zu verstehen. Der Chefarzt möchte mit mir sprechen in den nächsten Tagen. Vielleicht möchte er auch mit uns sprechen. Alles bricht zusammen. Mein Leben gerät vollends aus den Fugen. Wie soll ich nur mit meinem Vater umgehen? Ihn belügen? Ihm vorgaukeln alles wird gut? Und was planen wir? Soll ich ihm beim Sterben zusehen? Folgt ein langsamer quälender Tod, wie bei meiner Mutter? Monate des Leidens oder gibt es noch normale Tage, die einen glauben lassen, es wäre alles normal? Und was ist normal? Die Chemotherapie hat wohl wenige Nebenwirkungen. Haarausfall ist keine davon. Soll das jetzt tröstlich sein? So heißt es dann am Ende. „Ja. Er ist qualvoll gestorben, aber seine Haare waren toll.“? Was für ein Schwachsinn.

Die Schmerzen sollen erträglich sein, sagt der Arzt, als ich ihn danach frage. Immerhin etwas. Doch wo zum Teufel hat das alles seinen Sinn? Angekündigter Tod. Streben auf raten. Knapp über 70 Jahre. Der Arzt sagt, dass mein Vater sonst ja in guter Verfassung sei, aber der Krebs übermächtig. Mein Vater brauchte nie Medikamente, war nie wirklich krank und nun endet sein Leben mit Krebs. Nun ist der Krebs endgültig in unserer Familie angekommen. Und schon fürchte ich, dass ich ihn auch eines Tages bekomme und frage, ob man es früher hätte erkennen können. Nein. Diesen Krebs bemerkt man erst, wenn er Schmerzen verursacht und groß ist. Dann ist es meist zu spät. Vorher kann man ihn wohl nicht sehen. Er sitzt an äußerst ungünstiger Stelle und ich muss mich damit abfinden, dass die positivste Mitteilung die ist, dass die Chemotherapie in der Regel gut vertragen wird. Man pumpt Gift in einen Menschen, dass möglicherweise den Krebs nicht besiegt, aber wenn es dumm läuft Krebs verursachen kann. Wenn das mal nicht grotesk ist. Aber immerhin wird es gut vertragen, wenn man vergiftet wird. Das ist echt krank.

In den nächsten Tagen werden wir reden. Alles scheint sich zu wiederholen. Gespräche mit Ärzten. Doch dieses Mal bin ich der Einzige, um den es nicht geht. Wie soll ich mich verhalten? Was ändert sich, wenn einem dermaßen bewusst wird, dass die Zeit ausgeht? Ändert sich was? Schließlich weiß man doch immer, dass die Zeit begrenzt ist und am Ende gar nichts von einem übrig bleibt. Und dennoch lebt man, zumindest ich lebe so, als wäre Zeit alles, nur nicht endlich.

Da ich im Büro bin und eine Kundin während des Gesprächs anwesend war, muss ich mich zusammenreißen. Ich schreibe der Kundin ihre Bewerbungen und schließe anschließend das Büro ab. Ich bin wütend, werfe mehrfach einen Stift. Dann weine ich. Weine, weil ich bald keine Verwandten mehr habe. Weine, weil ich nicht weiß, wie das dann weitergehen soll. Weine, weil ich Mitleid mit meinem Vater habe. Weine, weil ich hilflos bin und nicht helfen kann. Weine, weil ich nicht mehr kann. Krankenhäuser scheinen auch in nächster Zeit zu einem Ort zu gehören, der eine große Rolle in meinem Leben spielt.

Agnes ruft an. Auch sie völlig fertig. Meine Agnes. Was wäre ich ganz ohne sie? Was bin ich überhaupt? Wir beide sind fassungslos. Zwei Tage vor meinem Geburtstag ist mein Geburtstag so überflüssig wie nie zuvor. 44 Jahre werde ich. Bei der Familiengeschichte bleiben mir keine dreißig Jahre mehr. Und wenn ich soweit bin, werde ich ganz allein sein. So leidet dann wenigstens keiner an meinem Leiden.

Das Todesurteil für meinen Vater, zumindest offiziell, habe ich also heute am 03. Juni 2014 mitgeteilt bekommen. Sicherlich wütet der Tumor schon länger, aber seit heute ist es quasi amtlich. Meine Mutter brach am 07. Juni 2013 zusammen. Dieser Zusammenbruch war ihr Todesurteil, dem ein halbes Jahr Todeskampf, Hoffnung, Resignation folgten. Mein Geburtstag ist der 05. Juni. Genau zwischen diesen beiden tragischen Terminen, die sicherlich ihre Vorgeschichte haben. Überhaupt wird man in meiner Familie nicht alt. 70 scheint da eine magische Grenze zu sein. Lediglich eine Tante hat es über die achtzig geschafft, weshalb ich irgendwie dachte, dass mein Vater da auch hin kommt. Und ich auch. Alles unsinnige Gedankenverschwendung. Das Leben ist anders und macht sowieso, was es will.

Später sitze ich zu Hause, frage mich, ob ich meinen Vater besuche oder seinen Wunsch, ihn erst am Wochenende zu besuchen, respektiere. Er weiß vermutlich noch nicht, dass heute sein Todesurteil gesprochen wurde. Vermutlich geht er, wie auch in den letzten Tagen, davon aus, dass jetzt alles überstanden ist. Dabei fängt der Ganze Müll erst jetzt richtig an. Kann ich etwas für ihn tun, das seine letzte Zeit schöner macht? Ihm Wünsche erfüllen? Oder wird er sagen, dass es eh keinen Sinn hat und es vielleicht ignorieren? Wird er der Chemotherapie überhaupt zustimmen? Wird er nach dem Tod meiner Mutter so eine Situation überhaupt annehmen und dagegen ankämpfen? Und wenn ja, was bringt ihm das? Kann er noch genießen oder wird alles eine Qual? Wird er nur darauf achten, wann seine Uhr abläuft. Hofft er vielleicht, wieder mit meiner Mutter vereint zu werden? Ich werde ihn vermutlich wenig zu all dem fragen. Beide werden wir schweigen, es hinnehmen, leiden und resignieren. Alles bricht zusammen. Dabei sollte nach dem letzten Jahr alles besser werden. All die Situationen mit meiner Mutter, all das Leid, die Hoffnung, die vergebenen Versuche, all die Eindrücke, die sich in meinen Kopf gebrannt haben und noch nicht verarbeitet sind, sollten verblassen. Stattdessen befinden wir uns erneut in einer Extremsituation und es werden sich weitere quälende Erlebnisse in unserem Kopf festsetzen.

Und dann kommt irgendwann der Tag des Abschieds. Und während ich dies alles denke, mich frage, wie alles werden soll, sagt etwas in mir, dass ich dann hier weg muss. Verreisen, wegziehen, versuchen Geld zu verdienen. Und der andere Teil von mir sagt, dass ich mich nie ändern werde, mich mit der neuen Situation arrangiere und weiter lebe wie bisher. So als würde irgendwann alles total schön werden. Obwohl ich weiß, dass es nicht so sein wird, bleibe ich wohl immer, wie ich bin. Vielleicht habe ich es nicht verdient zu leben. Denn weder tue ich andere Gutes, noch genieße ich mein Leben. Ich glaube, ich passe nicht in diese Welt. Und bald werde ich keine Familie mehr haben. Nur noch mich. Und mich mag ich oft nicht.

Agnes ruft an. Sie wurde von einem Insekt gestochen. Von dem Einstich geht ein roter Strich in Richtung Herz. Ihr Hausarzt hat Urlaub, so kommt der Heilpraktiker, erkennt eine beginnende Blutvergiftung, spritzt ihr Procain und gibt entzündungshemmende Tabletten. Tritt bis morgen keine Besserung auf, muss sie zum Arzt. Morgen wollte sie mich besuchen. Alles in meinem Umfeld steht unter keinem guten Stern. Das Leben kann einem übel mitspielen, wenn man am wenigsten damit rechnet. Ich frage mich wieder und wieder nach dem Sinn. Doch nichts hat einen Sinn, wenn man ihm keinen Sinn gibt.

Am Abend gehe ich mit Petra spazieren. Auch sie ist geschockt von der Nachricht. Der Spaziergang tut gut, aber entspannt nicht genug. Wir reden, spielen etwas Billard an der Play Station und ich bin sehr froh, dass ich nicht allein sein muss. Außer Agnes und Petra kann ich mit niemandem über die Sache reden. Mein Vater möchte das sicher nicht. Ob mein Vater sein Leben wohl als gut bezeichnen wird? Würde er alles wieder so machen? Ob ich ihn das irgendwann fragen werde? Oder schweigen wir uns auch in Zukunft mehr an als das wir reden? Ich kann nicht gut über Gefühle reden.
Gegen 22.30 Uhr bringe ich Petra nach Hause. Gedanken begleiten meinen Rückweg. Der Druck in der Magengegend bleibt. Und wie immer, wenn alles zusammenzubrechen droht, nein, zusammenbricht, hinterfrage ich mein Leben. Denn wenn mein Vater nicht mehr da sein wird, wird alles ganz anders. Der Tod meiner Mutter brachte Veränderungen. Ich verbringe seitdem mehr Zeit mit meinem Vater. Drei- bis viermal in der Woche hat er für mich gekocht. Wir waren oft spazieren, haben hier an der Play Station Billard gespielt und auch mal Filme geguckt. Sind zusammen einkaufen gegangen oder mal was essen. All das wird es so nicht mehr lange geben. Dann werde ich sehr einsam sein. Einsamer als mir lieb ist. Alle zwei Wochen Agnes zu treffen, wird mir dann noch seltener vorkommen. Gelegentliche Filmabende mit Manni und Petra, treffen mit den Brüdern. All das wichtig, aber ich glaube nicht, dass mir das reichen wird. Ich werde sehr hart auf dem Boden aufschlagen. Doch was soll ich tun? Ich bin niemand, der sein Leben radikal ändern wird. Vermutlich werde ich es hinnehmen, mich den Gegebenheiten anpassen und bin dann zum ersten Mal im Leben wirklich ganz alleine für mich zuständig. Keine finanziellen Hilfen mehr von außen. Keine bezahlten Einkäufe, keine Unterstützung in Notlagen. Das bequeme Leben, wie ich es mein Leben lang serviert bekam, wird von einem Tag zum anderen ändern. Werde ich daran zerbrechen? Mich immer weiter zurückziehen, weil das Geld immer knapp sein wird? Stehe ich auf, mache ich doch noch etwas aus mir? Ich kann es mir nicht vorstellen. Den Arsch hochkriegen war nie meine Welt. Eher bin ich jemand, der sich selbst bedauert und den Gedanken an die Vergangenheit nachhängt. Das Mobiltelefon klingelt. Agnes. Meine wundervolle Freundin. Seit ich sie in mein Leben gelassen habe, gibt es neben meinem Schatten ihr Licht. Wäre ich jemand anders, hätte ich früher auf meine Gefühle gehört, vielleicht führten wir heute keine Fernbeziehung. Doch damals stellte ich die Weichen falsch. Hielt an etwas fest, was längst vorbei war, verschloss die Türen vor der Frau nach der ich immer gesucht habe. Und dann verpasste ich den Moment und alles kam anders. Diese eine Chance, diese eine Entscheidung. Momente, die ein Leben für immer ändern können. Manchmal sind die Dinge von Beginn an kompliziert, manchmal erst, nachdem man den richtigen Moment verpasst hat. Ich will mit dieser Frau mein Leben verbringen. Nicht mehr und nicht weniger. Das Gespräch tut gut. Ich werde müde und wir verabschieden uns in den Schlaf. Agnes ist ein Traum.

Die Nacht und der Tag danach
Ich schlafe zunächst gut, doch leider nicht lange. Dann wird es eine unangenehme Nacht. Gedanken an meinen Vater, sein Sterben, sein Leid. Jedes Mal wenn ich daran denke, ist es als würde mir jemand in den Magen treten und ich wache auf. Schlafe kurz ein, üble Gedanken, der Tritt in den Magen. Magenschmerzen.
Gegen fünf Uhr möchte ich eine Banane essen, weil ich denke, dass ich was essen muss, weil ich ja gestern schon zu wenig gegessen habe. Bananen habe ich nicht. Da ich etwas anderes sicher nicht runter kriege, bleibe ich im Bett. Ich denke an meinen Vater, wie ich ihn beim sterben begleite, wie er leidet, wie er in der Wohnung stirbt, wo ich ihn finde oder er stirbt qualvoll im Krankenhaus, wo ich ihn dann nicht sehen will, nachdem er gestorben ist. Gedanken an den Friedhof, das gemeinsame Grab mit meiner Mutter. Ich nehme Neurexan, bin übermüdet, schlafe deshalb rasch wieder ein, aber immer nur kurz, dann tut es wieder weh. Mir fällt die Schwester meines Vaters ein. Der Krebs war doch schon in unserer Familie. Die Schwester starb qualvoll daran. Magen- Darmkrebs, wenn ich mich recht erinnere. Mein Magen schmerzt. Ich werde auch Krebs bekommen. Das Leben scheint aus vielen aneinander gereihten Alpträumen zu bestehen. Vielleicht ist es auch nur ein einziger fortwährender Alptraum.

06.30 Uhr. Bananen kann ich um 08.00 Uhr bei Penny kaufen. Stehe auf, muss zur Toilette und esse eine Pflaume. Ich muss essen, weil ich sonst bald zusammenbreche. Es ist schon lange hell draußen. Nachher kommt mich Agnes besuchen, wenn alles klappt. Sie wird mich in einem erbärmlichen Zustand vorfinden. Abgrenzung war mal ein Thema in meiner Gruppentherapie. Von Abgrenzung bin ich sehr weit entfernt im Moment. Meine Gedanken kreisen um die Wohnung. Wie ich sie auflösen und leerräumen muss. Das Auto verkaufen. Den Papierkram erledigen. Eine Beerdigung organisieren. Ich muss mich zwingen daran zu denken, dass wir vorher noch ein paar Monate haben. Dass wir noch ein paar Dinge gemeinsam tun können. Will mein Vater das denn? Sofort werden die entspannteren Gedanken ausgebremst. Das Nervengeflecht in meinem Magen zieht sich abermals zusammen. Endstation Tod. Unausweichliche Realität.

Besuche ich heute meinen Vater? Und wenn ich es mache, wie gehe ich mit ihm um? Was weiß er? Und wenn er weiß, dass er eine Chemotherapie braucht, wie wird er damit umgehen? Ich habe Angst. Mal wieder nichts als Angst. Wäre alles leichter, wenn ich selber Familie hätte? Nie werde ich es erfahren. Kinder kann ich keine mehr zeugen und selbst wenn ich es könnte, ernähren und ein anständiges, versorgtes Leben könnte ich ihnen nie bieten. Arbeitslos, maximale Chancen auf einen Hilfsjob, das ist keine Basis für Kinder. Außerdem bin ich unreif und nicht einmal in der Lage für mich selbst zu sorgen. Muss ich nicht dennoch mein Leben ändern? Hätte ich es nicht schon lange ändern müssen? Arbeitslosengeld II bis zum Tod. Ich hatte nie gedacht, dass ich mal so enden würde. Doch ich habe auch nie etwas getan, dass es anders kommt. Reich wird man nicht davon, dass man es sich wünscht. Zumindest ist es nicht die Regel. Das kann ich also auch vergessen.

Nach dem Tod meiner Mutter habe ich viel konsumiert. Es gab eine Lebensversicherung. Mein Vater wollte, dass ich das Geld bekomme und ich habe es genommen, um die Wohnung zu renovieren. Neue Dusche, Waschmaschinenanschluss, neuer Teppich, neue Farbe für die Wände. Ein paar neue Anziehsachen. Ich habe mir was gegönnt. Doch alles, was ich mir gegönnt habe, war materialistisch. Ich habe nichts für mich getan. Kein Urlaub, keine Unternehmungen. Nichts, was gut für die Seele wäre. Nicht, dass das Materielle nicht auch gut tut, aber was sagt das über mich aus? Ein Genussmensch bin ich wohl eher nicht. Fürs Geld will ich etwas, dass bleibt. Gerne hätte ich meiner Mutter all diese Veränderungen gezeigt, sie gefragt, was sie davon hält. Als sie noch lebte, war ich nicht so daran interessiert. Erst, als es nicht mehr möglich war, wollte ich ihre Meinung dazu hören. Ich habe mir vorgenommen das zu ändern. Meinem Vater wollte ich immer alles zeigen und ihn dazu befragen. Ich habe es auch immer gezeigt, aber so wirklich gesprochen haben wir eher nicht. Zumindest empfinde ich es so. Und das liegt nicht an meinem Vater. Es liegt an mir. Ich bin materialistisch, aber nicht wirklich kommunikativ. Zumindest nicht, wenn es darum geht, mehr als sachliche Dinge zu bereden. Und ohne Agnes, wäre das noch viel schlimmer. Warum schreibe ich das alles auf? Weil ich es in der Form leider nicht kommunizieren kann. Selbst wenn ich will, kommen viele Worte einfach nicht über meine Lippen. Vor meinen Lippen stehen Mauern. Dieselben Mauern, die ich um mich herum gebaut habe. Nur selten gelingt es, diese Mauern einzureißen. Doch am Ende stehen sie wieder da, um mich zu schützen. Doch mittlerweile frage ich mich, ob sie mich wirklich schützen. Schützen sie überhaupt irgendwen? Oder sind sie eher eine Last? Eine selbsterstellte Bürde, die mich zu dem gemacht hat, der ich jetzt bin? Ich weiß es nicht. Und es ist vermutlich nicht wichtig, da es nichts an der Tatsache ändert, dass mein Vater Krebs hat und sterben wird. Und zwar nicht irgendwann, sondern schon bald. Es bleibt nur die Hoffnung, dass er nicht leiden muss wie seine Schwester. Er soll gar nicht leiden, doch das ist vermutlich nur ein frommer Wunsch, dessen Erfüllung nicht möglich ist. Verdammt.

Gegen 10.00 Uhr ruft mein Vater mich an. Ich weiß nicht, ob ich jemals zuvor so erleichtert über einen Anruf von ihm war. Er klingt etwas schwach, aber insgesamt normal. Schwer einzuschätzen, ob er von seinem Schicksal weiß. Er möchte, dass ich ihm drei Handtücher bringe. Und Waschlappen. Sofort will ich mich auf den Weg machen, doch er besteht darauf, dass ich erst am Freitag komme. Er kann noch nicht aufstehen und hat wohl Schmerzen. Er ist auf der normalen Station, wird aber nachher auf ein anderes Zimmer verlegt. Ohne mein Wissen über den Verlauf der Operation und die Konsequenzen, wäre es ein ganz normales Gespräch. Ein gutes Gespräch, welches von einer Zukunft ausgeht, welche länger als ein Jahr ist und vor allem von einer Zukunft, die frei von Problemen dieser Art ist. So bin ich nach dem Gespräch sehr erleichtert, aber auch erschüttert. Das passt alles so gar nicht zusammen.

Am Nachmittag ruft er erneut an, um mir mitzuteilen, auf welchem Zimmer er nun liegt. Nach dem Gespräch geht es mir immer schlechter. Die Situation überfordert mich total. Zum Glück ist Agnes mittlerweile bei mir. Noch ein Tag ohne sie wäre vermutlich auch gar nicht möglich. Zu überfordert bin ich mit der Gesamtsituation. Im Laufe des Tages und Abends, schafft sie es, mich etwas abzulenken und in der Nacht schlafe ich besser.

Geburtstag
Am Vormittag ruft mein Vater an, um mir zu gratulieren. Es ist deutlich hörbar, dass es ihm nicht gutgeht. Er erzählt von der Chemotherapie. Dass am Dienstag ein Gespräch mit dem Arzt folgt und ob eine Chemotherapie vielleicht nichts bringt. Ich bin ratlos. Was kann ich sagen? Alles ist so sinnlos.

Letztes Jahr haben Agnes und ich den Geburtstag mit meinen Eltern verbracht. Wir waren am Schiffshebewerk, haben Kuchen gegessen, die Sonne schien und alles schien perfekt. Zwei Tage später brach meine Mutter zusammen. Seitdem scheint nichts mehr perfekt zu sein. Und heute ist das Wetter miserabel, meine Mutter längst verstorben, mein Vater liegt im Krankenhaus und ob er an meinem nächsten Geburtstag noch lebt, scheint mehr als fragwürdig. Erschreckende Fakten.

Die Anwesenheit von Agens tut mir gut. Der Tag verläuft fast normal. Sie lenkt mich ab und wir leben einen ziemlich normalen Tag. In der Nacht schlafe ich gut, bin entspannter und für eine Weile rücken all die schrecklichen Gedanken in den Hintergrund. So schlecht ist das Leben vielleicht doch nicht. Zumindest nicht, solange sie bei mir ist.

Der erste Besuch
Als ich bei meinem Vater bin, scheint alles normal zu sein. Er sieht aus, wie jemand, der operiert wurde, noch Schmerzen hat, aber bald wieder ganz der Alte sein wird. Doch die Wahrheit ist, dass hier ein todkranker Mann vor mir liegt. Seine OP-Wunde ist locker 25cm lang. Bewegen kann er sich nur unter Schmerzen. Trotzdem ist es bei dem Anblick nicht normal zu glauben, dass in seinem Körper etwas wächst, was in umbringen wird. Wir reden darüber, dass der Krebs zu spät entdeckt wurde. Seine Rückenschmerzen, die schon länger bestehen. Seine Untersuchungen vor einem Jahr, die sich nur auf die Nieren beschränkten. Der Verdacht, dass die Schmerzen daher beruhen. Hätte nicht irgendein Arzt damals auf die Idee kommen können, sogar müssen, dass es eine andere Ursache gibt? Wieso hat sein Hausarzt immer gesagt, dass da nichts ist, nur weil der Rücken in Ordnung war? Wäre es besser gewesen, den Hausarzt zu wechseln und hätte das irgendwas geändert? All diese Frage, die man sich stellt, stellten wir uns bei meiner Mutter ebenso. Doch ist es müßig darüber nachzudenken, weil es am Ende nichts ändert. Selbst, wenn man einen Schuldigen findet, bleibt die Diagnose doch gleich. Krebs.

Mein Vater und sein Zimmernachbar finden das Essen im Krankenhaus furchtbar. Mein Vater bekommt Schonkost. Ich erzähle alles, was mir einfällt. Der Besuch von Agnes, mein Geburtstagsgeschenk, die neue Schutzhülle für mein Smartphone, vom Wäsche waschen, übers Wetter, über Fußball. Unter normalen Umständen wären die meisten dieser Themen kein Thema. Normale Umstände gibt es nicht mehr.

Vermutlich kann mein Vater das Krankenhaus am Dienstag verlassen. Vorher gibt es das Gespräch mit dem Chefarzt. Es wird über die Chemotherapie gesprochen. Art und Häufigkeit. Ob mein Vater weiß, dass er keine Chance hat? Mein Vater sagt, dass der Krebs manche erwischt und manche nicht. So ist es eben. Er ist sehr sachlich. Was soll er auch sonst sein? Eine Kur möchte er nicht. So einen Scheiß lehnt er ab.

Nach etwa einer Stunde muss er zur Toilette und ich mich verabschieden. Wie oft werde ich ihn noch in Krankenhäusern besuchen ?

Es tat mit gut, ihn zu sehen. Er wirkte so normal. Die Situation wirkte insgesamt als wäre alles okay. Ein ganz normaler, vorübergehender Krankenhausaufenthalt in dessen Anschluss das Leben einfach so weitergeht. Und das wird es auch. Nur nicht für ihn und somit auch nicht für mich.

07. Juni 2014
Heute vor einem Jahr begann der Alptraum. Heute vor einem Jahr war meine kleine, behütete Welt noch in Ordnung. Der Tod war weit weg, Zeit schien es reichlich zu geben und ein derartiges Unglück passierte immer nur den anderen. Krankenhausaufenthalte gab es, sie waren aber nicht nachhaltig. Kleinigkeiten. Selbst der Schlaganfall meiner Mutter vor einigen Jahren, erscheint aus heutiger Sicht, wie eine Kleinigkeit, was aber sicher auch mit den verblassenden Erinnerungen zu tun hat. Denn jetzt, wo ich mich intensiver und bewusster erinnere, weiß ich wieder, was mir damals für eine Angst hatten und was für ein Glück am Ende, weil meine Mutter doch wieder sprechen konnte. Sie hatte es geschafft. Einmal sollte es jeder schaffen. Für meinen Vater gelten diese Regeln wohl nicht. Seit damals hat sich vieles geändert. Die vielen Besuche in Krankenhäusern zeigten mir, wie viel Glück ich bisher hatte. Es gibt so viele Patienten, so viel Leid. Was das angeht, kann ich mich, was meine Gesundheit betrifft, nicht beklagen. Trotzdem erscheint mir das, was nun mit meinem Vater passiert als völlig unfair. Und vermutlich geht es vielen in ähnlichen Situationen nicht anders.

Ich sehe bei meinem Vater nach Post und wasche die Wäsche. Ein Brief für meine Mutter. Von der Heinz Sielmann Stiftung. Meine Mutter hat gelegentlich gespendet. Ich beschließe, dass ich für sie etwas Spende. 25 Euro überweise ich später in ihrem Namen an die Heinz Sielmann Stiftung. Sie hätte es sicher so gewollt. Ich finde das Datum sehr passend und bin sicher, dass meine Mutter mir zustimmen würde. Zumindest bilde ich es mir ein.

Weil mein Vater heute keinen Besuch möchte, rufe ich ihn nach dem Mittagessen an und frage, wie es ihm geht, erzähle alles, was mir einfällt. Früher wären die meisten Dinge ungesagt geblieben. Zu banal und unwichtig. Jetzt sind sie es vielleicht nicht mehr. Schwer zu beurteilen. Ich sage ihm, dass er heute Abend Boxen gucken kann. Wir reden kurz über das Länderspiel vom Vortag. Er und sein Zimmernachbar meckern über das Essen. Dann sagt er, dass er mich morgen anrufen wird. Ich solle nicht anrufen. Also will er auch morgen keinen Besuch. Vermutlich will er mich damit schützen.

Am Nachmittag erfahre ich, dass ich Kinokarten gewonnen habe. Eigentlich nichts, was es zu diesem Zeitpunkt zu erwähnen gibt, aber die Tatsache, dass heute der 07. Juni ist, macht es irgendwie besonders. Mich jedenfalls beschäftigen solche Ereignisse.

Am frühen Abend ruft mein Vater an, um etwas Obst zu bestellen. Äpfel und Kiwi hätte er gerne. Ich will ihm die Sachen sofort bringen, doch er sagt, dass es morgen früh genug ist. Nach dem Gespräch kaufe ich Äpfel, Bananen und Orangen, weil ich keine Kiwis bekomme. Insgesamt ist es ein normaler Tag.

08. Juni 2014
Gegen 14.00 Uhr bringe ich meinem Vater das Obst und erfahre, dass er bisher noch gar nichts, was es im Krankenhaus zu essen gibt, gegessen hat. Außerdem hat er Darmprobleme, die mittlerweile behandelt werden. Sein Darm arbeitet nicht richtig, ist total aufgebläht und verursacht Übelkeit. Daher ist es erfreulich, dass mein Vater eine Banane ist. Die Darmprobleme sollen nichts mit der OP und dem Krebs zu tun haben. Ich weiß nicht, ob ich das glauben kann.
Irgendwie wirkt mein Vater abgemagerter, schwächer. Vielleicht bilde ich mir das ja ein. Die Wahrnehmung ist in Extremsituationen bei mir bekanntlich oft getrübt. Sein Zimmernachbar ist 75 Jahre, wirkt auf mich jünger und hat seit ein paar Tagen einen künstlichen Darmausgang. Dafür konnte bei ihm der Krebs komplett entfernt werden. Er furzt sehr viel, aber ich denke, dass ich sein kleinstes Problem. Er hat Besuch von Frau und Sohn. Sie haben ihm Kartoffelsalat und Würstchen mitgebracht. Auch er isst kaum etwas von dem Krankenhausessen.

Mein Vater sagt so etwas, wie „Zu spät“, oder „Nichts zu ändern“, als wir über den Krebs sprechen. Er sagt, wenn er ehrlich ist, hatte er schon lange Schmerzen, sich aber immer gesagt, er soll sich nicht so anstellen. Und ich habe auch nicht wirklich aufgepasst. Habe es ignoriert, verdrängt oder war lange Zeit mit der Situation meiner Mutter beschäftigt. Unaufmerksam, ignorant. Hätte ich ihn zum Arzt schicken sollen? Und hätte sein Hausarzt denn was getan? Der Hausarzt, der ihm oft gesagt hat, dass er nichts feststellen kann, wenn mein Vater bei ihm war. Und so wiederholt sich scheinbar die Geschichte meiner Mutter. Sie verzichtete auf manche Untersuchungen und mein Vater hatte leider niemanden, der auf ihn aufgepasst hätte. Ob man irgendwas von dem, was passiert ist, hätte verhindern können, wird immer ungeklärt bleiben. Frei von Fehlern sind wir alle nicht. Doch manche Fehler haben tödliche Folgen. Das steht fest. Auf mich passt Agnes auf, auf meinen Vater leider niemand.

Mein Vater leidet. Wir reden über die Chemotherapie, ich frage, warum der Arzt die Bauchspeicheldrüse nicht entfernt hat. Ich zweifle alles an, hinterfrage und wüsste gerne, ob wirklich alles versucht wurde. Ich will immer eine zweite Meinung hören, obwohl die Ausgangssituation mehr als Ausweglos erscheint.

Ich gehe zum Kiosk, kaufe Apfelschorle und Kekse. Er muss was essen, auch wenn er sagt, dass er nicht kann. Für den Darm müssen wir uns etwas einfallen lassen. Ich werde Agens fragen und den Heilpraktiker. Es ist alles schon schlimm genug, da müssen wir alles versuchen, dass es meinem Vater nicht noch schlechter geht.

Gegen 18.00 Uhr ruft mein Vater an, um mir mitzuteilen, dass er kein Obst essen und keinen Apfelsaft trinken darf. Warum das so ist, kann er nicht sagen. Doch damit steht fest, dass er auch weiter nichts essen wird. Die Butterkekse, die ich ihm gebracht habe, sind die letzte Hoffnung. Und plötzlich fürchte ich, dass sein Krankenhausaufenthalt nicht nur länger dauern wird, sondern dass er womöglich gar nicht mehr nach Hause kommen wird. Er isst nichts mehr, was der Genesung sicher nicht förderlich ist. Sein Zimmernachbar ist da keine große Hilfe, weil der sich ja auch oft weigert, aber er bekommt von seiner Frau essen gebracht, was er dann isst. Morgen muss ich mit dem Personal reden. Es kann doch nicht sein, dass es gar nichts mehr gibt, was er vielleicht essen kann. Ich bin essgestört, mein Vater ist stur. Sturheit ist in seiner Situation aber keine Basis und erst recht keine Option.

09. Juni 2014
Gegen 13.30 Uhr besuche ich meinen Vater. Gegenüber dem Vortag sieht er etwas besser aus. Er sagt, es ginge ihm besser. Gegessen hat er allerdings noch immer nicht wirklich was. Angeblich ein paar Kekse. Ob es stimmt oder er es nur sagt, um mich zu beruhigen, werde ich kaum erfahren. Dennoch ist es eine Erleichterung, dass er etwas besser als gestern drauf ist. Irgendwann muss er aber auch essen.
Wieder erzähle ich alles, was mir einfällt und ich erlebt habe, was allerdings nicht viel ist, weshalb wir oft schweigen. Nach einer Weile hat er wieder Schmerzen und sieht aus wie gestern. Verdammt. Eine Schwester, die durchaus attraktiv und sympathisch ist, was mir in einer anderen Situation sicher gefallen würde, bringt Kaffee und Kuchen. Das heißt, sie hat solche Sachen dabei, aber schon als sie das Zimmer betritt winkt mein Vater ab. Fast zeitgleich winkt sie auch ab, weil sie meinen Vater schon kennt und diese Geste sich wohl täglich wiederholt. Ich sage ihm, dass er wenigstens einen Tee nehmen soll. Doch er will nicht. Kurze Zeit später setzt er sich auf und scheint wieder deutliche Probleme mit dem Darm zu haben. Er bittet mich, das Obst, welches ich gestern mitgebracht und im Kühlschrank untergebracht habe, einzupacken und mitzunehmen. Ich gehe zum Kühlschrank, packe die Äpfel und die Orangen ein und sage dem Zimmernachbarn, dass ich ihm die Bananen dalasse. In der Zwischenzeit ist mein Vater ins Bad verschwunden. So unterhalte ich mich kurz mit der Familie des Zimmernachbarn. Mein Vater muss endlich essen, da sind wir uns einig. Der Zimmernachbar, der bis an sein Lebensende einen künstlichen Darmausgang hat und seine eigene Fäkalien vor seinem Bauch trägt, wirkt insgesamt sehr fit, was aber, so höre ich aus den Familiengesprächen ein Eindruck ist, der täuscht. Gestern ging es ihm sehr schlecht. Mein Vater kommt zurück, wir reden noch kurz, dann gehe ich.

Gegen Abend ruft er mich an. Er sagt, dass er Brühe zu essen bekam, diese zwar nicht wirklich warm war, er sie aber essen konnte. Wenigstens eine gute Nachricht, welche mich erleichtert. Wir plaudern noch eine Weile, dann sagt er, dass ich ihn morgen nicht besuchen soll und er mich anruft. Als ich sage, dass ich auch anrufen kann, wiederholt er mit Nachdruck, dass er anruft. Ich gebe klein bei.

Den Abend verbringe ich zunächst mit einem Spaziergang, anschließend sitze ich auf dem Balkon, bevor ein Sturm aufzieht und ich in die Wohnung gehe. So normal wie möglich weiterleben, anders geht es nicht. Das Leben ist so, alles ist okay, weil es okay sein muss. Gedanken an den Tod meines Vaters, mögliche Wochen oder gar Monate des Leidens sind zu früh, denn wenn es so kommt ist genug Zeit sich damit auseinander zu setzen. Vorbereitet bin ich, obwohl man darauf gar nicht vorbereitet sein kann. Die Realität kann den vorbereitenden Gedanken entsprechen, sie muss es aber nicht. Sie kann tausendmal schlimmer sein, ähnlich oder, was zu hoffen ist, nicht halb so bedrohlich und vernichtend, wie es die Gedanken suggerieren. Man weiß es nicht und doch dreht sich das Gedankenkarussell immer wieder aufs Neue.

10. Juni 2014
Verdrängung. Meine Art mit allem besser klar zukommen. Möglicherweise eine Art feige Flucht. Doch was soll ich tun? Tatsachen bleiben Tatsachen. Krebs bleibt Krebs. Ob ich heute, wenn mein Vater das Gespräch mit dem Arzt führt, anwesend sein will. Ich glaube nicht. Mein Vater hat es nicht erwähnt, ich ebenso wenig. Verstecke mich, wo ich kann. Will die Bestätigung, dass es zu Ende geht nicht wieder und wieder hören. Ist das fair? Sollte ich als Sohn nicht mehr tun? Wer kann das schon sagen? Helfen, gerne, aber ist es helfen, mir anzuhören, was der Arzt sagt? Ist es nicht dennoch meine Pflicht? Mag sein. Mein Vater wird mir nicht alles sagen von dem Gespräch. Dinge weglassen, die mich zu sehr belasten könnten, aber möglicherweise auch wichtige Details verschweigen, die für seinen Zustand noch von Bedeutung sein können. Zwickmühle. Erneut stecke ich in einer Zwickmühle.

Gegen 13.30 Uhr ruft er mich an. Die Ergebnisse vom Labor scheinen da zu sein. Der Arzt will sich heute mit seinen Kollegen besprechen. Morgen folgt die Besprechung mit meinem Vater. Die Chemotherapie muss nicht zwangsläufig in Dortmund stattfinden, was meinen Vater freut. Ich erwische mich dabei, wie ich mir vorstelle, dass der Befund völlig überraschend gegen aggressiven Krebs spricht. Gefährlich, aber doch länger in Schach zu halten als befürchtet. Fünf Jahre des Überlebens möglich. Der Arzt und seine Kollegen überrascht, weil so etwas selten vorkommt und absolut nicht zu erwarten war. Erleichterung auf allen Seiten. Schöne Gedanken, die nur so lange taugen bis die Realität sie ersetzt.

Den Tag verbringe ich auf dem Balkon und hole mir prompt einen Sonnenbrand. Sofort frage ich mich, ob mein Krebsrisiko nun noch weiter gestiegen ist. Später mache ich einen Spaziergang. Mein Vater ruft an. Er kommt wohl schon am Donnerstag raus. Wieder hat er Brühe gegessen, was ihm wohl gut tut.

11 Juni 2014
Am Vormittag ruft mein Vater an. Morgen wird er entlassen. Chemotherapie muss sein. Meine kurze Vorstellung, alles würde gut werden, beendet. Nichts wird gut. Wieso auch? Das Leben ist eine beschissene Unterhose. Nichts weiter. Man kann sie waschen, aber am Ende ist sie wieder vollgeschissen.

Bevor ich zu meinem Vater fahre, treffe ich auf meinen Hausarzt, der ihn ja in die Klinik überwiesen hat. Ich erzähle, wie es um meinen Vater steht und er sagt, dass er sich das gedacht hat. Anderes gehofft, aber gedacht, dass es ein aggressiver Tumor ist, weil er auf Aufnahmen, die sechs Monate vorher bei meinem Vater gemacht wurden, noch nichts zu erkennen war. Schnell wachsender Tumor. Er sagt, dass es ihm Leid tut und mein Vater die Chemo schon gut vertragen wird, weil er ein tougher Kerl ist. Er soll, wenn er entlassen ist, vorbei kommen. Ich erwähne nicht, dass mein Vater längst beschlossen hat, zurück zu seinem alten Hausarzt zu gehen. Wozu auch?

Auf dem Weg zur Garage treffe ich einen Nachbarn von meinem Vater. Dieser sagt, dass er zusammen mit anderen Nachbarn meinen Vater besuchen möchte. Ich sage ihm, dass mein Vater morgen entlassen wird, was ihn sichtlich freut.

Mit meinem Vater rede ich über die Chemotherapie. Er hat die Ärzte gefragt, ob das überhaupt Sinn macht. Die Ärzte sagten, dass es selbstverständlich Sinn macht, weil operativ nichts mehr zu machen ist. Er sagte, dass die das sicher immer und zu jedem sagen. Die Ärzte guckten überrascht oder ertappt und wiederholten, dass es Sinn macht. Macht es wirklich Sinn? Verlängert die Chemotherapie sein Leben oder macht man die Therapie nur, weil man es immer so macht und es ein gutes Geschäft ist? Eine Antwort bekommen wir wohl nie.
Er sagt, dass man ihm mitgeteilt hat, dass er einen aggressiven Tumor hat. Mein Vater ist angegriffen und sichtlich getroffen. Was soll ich sagen? Er sagt, dass alles Scheiße, er sagt allerdings Shite, ist. Ich kann nur beipflichten. Was soll ich denn sonst sagen? Ich kann ja schlecht sagen, dass mir der Arzt schon wenig bis keine Hoffnung machen konnte. Davon wird die Scheiße kaum besser. Ich überlege kurz, ob ich nochmal mit dem Arzt sprechen soll, entscheide dann aber, es nicht zu tun? Feige? Auf jeden Fall bin ich feige. Ich sehe meinen Vater an. Einen sterbenden Mann, der nicht aussieht als würde er sterben. Sind wir nicht alle Sterbende? Ein dummer Vergleich, weil die meisten ihr Verfallsdatum nicht kennen und keinen derart begrenzten Lebenszeitraum vor sich haben. Zumindest nicht unbedingt wissentlich. Unsinnige, unbewiesene Gedanken. Völlig unangebracht.

Zu seiner Ernährung und den Darmproblemen hat man ihm nichts weiter gesagt. Er bekommt eine milchige Flüssigkeit und Schmerztabletten, die er gestern allerdings nicht benötigt hat. Heute gab es normales Essen, keine Brühe, aber Obst. Nun sind seine Probleme wieder stärker, er ist aufgebläht und hat Schmerzen. Man sollte den Ärzten beibringen, dass sie reden. Mein Vater nimmt zwei Schmerztabletten. Das kann keine Lösung sein. Ob er einen Ernährungsplan bekommen hat, frage ich ihn. Ob er irgendwas nicht essen darf. Nein, davon wurde nichts gesagt. Das ist alles total bescheuert. Er hat offensichtlich Probleme, die angeblich aber nicht von der Operation oder der Bauchspeicheldrüse stammen, doch niemanden scheint das wirklich zu interessieren.
Der Zimmernachbar bekommt Besuch. Frau und Sohn. Er bekommt ein Hämorrhoidenkissen und sagt, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hat. Ich frage mich, was das für ein Leben ist? Künstlicher Darmausgang, ständig den eigenen Kot dabei und Probleme beim sitzen. Er steht auf. Seine Unterhose ist hinten blutig. Das Elend ist so nah und wenn man gezielt danach suchen würde, wäre es überhaupt nicht zu ertragen.

Ich erzähle meinem Vater, dass ich meinen Hausarzt getroffen habe und dieser gesagt hat, dass er, wenn er entlassen ist, zu ihm in die Praxis kommen soll. Vater sagt, dass er ja zu Dr. S geht. Ich sage ihm, dass er das nicht muss und Dr. S ja nicht einmal mit ihm reden wird. Dr. S. wird einfach nur dasitzen und nichts weiter tun. Dr. S. ist ein Fossil. Dr. S. trinkt. Dr. S. sollte nicht mehr praktizieren. Mein Vater erklärt sich bereit, den Hausarzt zu wechseln. Hoffentlich ist er es morgen auch noch. Wenig später bringt er mich noch raus. Die ganze Situation ist bedrohlich. Verdrängen, sonst macht es nur verrückt.

Bevor mein Vater ins Krankenhaus kam und noch die Hoffnung bestand, dass er mit einem blauen Auge davon kommt, hatte ich beschlossen, mir einen neuen Fernseher zu kaufen und ihm meinen zu geben. Ich dachte natürlich, dass wir mehr Zeit hätten. Mehr Zeit einen Fernseher zu kaufen und mehr Zeit, nämlich Jahre für ihn, diesen Fernseher zu genießen. Das mit der Zeit war leider ein Irrtum. Und so ist es wenig verwunderlich, dass ich, typisch für mich, ernsthaft überlege, ob ich das mit dem Fernseher mache. Ich frage tatsächlich, ob das lohnt. So etwas Dummes. Natürlich lohnt es sich. Jeder Tag lohnt sich. Und so kaufe ich einen neuen Fernseher, den ich am Freitag abholen kann. Ich weiß, es ist vielleicht banal und nebensächlich, ob mein Vater einen anderen Fernseher hat, aber vielleicht ist es das auch nicht. Ich bin sowieso überfordert mit der Situation.
Wenig später ruft mein Vater an, um zu fragen, ob das mit dem Fernseher geklappt hat. Hat es. Früher hätte er das, so glaube ich jedenfalls, nicht gut gefunden, dass ich, obwohl keine Notwendigkeit besteht, einen Fernseher kaufe. Dieses Mal scheint er es zu akzeptieren. Ich denke, er will einfach nur, dass es mir gut geht und ich zufrieden bin. Egal, was für möglicherweise komische Pläne ich habe.

12. Juni 2014
Ich bin angespannt und mir ist übel als ich aufwache. Es fühlt sich an als würde ich nachher, wenn ich meinen Vater abhole, eine Verantwortung übernehmen, der ich nicht gewachsen bin. Fühle mich hilflos und auch maßlos überfordert. Als würde mir das Krankenhaus gleich alle Verantwortung übergeben. Das mag irre und unlogisch erscheinen, doch an meinem Empfinden ändert es nichts. Ich habe mal wieder nichts als Angst und tauche ein in die Dunkelheit, sehe das Licht des Lebens nicht mehr. Die Sonne erreicht mich nicht, dunkle Wolken überziehen meinen Körper, schnüren mir die Kehle zu. Meine dunkle Seite fördert alle Ängste und Zweifel hervor. Die in den letzten Tagen durchaus durchkommende Gelassenheit, das Funktionieren des Verdrängens, weichen, um meiner der Dunkelheit zugewandten Seite Platz zu schaffen. Und so habe ich nicht nur Angst vor der Verantwortung, sondern gleich vor dem Rest meines Lebens. Alles, was noch kommen wird, scheint in einer Qual zu Enden, eine Qual zu sein. Erlösung scheint nur der Tod bringen zu können. Aber nicht der meines Vaters, sondern der eigene. Die finsteren Gedanken, die ich in den letzten Jahren schon oft zurückdrängen konnte, um zu atmen, nehmen wieder den Platz ein, den ich ihnen nicht geben wollte. Ist dies nur der erneuten, der nie enden wollenden Ausnahmesituation geschuldet und damit eine Momentaufnahme, oder erfassen sie mich dieses Mal ganz, nehmen mich in Besitz, so wie sie es früher oft taten? Ich vermag es nicht zu beurteilen, fürchte mich aber. Egal, wie lange und intensiv diese Phase andauern wird. Ich fühle mich, wie so oft in meinem Leben, einfach überfordert.

Um kurz nach 09.00 Uhr bin ich im Krankenhaus. Mein Vater ist angezogen und packt die letzten Sachen. Es fehlt nur noch der Bericht. Die Zuleitung für die Chemotherapie wurde nicht gelegt. Vermutlich, weil er entschieden hat, die Chemotherapie nicht hier zu machen, sondern in Brambauer, weil er dort zu Fuß hin kann. So etwas kommt nicht gut an und stößt auf Unverständnis. Für mich stößt es auf Unverständnis, dass man noch immer den Krebs nicht besiegen kann und kein Verständnis für Patienten zu haben scheint.

Wenige Minuten später fragt mein Vater nach, ob der Bericht nun fertig sei. Und tatsächlich ist er das und wir können gehen. Der Weg zum Auto fällt meinen Vater schwer, mein Angebot, den Wagen zu holen, lehnt er ab. Er will bis zum Auto laufen.

Die Treppen bis zu seiner Wohnung in der dritten Etage sind eine Herausforderung. Die letzte Etage strengt ihn sehr an und kaum sind wir oben, legt er sich erst mal hin. Ich muss ins Büro und lasse ihn zurück. Bis 14.00 Uhr schläft er.

Als ich gegen 17.00 Uhr zu ihm komme, sitzt er vor dem Fernseher und isst einen Toast. Ein Bekannter hat angerufen und gefragt, ob es meinem Vater wieder gut geht. Wie soll es jemandem mit Bauchspeicheldrüsenkrebs denn gut gehen? Ich bleibe eine Weile, dann muss ich etwas erledigen und bin um 19.35 Uhr bin ich zurück. Mein Vater hat nochmal gegessen, was ich gut finde. Er sagt, dass er im Krankenhaus nur ein Kilo abgenommen hat, obwohl er drei Tage gar nichts gegessen hat. Ich kann das nicht glauben, weil er doch aussieht als hätte er mehr abgenommen. Habe ich durch die Krankheit Wahrnehmungsstörungen? Eine Weile bleibe ich noch, dann verabschiede ich mich. Irgendwann in der nahen Zukunft wird ein solcher Abschied mein letzter sein. Jeder Abschied kann der letzte sein. Schwer vorstellbar, aber leider wahr.

13. Juni 2014
Der Tag könnte theoretisch wirklich schön werden. Die Sonne scheint, die Temperatur ist angenehm und als ich aufwache, scheint die Welt in Ordnung. Der Tag wirkt für einen kurzen Moment wie ein Urlaubstag. Aber der Moment ist ein Lügner, denn dieser Tag ist gar kein Urlaubstag, sondern nur ein weiterer Tag vom Rest eines jeden Lebens. Um 10.00 Uhr werde ich meinen Vater zum Arzt bringen, Wasser für ihn kaufen und ihn anschließend nach Hause bringen. Mit Urlaub hat das wenig zu tun. Ich mache eh nie Urlaub, was vermutlich ein Fehler ist. Doch das ist eine ganz andere Geschichte.

Der Arzt sagt meinem Vater, dass er die Chemotherapie in Lünen machen soll. Sollte sie nicht anschlagen, dann soll er nicht weiter machen, weil es unnötige Quälerei ist. Wenn sie aber anschlägt, kann man nicht sagen, wie lange es gut geht. Angeblich hat er einen Patienten, der seit zehn Jahren Chemotherapie bekommt und folglich noch lebt. Das wäre ja was. Aber seit meine Mutter am 07. Juni 2013 umgefallen ist, haben sich Hoffnungen nie bestätigt. Gegen den Kaliummangel verschreibt er nichts, gibt nur den Tipp, dass mein Vater Bananen essen soll. Bananen für einen Darm, der nicht richtig funktioniert, klingen irgendwie nach Widerspruch. Wegen der Probleme gibt er ihm ein paar Proben Laxatan mit. Hoffentlich hilft das Zeug.

Am Nachmittag ruft die Praxis, in der die Chemotherapie stattfinden soll, an. Am Montag und am Mittwoch hat Paps zwei Termine und der Port wird an einem der Tage eingesetzt. Ich finde es gut, dass es nun doch schneller geht, denn Ursprünglich hatte er den Termin erst im Juli.

Am Nachmittag besucht mich Agnes und wir fahren nach Unna, um mir einen neuen Fernseher zu kaufen. Kurz bevor wir ankommen, ruft mein Vater an, um mir zu sagen, dass er aus der Apotheke Material braucht, um eine Wunde zu verschließen. Das klingt nicht gut. Nachdem der Fernseher abgeholt ist, bringe ich meinem Vater die Sachen aus der Apotheke und frage ihn, wozu er sie braucht. Er sagt, dass sich das erledigt hat und alles okay sei. Obwohl ich ihm nicht glaube, lasse ich das Nachfragen und fahre wieder, um gemeinsam mit Manni meinen neuen Fernseher in die Wohnung zu bringen und anzuschließen. Als dies erledigt ist, bringe ich meinen alten Fernseher zu meinem Vater. Schnell erkenne ich, wozu er die Sachen aus der Apotheke brauchte. Sein Hemd ist über der OP-Narbe total feucht und der Fleck wird immer größer, während wir den Fernseher anschließen. Ich sage meinem Vater, dass ich ihn sofort ins Krankenhaus bringe, was er ablehnt. Ich schaue mir die Wunde an und lasse ihm die Wahl. Entweder bringe ich ihn ins Krankenhaus oder rufe einen Krankenwagen. Unter Protest darf ich ihn ins Krankenhaus bringen.

Im Krankenhaus in Brambauer kann oder will man nicht wirklich was für ihn tun. Er bekommt eine Auflage und wir werden nach Dortmund in die Städtischen Kliniken geschickt. Das Krankenhaus in Brambauer kann man sich getrost sparen. In den Städtischen Kliniken ist der Wartebereich voll. Es ist fast 21.00 Uhr und es scheint so als würden wir hier viel Zeit verbringen. Ich habe Hunger und Durst und mache mich auf die Suche nach Nahrung. An einem Nahrungsautomaten komme ich mit zwei jungen Frauen, die auf dem Weg zur Notaufnahme sind ins Gespräch. Ich erkläre ihnen den Weg und versuche etwas Essbares aus dem Automaten zu bekommen. Der Automat nimmt mein Geld, aber behält das Essen. Ich gehe zurück in den Wartebereich der Notaufnahme. Die beiden jungen Frauen kommen mir entgegen. Ich frage, ob sie die Notaufnahme nicht gefunden haben. Haben sie, aber es ist ihnen zu voll, weshalb sie wieder gehen. Solche Notfälle liebe ich. Wie dringend müssen die wohl behandelt werden? Möglicherweis ist einer von ihnen ein Fingernagel abgebrochen.

Ich gehe zu meinem Vater und sage ihm, dass ich nun raus gehe, um Nahrung zu beschaffen. Auf dem Weg aus dem Krankenhaus treffe ich erneut auf die beiden jungen Frauen und kann deren Gespräch mit einer Pflegerin hören. Eine der beiden hat ein paar Herpesbläschen, weshalb sie in die Notaufnahme ist. Die Pflegerin empfiehlt ihr eine Salbe und die junge Frau freut sich. Wegen so einem Scheiß wollte die also die Notaufnahme blockieren. Was geht in ihrem Kopf wohl vor? Die sollte mal jemand schütteln. Gruselig.

Ich kaufe mir Pizzabrötchen und gehe zurück ins Krankenhaus wo mein Vater immer noch warten muss. Erst um 22.17 Uhr wird er aufgerufen und gegen 23.00 Uhr ist die Wunde versorgt. Sie wurde etwas geöffnet und gereinigt. Diese Prozedur soll mein Vater am Samstag und am Sonntag wiederholen, was bedeutet, dass wir hier wieder viel Zeit verbringen dürfen. Ich glaube, mein Vater hätte gar nicht so früh entlassen werden sollen. Aus der Wunde lief allerdings kein Blut, sondern Wundflüssigkeit. Macht das einen Unterschied?

14. Juni 2014
Agnes und ich kommen gerade vom einkaufen zurück und wollen etwas zu essen machen, als mein Vater anruft. Aus der Wunde läuft wieder so viel Flüssigkeit, dass er sofort zum Krankenhaus möchte. Sofort mache ich mich auf den Weg, um ihn abzuholen.

Der Wartebereich ist erneut gut besucht und ich habe Hunger. Etwa eine Stunde dürfen wir warten, bevor mein Vater aufgerufen wird. Heute ist eine junge Ärztin da. Diese öffnet die Wunde, zieht sich Handschuhe an und steckt den kleinen Finger in die Wunde. Dann macht sie ein Ultraschall und sagt, dass alles gut aussieht. Mein Vater bekommt einen neuen Verband und wir dürfen gehen. Nächster geplanter Termin. Morgen.

Da ich den Bericht des Krankenhauses bei mir habe, zeige ich ihn Agnes. Sie sagt, dass mein Vater nicht nur Bauchspeicheldrüsenkrebs hat. Auch Krebs im Bauchraum und Prostatakrebs. Im Krankenhaus geht man davon aus, dass der Tumor an der Bauchspeicheldrüse der Verursacher des anderen Krebses ist. Doch vielleicht war es auch die Prostata, denn da hatte mein Vater schon oft Probleme. Doch ob da etwas festgestellt wurde, weiß ich nicht und ist zum jetzigen Zeitpunkt unwichtig. Obwohl es nicht wirklich viel ändert, schockt mich das. So viel Krebs. Letzte Hoffnungen zerplatzen. Das kann nicht lange gutgehen. Die Chemotherapie wird als Begleitbehandlung bezeichnet. Von Heilung kein Wort. Sterbebegleitung würde wohl eher passen.

Kaum ist mein Vater zu Hause, ist der Verband durchnässt und die Wundflüssigkeit läuft wie verrückt. Er überlegt, sich ein Taxi zu rufen, entscheidet sich dann aber dafür, sich hinzulegen. Von all dem bekomme ich nichts mit, weil ich meinen Geburtstag gerade nachfeiere. Meine Geburtstagsfeiern stehen unter keinem guten Stern.

15. Juni 2015
Weil ich von all der Flüssigkeit nichts weiß, schlafe ich aus und sage meinem Vater, dass wir erst am Nachmittag zum Krankenhaus fahren. Er sagt, dass er nicht aufsteht bis dahin, weil die Wunde weniger tropft, wenn er im Bett liegt. Da ich davon ausgehe, dass es nicht so schlimm ist, sage ich ihm, dass es eine gute Idee ist und hole ihn erst um 16.30 Uhr ab. Erst da erfahre ich, dass er gestern schon mit einem Taxi zum Krankenhaus wollte. Außerdem sagt er mir, dass er sich entschieden hat, mir meinen neuen Fernseher komplett zu bezahlen. Das ist mir etwas unangenehm, aber ich würde an seiner Stelle vermutlich genauso handeln.

Im Warteberiech ist es fast leer und ich glaube tatsächlich, dass wir schon bald dran sind. Doch kurz bevor es soweit ist, kommt eine Frau, die ihre Hand in den Mixer gehalten hat, in die Notaufnahme. Diese wird unverzüglich behandelt und so vergeht über eine Stunde bis mein Vater endlich an der Reihe ist. Der Arzt vom Freitag hat wieder Dienst, öffnet und reinigt die Wunde, sagt, dass es eigentlich gut ist, wenn die ganze Flüssigkeit abfließt und macht einen Verband auf die Wunde.

Als ich zusammen mit meinem Vater seine Wohnung in der dritten Etage erklommen habe, ist mein Vater total K.O. und muss sich sofort hinlegen. Es ist völlig neu für mich, ihn so zu sehen und macht mir Sorgen. Ich nehme Wäsche ab, hänge neue auf und mein Vater erholt sich soweit, dass er aufstehen und sich auf die Couch vor dem Fernseher legen kann.

16. Juni 2014
Pünktlich erscheinen wir zum Termin in der Onkologie. Dann folgt das, was immer folgt. Wir warten. Als wir genug gewartet haben, wird mein Vater aufgerufen und es folgt ein Aufklärungsgespräch über den Einbau des Ports. Mein Vater sagt, dass die das schon machen, weil er ja eh nichts davon weiß und sie die Experten sind. Der Eingriff soll am 24. Juni stattfinden. Übermorgen folgt noch ein Gespräch mit einem Arzt. Da soll es wohl um die Krebserkrankung gehen. Viele Gespräche, viele Unterlagen zum unterschreiben. Flure voller Patienten. So wird es wohl eine Weile weitergehen. Gut ist im Moment nur, dass mein Vater alleine gehen kann und es ihm nicht total schlecht geht. Während ich auf ihn warte, denke ich darüber nach, wie es sein wird, wenn ich später ständig solche Termine habe. Mich wird vermutlich niemand begleiten. Alleine werde ich auf den Fluren, in den Wartebereichen sitzen und alles über mich ergehen lassen. Vielleicht habe ich Freunde, die mich ab und zu begleiten, aber verlangen kann ich es nicht und verpflichtet sind sie nicht. Düstere Aussichten, aber meine Zukunft. Die Familiengeschichte spricht eindeutig dafür. Fast alle Geschwister meiner Mutter hatten Diabetes. Ihre Mutter ebenso. Fast alle hatten Herzprobleme und mussten Marcumar nehmen. Der Unterschied zu mir ist, dass ich nie geraucht habe, keinen Alkohol trinke und kein Übergewicht habe. Dafür habe ich so etwas wie Depressionen. Möglicherweise brechen all die Krankheiten etwas später bei mir aus. Auf der Seite meines Vaters scheint Krebs ein Thema zu sein. Mein Vater und seine Schwester sind da betroffen. Allerdings ging es meinem Vater bis dahin gut. So viel Glück erwarte ich nicht zu haben. Ab sechzig, so meine Prognose, ist der Spaß vorbei. Bleibt zu hoffen, dass die Medizin in sechzehn Jahren weiter ist.

Nachdem Krankenhaustermin gehen wir kurz einkaufen. Ich bringe meinem Vater den Einkauf hoch und er muss sich erst mal hinlegen. Das Wohnen ohne Fahrstuhl in der dritten Etage ist spätestens jetzt nicht mehr so praktisch. Vor der OP war mein Vater viel fitter. Ob er es je wieder wird? Oder bleibt diese Erschöpfung nun? Ich fürchte es irgendwie. Ich bin wohl kein Optimist.

Am Nachmittag wird Paps alter Röhrenfernseher abgeholt. Wir hatten ihn zum verschenken angeboten. Als er abgeholt wird, bietet mein Vater auch noch den anderen, kleiner Fernseher, den meine Mutter immer benutzt hat, an. Die Idee finde ich super, weil das Gerät seitdem meine Mutter zusammengebrochen ist, nicht mehr benutzt wurde. Dennoch hätte ich das meinem Vater nicht vorgeschlagen, weil ich dachte, er wollte ihn als Andenken oder aus sentimentalen Gründen nicht abgeben. Ich finde es gut, dass er ihn abgibt. Obwohl es irgendwie auch ein Gerät ist, was an meine Mutter erinnert. Aber letztlich auch nur ein TV-Gerät.

Es ist schwer vorstellbar, dass mein Vater nicht wieder gesund wird. Der Tag ist wie viele Tage und doch ist er anders. Mein Vater ist schwer krank und keine Rettung möglich. Nachdem er vom Hausarzt zurück ist, bringe ich ihn nach Hause und wir gucken zusammen das Länderspiel Deutschland – Portugal. Viele Möglichkeiten dieser Art werden wir wohl nicht mehr haben. Und noch eine WM zusammen zu erleben ist wohl völlig ausgeschlossen. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Wie viel Zeit mit ihm verbringen, um mir später nichts vorzuwerfen zu haben? Aber einfach so leben wie bisher, erscheint auch falsch. Nach dem Spiel gehe ich nach Hause und lasse ihn zurück. Hätte ich bleiben sollen?

17. Juni 2014
Am Nachmittag bringe ich ein paar Eier mit und wir essen zusammen, hängen anschließend Wäsche auf, er spült, ich trockne und reden wir noch eine Weile. Dann möchte er sich hinlegen und ich gehe wieder. Am Abend telefonieren wir nochmal. Mehr Kontakt haben wir heute nicht. Zu wenig?

18. Juni 2014
Termin zur Besprechung der Chemotherapie. Eine große Ärztin fragt meinen Vater, was er denn von seinem Krebs weiß. Er weiß, dass er nicht operiert werden kann und eine Chemotherapie braucht. Die Ärztin fragt den Allgemeinzustand meines Vaters ab, findet diesen erstaunlich gut und schlägt drei Arten von Chemotherapie vor. Eine milde, eine mittlere mit zwei Wirkstoffen und eine harte mit drei Wirkstoffen. Zu letzterer rät sie, weil diese am wirksamsten ist und sie glaubt, dass sie für meinen Vater genau passt. Es geht darum, den Krebs zurückzudrängen oder wenigstens zu stoppen. Ihm das Leben mit dem Krebs zu erleichtern und zu verlängern. Sie klingt sehr positiv. Ohne das Telefongespräch, welches ich am Tag der OP mit dem operierenden Arzt geführt habe, wäre ich jetzt positiv gestimmt. Warum musste er mir nur sagen, dass mehr als ein Jahr nicht möglich ist bei der Krebsform? Diese Ärztin klingt positiver. Ich glaube, ich mag den anderen Arzt nicht. Er hat Hoffnungen zerstört, noch bevor sie aufkommen konnte. Zum Glück weiß man Vater nichts davon und von mir wird er es auch nie erfahren. Er entscheidet sich für die Variante mit den drei Mitteln.

Die Chemotherapie soll alle zwei Wochen stattfinden. Er bekommt dann bis zum nächsten Tag eine Pumpe mit, die weitere Mittel in seinen Körper pumpt. Nebenwirkungen sollen sich in Grenzen halten. Vielleicht etwas dünneres Haar, möglicherweise Durchfall oder Verstopfung. Aber es kann auch passieren, dass eines der drei Mittel einen Herzinfarkt verursacht. Diese Gefahr sieht sie bei meinem Vater zwar nicht, aber ausschließen kann sie es auch nicht. Eine Thrombose sei auch möglich. Und Taubheitsgefühl in Händen und Füßen. Das sind die wesentlichen Nebenwirkungen, die auftreten können, aber nicht müssen. Ich frage, ob es noch etwas zu beachten gibt. Besondere Nahrung oder so. Da gibt es laut Ärztin nichts. Mein Vater möchte wissen, wann man denn weiß, ob die Therapie anschlägt. Nach sechs oder sieben Behandlungen, also etwa drei Monaten, kann man wohl erkennen, ob und wie die Therapie wirkt. Wichtig sind regelmäßige Blutuntersuchungen während der Behandlung. Nach drei Monaten folgt dann eine Untersuchung der Bauchspeicheldrüse. Und dann wird entschieden, wie es weitergeht. Drei Monate sind viel und wenig zugleich. Die Wahrscheinlichkeit, dass mein Vater danach noch lange zu leben hat, wird, so ist es leider, eher gering sein. Bauchspeicheldrüsenkrebs ist einfach eine miese Prognose.

Als wir zum Auto gehen, sagt mein Vater, dass er gar nicht wusste, dass der Krebs durch die Chemotherapie nicht mehr weg geht und für immer bleibt. Nein, wirklich informiert haben ihn die Ärzte bisher nicht. Seine Hoffnungen, so er sie denn hatte, dass er irgendwann wieder Krebsfrei sein wird, sind nun für immer dahin. Für mich bleibt es unvorstellbar, dass mein Vater nicht mehr lange zu leben hat.
Wir gehen einkaufen. Alles so wie immer in den letzten Monaten und doch völlig anders. Als ich meinem Vater wieder alles abnehmen und tragen will, ist er sichtlich genervt. Ich muss lernen, dass er so normal wie möglich leben will und aufhören, immer alles abnehmen zu wollen. Der Zeitpunkt, da er vieles nicht mehr kann, wird eher kommen als mir lieb ist. Ich habe Angst davor, dass er schon bald die Wohnung im dritten Stock nicht mehr alleine erreichen kann. Alles ist finster.

Als wir am Nachmittag zusammen Fußball sehen, reden wir über die Chemotherapie. Mein Vater rechnet aus, wie oft er nach Lünen muss und wie hoch die Zuzahlungen für die Taxifahrten sind. Er geht mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit davon aus, dass er lange Zeit Chemotherapie bekommt und es ihm so gehen wird, wie jetzt. Das finde ich auf der einen Seite sehr schön, aber auch sehr tragisch, weil der blöde Arzt in Dortmund mir ja gesagt hat, dass mein Vater gar nicht so viel Zeit haben wird. Natürlich kann er sich geirrt haben und alles anders kommen. Doch leider ist die Wahrscheinlichkeit nicht so hoch. Und die Zeit vergeht so verdammt schnell, dass ein Jahr nur eine winzige Kleinigkeit ist. Es ist schön, dass mein Vater davon ausgeht, dass die Chemotherapie hilft. Vielleicht hat er alleine deshalb am Ende ja mehr Zeit. Das wäre toll.

19 Juni 2014
Ich bin auch weiter überfordert und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.

23. Juni 2014
Bei meinem Vater werden die letzten Klammern entfernt und der Arzt schlägt ihm eine parallele Behandlung neben der Chemotherapie vor. Wenn mein Vater es richtig verstanden hat, handelt es sich dabei um die Misteltherapie, die auch schon der Heilpraktiker mir für meinen Vater empfohlen hat. Da mein Vater sich aber nicht sicher ist, will er am Donnerstag, wenn er zum Ultraschall muss, nochmal nachfragen. Mich scheint eine Erkältung heimzusuchen, was sich in den letzten Tagen schon angekündigt hat. Wenn mein Körper zu viel Stress hat und zu wenig Schlaf bekommt, was in den letzten Tagen durchaus der Fall war, dann nimmt er sich eine Auszeit. Das war letztes Jahr auch so, wenn der Stress durch die Situation mit meiner Mutter zu viel wurde und ich es nicht schaffte, mal abzuschalten. Da mir das abschalten in den letzten Tagen nicht gelungen ist, wäre die Erkältung die logische Folge. Und schon bleibe ich, wie auch schon gestern, den ganzen Tag zu Hause und schalte etwas ab.

24. Juni 2014
Nun ist es sicher, dass ich erkältet bin. Dennoch ist das ein sehr unpassender Zeitpunkt, weil mein Vater heute den Port eingesetzt bekommt und ich ihn zu dem Eingriff bringen und später wieder abholen muss. Außerdem soll der nach dem Eingriff 24 Stunden nicht alleine sein. Ob es aber klug ist, wenn ich ihn mit meinen Erkältungsviren bombardiere, glaube ich auch nicht. Hoffentlich stecke ich ihn nur nicht an.

Wir sind gerade losgefahren als sein Telefon klingelt. Das Krankenhaus. Der Eingriff wird verschoben. Gegen 13.00 Uhr, so vermutet man, wird er stattfinden. Zurück nach Hause. Ausruhen und warten.
Es ist bereits 13.30 Uhr als wir den Anruf bekommen, dass wir nun kommen sollen. Da der ganze Aufenthalt länger dauert, bringe ich meinen Vater hin und hole ihn später ab. Anschließend soll ich 24 Stunden bei ihm bleiben. Mit der Erkältung sicher keine gute Idee. Kaum sind wir in der Wohnung, bin ich völlig erschöpft. Weil das so nichts bringt und gefährlich ist, gehe ich nach Hause, wo die Erkältung mich dann völlig in Besitz nimmt. So telefoniere ich mehrmals mit meinem Vater, um zu hören, wie es ihm geht.

25. Juni 2014
Die Erkältung hat mich dermaßen außer Gefecht gesetzt, dass gar nichts geht. Die Tatsache, dass ich in letzter Zeit drei Kilo an Gewicht verloren habe, trägt sicher ihren Anteil an meinem Zustand. Keine Reserven mehr vorhanden. Zu schwach, um einzukaufen, weshalb mein Vater, als er seinen Autoschlüssel abholt, vorschlägt, für mich einkaufen zu gehen. Ich bin so erschöpft, dass ich sein Angebot annehmen muss. Als er meine Wohnung verlässt, sprühe ich seine Hände mit Desinfektionsspray ein. Er darf sich nicht anstecken.

29. Juni 2014
In den letzten Tagen beschränkte sich der Kontakt größtenteils aufs telefonieren. Nur, wenn mein Vater mir etwas gebracht hat, sahen wir uns kurz. Meine Illusion, dass er akut nicht in Lebensgefahr ist und wir dieses Jahr locker überstehen, wird durch unser heutiges Telefonat wieder geradegerückt. Er klingt nicht gut und klagt über Verdauungsprobleme. Das Problem mit dem Darm hat sich durch die Einnahme von Laxatan nicht verbessert, obwohl mein Vater anfangs sagte, es würde helfen. Am Donnerstag, so sagt er, konnte der Arzt auch kein Ultraschall machen, weil sein Bauch voller Luft war. Er soll weiter Laxatan nehmen und Fencheltee trinken. Das klingt alles nicht so, wie ich mir das gedacht hatte. Haben die Darmprobleme doch mit dem Krebs zu tun? Und wird mein Vater nicht, wie ich es mir vorgestellt habe, noch ein paar beschwerdefreie Monate vor sich haben, sondern langsam und elendig an den Darmproblemen sterben? Ich fürchte es. Irgendwann kommt er ins Krankenhaus und stirbt dort langsam, ähnlich wie meine Mutter. Und meine Gedanken, dass uns das dieses Jahr noch erspart bleibt, dass die Chemo hilft, sind genauso schnell verflogen, wie ich sie gerufen habe. Willkommen zurück in der Realität.

Um die Behandlung mit Hilfe des Heilpraktikers zu unterstützen, braucht dieser Informationen über die Chemotherapie. In den Unterlagen meines Vaters finde ich den Namen der Therapie. FOLFIRINOX. Bestehend aus drei verschiedenen Präparaten. Dummerweise mache ich nun den Fehler, im Internet nach der Therapie zu suchen und lese zwangsläufig etwas über den Krebs meines Vaters. Selbst wenn der ganze Tumor hätte operativ entfernt werden können, wäre eine Lebenszeit von zwei Jahren nicht zu überschreiten. Bei ihm ist die Prognose fünf bis acht Monate. Die Chemotherapie, die nicht bei vielen gemacht werden kann, wegen der vielen Nebenwirkungen, kann sein Leben um maximal vier Monate verlängern. So sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass mein Vater dieses Jahr überlebt, beträchtlich. Und ich bin geschockt. Ich hätte das nicht lesen sollen. Mir wird schlecht und ich bin überfordert. Warum wird einem Patienten nicht gesagt, dass er nicht mehr viel Zeit hat? Warum lässt man ihn in dem Glauben, dass er mit der Chemotherapie möglicherweise Jahre leben kann? Und wieso muss ich mehr wissen als mein Vater?

Meine Gedanken kreisen um meinen Vater, seinen Tod, seine Beerdigung. Um den Tod meiner Mutter, der doch noch nicht lange her ist. Ich frage mich, wie ich alles regeln kann nach seinem Tod. Fühle mich überfordert, völlig gestresst. Niemand wird mir helfen können, weil ich ja der letzte Angehörige bin und verantwortlich. Nach dem Tod meines Vaters bin ich mir vollends selbst überlassen. Gedanklich drehe ich mich im Kreis und keiner der Gedanken ist schön. Agnes versucht mich aus dem Gedankenkarussell zu befreien, was aber schwierig ist. Sie sagt, dass ja noch nichts passiert ist und im Moment alles okay ist. Ich solle die Zeit mit meinem Vater genießen. Abermals empfinde ich das Leben als eine Frechheit. Eine riesige Verarsche. Darf ich überhaupt Spaß haben, Pläne machen? Ist es nicht eine Unverschämtheit, dass ich darüber nachdenke, wie ich nach seinem Tod alles regle? Ist es nicht pervers über die Zeit nach seinem Sterben nachzudenken? Wo und wie wird es passieren? Friedlich in der Wohnung, spontan irgendwo unterwegs oder quälend im Krankenhaus? Wann wird er wissen, dass er keine Chance hat und nicht überleben kann?

In dieser Woche hat er seinen Wagen durch den TÜV gebracht und plante einen Rußpartikelfilter einzubauen. Es ist so unfair. Er hat doch keinem was getan, ist zu allen freundlich und nett, kümmert sich um mich, unterstützt mich, hält seine Wohnung sauber, lebt ein Leben, dass auf Jahre funktionieren könnte. Aber seine Zeit ist um. Einfach so. Mich kotzt das Leben an.

30. Juni 2014
Heute beginnt die Chemotherapie, die er hoffentlich verträgt. Noch immer frage ich mich, wieso man meinem Vater nicht die Wahrheit über seine Erkrankung sagt. Woher nehmen sich Ärzte das Recht, ihre Patienten nicht wirklich zu informieren? Sind die Götter in Weiß arrogante, überforderte Arschlöcher oder macht es Sinn Patienten nicht zu informieren? Gibt es Studien?

Die Frage meines Vaters, ob die Misteltherapie während der Chemotherapie nicht Sinn machen würde, beantwortet der Arzt mit einer kleinen Erklärung. Die Misteltherapie ist toll, hat aber Nebenwirkungen. Da die Chemotherapie auch Nebenwirkungen haben kann und man dann nicht weiß, welche Therapie für die Nebenwirkungen verantwortlich ist, rät er dazu, die Misteltherapie während der Chemopause zu machen. Ich halte das für ausgemachten Blödsinn, fürchte aber, dass aufgrund dieser Aussage der Hausarzt die Misteltherapie nicht machen wird. Und mein Vater, so wie ich ihn kenne, wird kaum von sich aus zum Heilpraktiker gehen und auf eigene Faust handeln. Ich denke, er vertraut da eher den Ärzten. Den Göttern in Weiß.

Bevor die Chemotherapie beginnen kann, muss unten in der Apotheke erst alles zusammengemischt werden. In Schutzanzügen, weil die Substanzen hochgiftig sind. Da stellt so eine Misteltherapie sicher die größere Gefahr dar. Chemie über alles. Krank, aber leider typisch.

Die Behandlung dauert vier Stunden und weitere 48 Stunden trägt mein Vater danach noch eine Pumpe, die ein weiteres Medikament zuführt. Zwei Tage bombardieren mit Chemie, da bleibt kein Platz für natürliche Sachen. Wirklich vertrauenswürdig.

Glücklicherweise gibt es zunächst keine Nebenwirkungen, wie mein Vater sagt. Es geht ihm gut und er hat Hunger. Wäre schön, wenn er von Nebenwirkungen verschont bleibt. Die Misteltherapie werde ich am Mittwoch mit dem Heilpraktiker besprechen und versuchen, meinen Vater dazu zu bringen, sie doch zu machen.

02. Juli 2014
Fakten. Die 48 Stunden-Pumpe wird meinem Vater entfernt. Nun kann sich sein Körper ein paar Tage gegen das Gift, nix anderes sind die Krebsmittel, wehren. Er ist schlapp und bleibt den Tag über im Bett. Ich rede währenddessen mit dem Heilpraktiker über mögliche Mittel, die es meinem Vater und seinem Körper erleichtern mit der Chemotherapie umzugehen. Es gibt vieles, was mein Vater tun sollte. Sein behandelnder Arzt ist allerdings gegen Mittel, die keine pure Chemie sind, skeptisch. Diese könnten zu Nebenwirkungen und falschen Ergebnissen führen. Ich hasse Ärzte, deren Engstirnigkeit so ausgeprägt ist. Die Wahrheit und die Heilung liegen für sie nur in der Chemie. Bornierte Flachwichser.

Selbst die Mittel, die mein Vater vor der Chemo genommen hat, Lachsölkapseln, Zink, Probiotik, hat er, wie ich später erfahre, abgesetzt. Er glaubt, dass alleine die Chemotherapie ausreicht und vor allem glaubt er, dass er, je öfter er die Chemo bekommt, umso besser mit ihr klarkommt. Gewöhnlich ist das Gegenteil der Fall. Vor allem, wenn er seinem Körper nicht gegen all das Gift hilft. So weise ich ihn darauf hin, dass es gut ist, wenn er seine Omega-3 Kapseln wieder nimmt. Was die anderen Dinge angeht, habe ich in den nächsten Tagen sicherlich eine Menge Überzeugungsarbeit zu leisten.

03. Juli 2014
Heute kommt das Pankreazym an. Dies soll die Darmtätigkeit bei meinem Vater anregen bzw. verbessern. Außerdem sind Enzyme wohl in der Lage, den Schutzschild der Krebszellen zu zerstören. Somit hilft das Mittel, wenn alles klappt und mein Vater es verträgt, doppelt. Das ist ein Anfang. Weitere Schritte müssen folgen.

Meinem Vater geht es nicht gut, was er, untypisch für ihn, sogar zugibt. Ihm ist übel und er klingt kraftlos als wir telefonieren. Dabei war das erst die erste von sechs bis acht Chemotherapien. Vergiftet werden ist einfach Scheiße.

04. Juli 2014
Das Pankreazym hat mein Vater noch immer nicht bekommen. Am Nachmittag fahren wir einkaufen und je länger wir unterwegs sind, desto schlechter geht es ihm. Er sieht auch irgendwie abgemagert aus. Ich frage ihn, ob er Calcium, Zink, Probiotik und das Lachsöl genommen hat. Nur Zink und Lachsöl. Alles andere ist ihm zu viel. Er will seinen Körper nicht weiter belasten. Ich erkläre ihm, dass sein Körper all diese Dinge aber braucht, um diese hochgiftige Chemotherapie zu verkraften. Er sieht es wohl nicht ganz so. Sieben Kilo hat er in den letzten Tagen abgenommen. Nicht der Krebs scheint ihn zu vernichten, sondern die Chemotherapie. Und mir stellt sich die Frage, ob sein Leben nicht besser ohne diese Chemo wäre und ob diese Therapie sein Leben wirklich verlängert und angenehmer macht oder ihn im Gegenteil quält und seine Zeit verkürzt. Gift ist nun einmal Gift.

Nach dem einkaufen trage ich die Einkäufe hoch und mein Vater schafft es kaum in die dritte Etage hoch. Kaum in der Wohnung angekommen, muss er sich hinlegen und durchatmen. Ich räume die Einkäufe weg, nehme die Wäsche ab und spüle, während mein Vater sich langsam erholt. Ich gebe ihm Gastritol, in der Hoffnung, dass es vielleicht hilft. Erneut reden wir über die Misteltherapie. Er will nicht, weil er meint, dass seinem Körper schon genug zugemutet wird. Obwohl ich anderer Meinung bin, muss ich es akzeptieren. Er entscheidet, nicht ich.

05. Juli 2014
Gegen 09.00 Uhr ruft mein Vater mich an. Da ich nicht mit seinem Anruf gerechnet habe, befürchte ich natürlich, dass es ihm nicht gut geht. Doch das Gegenteil ist der Fall. Er klingt besser und sagt, dass er schon Kaffee getrunken hat und die Übelkeit weniger geworden ist. Im Gegensatz zu gestern ist er kaum wiederzuerkennen.

Als ich gegen Mittag zu ihm komme, ist das Essen bereits fertig. Er hat darauf bestanden, heute zu kochen. Nun ist er allerdings so schwach, dass er sich direkt nach dem Essen hinlegen will. Und er hat nicht nur Essen gekocht. Er hat die Zeitung geholt, den Balkon gewischt, die Waschmaschine befüllt und gestartet. Und dies sind nur die offensichtlichen Dinge. Wer weiß, was er noch alles angestellt hat. So legt er sich nach dem Essen, immerhin schafft er eine kleine Mahlzeit, hin und ich kann spülen, die Wäsche aufhängen und Wasser holen. Will er zwar alles selber machen, lasse ich ihn aber nicht. Er soll sich ausruhen. Das Pankreazym ist endlich da, so dass er es nehmen kann. Calcium hat er nicht genommen, weil er nicht so viel mehr nehmen will. Es scheint als hält er Calcium für Medizin. Ich überrede ihn täglich Magnesium zu nehmen. Was all diese zusätzlichen Dinge angeht, werde ich noch viel Arbeit haben, um ihn zu überzeugen, dass sie seinem Körper weniger schaden als so eine Chemotherapie. Heute denke ich, dass ich es schaffen werde.

Als ich ihn am Nachmittag erneut besuche, geht es ihm besser. Er hat gegessen und sagt, dass er die Woche nun nutzen will, um das verlorene Gewicht zurück zu bekommen. Viel Schokolade und Cola sollen dabei helfen. Ich sage ihm, dass darin zu viel Zucker enthalten ist und sich Krebstumore von Zucker ernähren. Statt Schokolade empfehle ich ihm Nüsse. Erneut weise ich darauf hin, dass er seine Tabletten nehmen soll. Wirklich überzeugen kann ich ihn nicht.

Am Abend telefonieren wir. Es geht ihm recht gut, er isst ordentlich und klingt weitaus besser als in den letzten Tagen. Seine Zinktabletten will er nicht nehmen, weil ihm das alles zu viel wird. Ich sage ihm, dass es kein Problem ist, wenn er eine Tablette mehr nimmt und sich nicht so anstellen soll, weil er für die nächste Chemotherapie Kraft braucht. Und Zink, Magnesium, Pankreazym und Calcium einzunehmen ist wirklich überschaubar. Er sagt, dass er die Sachen einnehmen wird. Ob er das nur sagt, dass ich endlich Ruhe gebe, kann ich nicht beurteilen.

07. Juli 2014
Nach Erkennen der Krebserkrankung haben die Patienten in etwa eine Überlebensdauer von 4 – 6 Monaten. Mich verwirren solche Aussagen. Würden sie doch bedeuten, dass bei den Patienten, die für diese Statistik benutzt werden, die Krankheit immer etwa zum gleichen Zeitpunkt vor der Entdeckung ausgebrochen ist. Das erscheint mir unwahrscheinlich. Ich vermute, dass es in Wirklichkeit nicht die Zeit, die einem nach erkennen der Erkrankung bleibt, ist, sondern die Zeit, die einem nach Beginn der Chemotherapie bleibt. Denn das pure Gift, was meinem Vater da in die Venen gepumpt wird und sein Zustand nach nur einer Behandlung, sprechen eindeutig dafür. Mein Vater hatte bis zur ersten Chemotherapie vor einer Woche kräftige Arme, nun hat er dünne Arme eines alten Mannes. Sein Gesicht ist faltig und eingefallen. Wenn die Chemotherapie ihn in diesem Tempo auffrisst, sind vier bis sechs Monate wirklich das Maximum. Wenn dieser Krebs unbesiegbar ist, was soll dann so eine Therapie? Da geht es vermutlich nur um den Verdienst von Ärzten und Pharmakonzernen. Der Patient ist, wie so oft, nur eine Einnahmequelle. Passend dazu lese ich eine Studie, in der von 79 befragten Onkologen 58 sagen, dass sie, wenn sie an Krebs erkranken, keine Chemotherapie über sich ergehen lassen würden. Sie halten die Chemotherapie wegen der hohen Giftigkeit für ineffektiv. Sie indes therapieren ihren Patienten weiter auf diese Art, weil sie nur diese Vergiftung ihren Patienten anbieten dürfen. Interessanterweise wird da niemand hellhörig, wenn Ärzte, die ihre Patienten mit Gift vollpumpen, sich dieses Gift nicht verabreichen würden. Alles im Namen der Finanzen, Nichts im Namen der Patienten. Kranke Gesellschaft.

Meinem Vater wird es gutgehen und er wird mit der Behandlung so lange wie möglich so weiter leben können wie bisher. So in etwa war die Aussage des Arztes, der meinen Vater operiert hat. Ich empfinde diese Aussage, nach nur einer Chemobehandlung als freche Lüge. Denn vor der Behandlung war mein Vater in eindeutig besserer Verfassung als er es jetzt ist. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn Menschen das ganze Krankensystem und die perfiden Behandlungsmethoden öfter hinterfragen würden. Vielleicht sollte die Presse mal dokumentieren, wer am meisten von gewissen Behandlungen profitiert. Aber solche Studien sind in unserer angeblichen Demokratie dann doch nicht so angesehen. Am Ende passiert es nämlich noch, dass irgendwer gesund wird, die Konzerne aber weniger Gewinne machen. Und das kann wirklich niemand wollen. Höchstens die Patienten, aber die sind nebensächlich. Menschen sollen produktiv sein. Entweder arbeiten oder, wenn sie krank sind, die Pharmaindustrie und Ärzte reich machen. Das System stinkt und wird auch immer weiter stinken.

08. Juli 2014
Kaum geht es meinem Vater minimal besser, putzt er die Wohnung und geht an seine Grenzen. Vom Pankreazym bekommt er, zumindest vermutet er das, Durchfall. Ich werde den Heilpraktiker fragen, ob es dazu eine Alternative gibt. Manchmal ist mein Vater offen für all diese Mittel, im nächsten Moment will er sie nicht mehr nehmen. Und so muss ich ihm täglich die Notwendigkeit dieser Mittel verdeutlichen. Und immer, wenn ich glaube, dass es angekommen ist und er alles einnimmt, ist er nur wenig später der Meinung, dass das alles nichts bringt und die Ärzte ihm schon alles geben, was er benötigt. Ein anstrengender Kreislauf, der sicher alles andere als zuträglich für seine Gesundheit ist.

09. Juli 2014
Endlich sind das Selen und das Vitamin D angekommen. Ich hoffe, dass mein Vater die Tabletten auch regelmäßig nehmen wird. Und außerdem habe ich die Hoffnung, dass irgendwas davon seinem Allgemeinzustand gut tun wird.

11. Juli 2014
Meinem Vater scheint es besser zu gehen. Er hat zugenommen und möchte bis Sonntag noch ein weiteres Kilo zunehmen, um mit 90kg in die nächste Chemotherapie zu gehen. Er ist nicht mehr ganz so schlapp, sieht aber nicht so gut aus, wie vor Beginn der Chemotherapie. Er sagt, dass er seinen früheren Hausarzt getroffen hat. Dieser fragte nach, wie es ihm geht. Mein Vater sagte, dass er einen anderen Hausarzt hat und die Chancen, dass die Chemotherapie wirkt bei 50:50 liegen. Dann sagt er, dass es, wenn die Chemotherapie nicht wirkt, eben so ist. Sehr sachlich. Und sehr erschreckend. Irgendwie hatte ich das mögliche Ende wieder etwas in den Hintergrund verschoben. Die letzten Tage wirkt mein Vater nämlich so viel besser, dass es mir unmöglich erscheint, dass die Chemotherapie nicht wirkt. In Wirklichkeit will ich gerade einfach nur, dass die Chemotherapie wirkt.

Wir essen zusammen, räumen Sachen aus meinem Keller in sein Auto und ich bringe die Sachen zum Wertstoffhof. Anschließend hole ich zwei Schränke aus seinem Keller und wir bringen diese in meinen Keller. Dann waschen wir zusammen sein Auto, was ihm so gut gefällt, dass er vorschlägt, dass wir das öfter machen. Und später, nach einer kurzen Pause, kaufen wir zusammen ein. Nichts wirkt so als wäre es bald vorbei. Lediglich seine Kraft und Kondition sind schwächer als sonst. Aber muss er deshalb denn gleich sterben?

Dieser Tag widerspricht den letzten Tagen. Dieser Tag war ein fast normaler Tag. Davon hat mein Vater noch so viel mehr verdient. Doch schon ab Montag wird wieder alles anders. Die nächste Portion Gift wird in seinen Körper geleitet und die Folgen hat er zu tragen. Hoffentlich wird es nicht wieder so schlimm, wie beim letzten Mal.

14. Juli 2014
Die zweite Chemotherapie startet. Vorher fragt mein Vater nach seinen Blutwerten. Diese sind, so zeigt man ihm am Computer, alle gut und er soll auch keine zusätzlichen Sachen einnehmen. Wenn etwas fehlt, dann bekommt er es dort. Mein Vater ist nun endgültig überzeugt, dass dort alles richtig gemacht wird und will nichts mehr einnehmen. Erst nachdem ich mich fürchterlich aufrege, sagt er, dass er bis auf das Vitamin B alles weiter nimmt. Allerdings habe ich meine Zweifel, dass er es auch tut. Er vertraut den Ärzten, dass sie alles unter Kontrolle haben und sofort eingreifen, wenn es Probleme gibt. Und dieses Vitamin D, so sagte man ihm, kann der Körper nicht abbauen, weshalb er es auf keinen Fall mehr nehmen soll. Ich glaube, dass man den Ärzten ins Gehirn geschissen hat, aber weil Ärzte gelegentlich mit Göttern verwechselt werden, muss ich mich wohl irren.

Wie auch nach der ersten Chemotherapie geht es meinem Vater zunächst gut und er hat tierischen Hunger. Beim letzten Mal fingen die Probleme am Mittwoch an. Es bleibt abzuwarten, ob es dieses Mal ähnlich verlaufen wird.

17. Juli 2014
Vor der ersten Chemobehandlung wog mein Vater etwa 92kg. Danach nur noch 85kg. Vor der zweiten Behandlung hat er es geschafft etwas zuzunehmen und wog 89kg. Und heute sind es nur noch 84kg. Diese verdammte Chemotherapie ist einfach zu stark. Um seinen Allgemeinzustand zu verbessern habe ich L-Carnitin besorgt. Dreimal am Tag empfiehlt es der Heilpraktiker. Einmal steht auf der Verpackung. Nach zähen Verhandlungen erklärt sich mein Vater bereit, täglich zwei Tabletten zu nehmen. Überprüfen kann ich es eh nicht. Insgesamt ist er schlapp, kann nichts essen und schläft viel. Wieder einmal lässt sich nicht erkennen, was der Arzt damit meinte, dass mein Vater ganz normal weiter leben kann mit der Chemotherapie.

19. Juli 2014
Obwohl es total heiß ist, fast 35°, will mein Vater mit mir zum Friedhof. Zunächst kauft er zwei Rosen, dann stellen wir diese ans Grab und zünden eine Kerze an. Jeden Freitag ist das so. Anschließend möchte ich, dass mein Vater, dem sehr übel ist, sich zu Hause ausruht. Doch er besteht darauf, mit mir einzukaufen. Im Geschäft geht es ihm so schlecht, dass wir gelegentliche Pausen machen müssen. Das Gift wirkt. Während ich die Sachen ins Auto packe, muss er sich setzen. Und kaum zu Hause angekommen, muss er sich hinlegen. Erst nach ein paar Minuten geht es wieder. Ich bewundere, dass er das alles so tapfer durchhält, Pläne für die Zeit nach der Chemotherapie macht und das alles erträgt. Mir ist bewusst, dass er nicht wirklich eine Wahl hat, aber ich wäre permanent verzweifelt. Es ist erschreckend, wie gemein das Leben sein kann. Und wofür das alles? Man weiß es einfach nicht.

20. Juli 2014
Sonntag. Wir sitzen bei meinem Vater und schauen Formel 1. Mein Vater klagt über heftige Übelkeit. Mit der Misteltherapie ließe sich das vielleicht verhindern oder wenigstens abschwächen, doch bisher hat sich mein Vater vehement gegen diese Therapie entschieden.

Trotz Übelkeit versucht er zu essen. Viele kleine Portionen über den Tag verteilt. Seine Muskeln sind fast völlig abgebaut. Die Arme schlaff, Falten am Hals. Das Gift wirkt weiter. Hoffentlich auch da, wo es wirken soll. Später möchte er zum Friedhof. Wegen der Temperaturen rede ich ihm das aber aus. Er ist zu schlapp, um so etwas zu tun. Ich gehe alleine zum Friedhof.

21. Juli 2014
Die nächste Blutuntersuchung. Angeblich alle Werte gut. Gegen die Übelkeit bekommt er ein anderes Mittel. Hoffentlich hilft es. Noch mehr Chemie für den Körper. Nachdem er zurück ist, muss er sich hinlegen. Diese Woche geht es nur darum, wieder zuzunehmen und Kraft für die nächste Chemotherapie zu bekommen.

27. Juli 2014
Mein Vater versucht weiter zuzunehmen und in den letzten Tagen ging es ihm etwas besser. Allerdings ist er immer sehr müde und schlapp. Essen kann er zum Glück wieder, was natürlich sehr wichtig ist. Zusätzlich nimmt er nun Milgamma ein. Er hat oft ein Kribbeln in den Beinen und das Essen schmeckt oft nach nichts. Wenn die Chemotherapie beim Krebs auch so erfolgreich ist, dann wäre das alles sicher irgendwie zu akzeptieren.
Wir gucken Formel 1 und machen anschließend einen kleinen Spaziergang. Mein Vater sagt, dass er es immer nur schafft am Bauch zuzunehmen, seine Arme aber total schlaff sind, was auch deutlich zu sehen ist. Trainieren kann er die Arme aber nicht, weil er sofort Schmerzen bekommt. Selbst beim Putzen tut ihm die Schulter oft weh. Morgen folgt die dritte Chemo. Vermutlich ist er dann ab Mittwoch wieder völlig K.O. und kraft-, und appetitlos. Hoffentlich hält der Zustand dann nicht wieder länger an. Denn die zweite Chemo war nachhaltiger, was die Nebenwirkungen angeht, als die erste. Keine gute Entwicklung.

28. Juli 2014
Statt mit 88kg startet mein Vater mit 86kg zur dritten Chemo. Die Medikamente laufen langsamer als üblich und es wird vermutet, dass etwas mit den Zuleitungen nicht stimmt. Auch das noch. Und so verbringt er sechs Stunden im Krankenhaus und erfährt obendrein, dass nach sechs bis achtmal nicht Schluss ist, sondern getestet wird, ob die Chemotherapie überhaupt wirkt. Geplant sind zunächst zehn bis zwölf Termine. Danach gibt es maximal eine kurze Pause. Die Chemotherapie begleitet ihn bis zu seinem Lebensende. Wenig erfreulich, was er heute zu hören bekommt. Von guter Lebensqualität ist das doch etwas entfernt, denn ab Mittwoch wird es ihm vermutlich wieder richtig schlecht gehen und er weiter abnehmen. Eine Woche wird der Zustand mindestens andauern, dann erholt er sich etwas, bevor er zur nächsten Runde der Vergiftung geht. Und an den Tagen an denen ihm nicht übel ist und er nicht total schlapp ist, ist er immer noch zu geschwächt, um wirklich etwas zu unternehmen. Ich weiß nicht, wie man so leben kann. Doch was soll man tun, wenn man scheinbar keine andere Wahl hat?

30. Juli 2014
Es ist das erste Mal, dass es meinem Vater am Mittwoch, nachdem er die Pumpe mit dem Ribofluor abgegeben hat, nicht total schlecht ist. Er kann sogar essen, Auto fahren und einkaufen. Vielleicht ein gutes Zeichen? Es bleibt abzuwarten, wie es ihm morgen geht.

Nachdem mein Vater wieder zu Hause ist, geht es ihm recht bald viel schlechter. Um 20.00 Uhr liegt er schon im Bett, kann aber nicht schlafen. Die üblen Nebenwirkungen sind da. Sie haben sich dieses Mal nur verspätet.

31. Juli 2014
Der Tag ist voller Nebenwirkungen, dennoch schafft es mein Vater morgens und abends etwas zu essen. Seinen Durchfall bekämpft er mit Lopedium. Soll er immer sofort nehmen, damit er nicht so viel abnimmt. Ich glaube nicht, dass das irgendwas bringt.

01. August 2014
Die Nebenwirkungen haben nachgelassen. Mein Vater kann essen, ist aber weiter total schlapp. Dennoch hat er gekocht und später fahren wir zusammen etwas einkaufen. Am Abend nimmt er eine Dulocolax, weil er verstopft ist. Vielleicht hätte er die Lopedium gestern nicht nehmen sollen. Das kann nicht gut sein, einen Tag etwas gegen Durchfall und am nächsten Tag etwas gegen Verstopfung zu nehmen.

06. August 2014
Wie so oft in den letzen Wochen, bin ich zum Mittagessen bei meinem Vater und anschließend gehen wir einkaufen. Es scheint ihm besser zu gehen als in den letzten Tagen. Allerdings wiegt er weiter unter 85kg, was bedenklich ist, weil die nächste Chemotherapie schon in wenigen Tagen ansteht. Seine Beine und Arme sind sehr schmal, nur an seinem Bauch ist nicht zu erkennen, was er derzeit durchmacht. Nach dem einkaufen ist er erschöpft und muss sich ausruhen. Am Abend jedoch geht es ihm soweit wieder gut, dass er sogar zum Kartenspielen geht. Das finde ich sehr gut, dass er mal raus kommt.

Es ist alles schwer zu verstehen. Mein Vater hat zwar deutlich abgenommen, aber der Gedanke, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, passt nicht ins Bild. Aber vermutlich passt dieser Gedanke bei Todkranken mit einer sehr eingeschränkten Lebensdauer nie. Sterben verleiht dem Leben etwas Gruseliges. Immer wieder kommen mir, in den verschiedensten Momenten, Eindrücke und Gedanken aus der Zeit, in der meine Mutter im Krankenhaus lag, hoch. Sie sind sehr real, schmerzhaft und dennoch völlig unglaubwürdig. Surreal. Das kann alles nicht sein. Das Leben geht weiter, bietet neue Grausamkeiten und irgendwann werde ich derjenige sein, der geht. Unaufhaltsam schreitet die Zeit voran. Nichts und niemand kann sie aufhalten. Der Mensch, der so viel kann oder zu können glaubt, ist nichts weiter als eine Randerscheinung auf dieser Welt. Er kann zerstören, vernichten, töten und sich Macht aneignen. Aber egal, was er tut, er bleibt eine bedeutungslose Figur, die es vielleicht in die Geschichtsbücher schafft, aber davon nichts hat, weil er dann schon längst begraben ist. Das Leben ist absurd.

08. August 2014
Am Abend geht mein Vater erneut zum Kartenspielen. Fünf Stunden bleibt er weg und es ist fast so, wie vor der Entdeckung seiner Krankheit. Aber eben nur fast.

09. August 2014
Meinem Vater geht es recht gut und wir kaufen im Baumarkt eine Bohrmaschine. Diese, so sagt er später, soll ich bei mir aufbewahren, da ich sie später eh bekomme, alles bekomme, und er sie eh nicht braucht. Er kauft in letzter Zeit viel für mich ein. So als würde er dafür sorgen wollen, dass ich alles habe, wenn er bald nicht mehr da ist. Vermutlich ist das eine sehr vernünftige Art mit allem umzugehen, dennoch ist es erschreckend, wenn man wirklich darüber nachdenkt. Das Zeitfenster schließt sich immer weiter und auch wenn es heute so wirkt als wäre alles gut und das Ende noch so fern, wissen wir, dass es doch nicht so ist. Die Zeit vergeht viel zu schnell.

Am Abend gehen wir spazieren und spielen später Billard an der Play Station. Alles scheint so normal, so alltäglich. Als hätten wir ewig Zeit und die Krankheit wäre vorüber. Ein Hauch Normalität. Doch der Schein trügt.

11. August 2014
Chemotherapie Nummer vier. Vor der Chemo wird, wie üblich, eine Blutprobe genommen. Es wird festgestellt, dass zu wenig weiße Blutkörperchen vorhanden sind und die Chemotherapie kann deshalb nicht stattfinden. Bis nächsten Montag wird nun gewartet, ob sich die Werte verbessern. Sollte das nicht der Fall sein, bekommt mein Vater etwas fürs Blut. Ansonsten findet die Chemotherpaie nächste Woche statt. Ich frage mich, ob es nicht irgendwas gibt, was man im Vorfeld hätte tun können, damit es erst gar nicht zu so schlechten Blutwerten kommt. Auch wenn es, so wie es heißt, normal ist. Normal kann das nicht sein.

15. August 2014
Meinem Vater geht es recht gut. Zumindest wirkt er so und sagt auch nichts Abweichendes. Als ich ihn frage, ob er seine Mittel einnimmt, sagt er, dass er von allen nur noch die Hälfte nimmt und es ihm seitdem besser geht. Dass es ihm besser geht, weil diese Woche keine Chemotherapie stattgefunden hat, schließt er aus. Die Reduzierung von Calcium, Magnesium, Pankreazym und Milgamma ist für ihn dafür verantwortlich, dass es ihm besser geht. Es ist als würde ich gegen eine Wand reden. Einen Tag sieht er die Notwendigkeit, diese Mittel zu nehmen, ein, am nächsten entscheidet er neu. Ich weiß nicht, ob diese Mittel so irgendeine Chance haben, irgendwas zu bewirken, doch ich muss es akzeptieren. Es ist sein Leben und es ist sein Körper.

17. August 2014
Die Blutwerte sind soweit wieder okay und die vierte Chemotherapie kann beginnen. Meinem Vater wird erklärt, dass es völlig normal ist, dass die Blutwerte gelegentlich eine Chemotherapie nicht zulassen und manche Patienten sogar mehrere Wochen aussetzen müssen. Außerdem hält der Körper so eine Chemotherapie nicht länger als sechs Monate aus. Eine längere Chemotherapie würde meinen Vater umbringen. Da stellt sich mir die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer solchen Therapie.

Ich habe meinem Vater das Buch „Krebszellen mögen keine Himbeeren“ geliehen. Sofort will er seinen Zuckerkonsum senken. Das hatten wir alles schon, dann aber änderte er seine Meinung. Bin gespannt, ob er dieses Mal dabei bleibt. Außerdem will er täglich Traubensaft trinken und mehr Tomaten und Zwiebeln essen. Ich bin gespannt, ob und wie lange es das macht, bevor er wieder andere Ideen hat.

Warum er seine Blutwerte vom Krankenhaus nicht mitbekommt verstehe ich immer noch nicht. Wieso der Vitamin B Wert nicht getestet wird, kann ich ebenso wenig nachvollziehen. Und der Selenwert ist ja sowieso unbekannt. Wahrscheinlich verzichtet man darauf, weil man davon ausgeht, dass die Werte nicht gut sind und die Bestimmung dieser Werte Kosten verursachen würden. Und das ist ja nicht der Sinn einer Behandlung. Geld soll man mit den Krebspatienten verdienen, darum geht es.

20. August 2014
Nachdem die ersten drei Tage wohl ohne große Probleme vorüber gingen, sieht mein Vater heute sehr mitgenommen aus. Eingefallen, so als hätte er plötzlich total abgenommen. Er sagt, dass er aber essen konnte und sich aufgedreht fühlt. Er sieht aber nicht aufgedreht, sondern sehr in sich gekehrt und niedergeschlagen aus. Das Gift wütet in seinem Körper und wer weiß, was in seinem Kopf vor sich geht. Im Gegensatz zum letzten Wochenende ist er jedenfalls nicht wiederzuerkennen. So schnell holt einen die Realität ein.

30. August 2014
Das Thema täglich Traubensaft zu trinken, hat sich schon längst erledigt. Meinem Vater schmeckt der Saft nicht. Tomaten und Zwiebeln gibt es auch seltener als geplant. Nach seinen Vitamin B und Selen Werten fragt mein Vater nicht mehr, weil die das eh nicht testen. Er wiegt 86kg und sieht in den letzten Tagen recht gut aus. Er versucht auf zu viel Fett und Zucker zu verzichten. Das Buch „Krebszellen mögen keine Himbeeren“ hat er neben seinen Zusatzmitteln abgelegt. Ich glaube nicht, dass er da noch etwas nachliest. Es scheint ihm dennoch ganz gut zu gehen und er geht öfter spazieren, gestern sogar Kartenspielen, und hat seine Keller aufgeräumt. Die Dinge laufen einfach weiter.

Zwei oder viermal noch Chemotherapie bis untersucht wird, ob diese überhaupt anschlägt und den Tumor verkleinert. Eine Untersuchung, die mir Angst macht. Dieser ganze Krebs macht mir Angst. Ich versuche permanent alles zu verdrängen, was mir, wenn es meinem Vater scheinbar gut geht, auch recht gut gelingt. Aber mit jedem Tag rückt das Ende unweigerlich näher. Und irgendwann kommt der Tag ab dem es nicht mehr möglich sein wird, diese Tatsache zu verdrängen. Und daran, wie es dann sein wird, mag ich gar nicht denken.

01. September 2014
Chemotherapie Nummer 5 verläuft reibungslos und ohne Komplikationen. Im Gegensatz zu den letzten beiden malen als das Gift sehr langsam nur in seinen Körper lief, klappt es dieses Mal ganz gut. Meinem Vater geht es auch ganz gut. Wir erwarten die Übelkeit ab Mittwoch oder Donnerstag. Und dann sind es noch eine bis maximal drei Therapien bis untersucht wird, ob die ganze Sache überhaupt anschlägt. Das sind dann Momente, wo wir wieder auf eine Art und Weise mit dem möglichen Ende konfrontiert werden. Daran zu denken, bereitet schon jetzt Probleme. Mein Vater wiegt derzeit 85 Kilo und sein Gewicht will einfach nicht mehr steigen.

04. September 2014
Wie üblich kommen Übelkeit und Müdigkeit am Donnerstag nach der Behandlung. Ob mein Vater es als weniger schlimm empfindet als am Anfang der Therapie oder ob sich der Körper etwas daran gewöhnt hat, kann ich nicht sagen. Vielleicht eine Mischung aus beidem. Jedenfalls ist sein Zustand, zumindest von außen betrachtet, erträglicher als nach den ersten Therapien. Sorgen bereiten die Finger. Sie sind sehr Kälteempfindlich und beim Schreiben zittern seine Hände so stark, dass er kaum schreiben kann. Ich weise darauf hin, dass er mehr L-Carnitin nehmen soll. Vier statt zwei Tabletten, so wie es ursprünglich geplant war. Er sagt, dass er das machen wird. Ob er es machen wird, bleibt abzuwarten.

05. September 2014
Heute geht es meinem Vater etwas schlechter. Die Übelkeit ist da, doch er nimmt es sehr gelassen hin und er redet sogar davon, dass er sich in zwei drei Jahren Allwetterreifen für seinen Wagen kaufen wird, weil es zu lästig ist Sommer- und Winterreifen zu wechseln und zu lagern. Gerne würde ich auch über einen so langen Zeitraum denken können.

Am Nachmittag geht mein Vater sogar zum Karten spielen. In der Woche der Chemotherapie. Das hätte ich anfangs gar nicht für möglich gehalten, dass er dazu in der Lage sein wird. Seine Übelkeit wird erträglicher und so hat er einen guten Abend.

06. September 2014
Schon beim Aufstehen ist ihm sehr übel. Nachdem er einen Kaffee getrunken hat, wird es schlimmer. Dennoch isst er zusammen mit mir zum Mittag. Unseren anschließend geplanten Einkauf muss er allerdings absagen, weil er etwas schlafen will. Nach der nächsten Therapie will er einige Tage auf Kaffee verzichten. Vielleicht verbessert das seinen Zustand.

Nachdem er sich eine Weile ausgeruht hat, fährt er am Nachmittag doch noch einkaufen, denn es geht ihm viel besser als erwartet. Ich hoffe, dass ist ein gutes Zeichen.

09. September 2014
Gemeinsam fahren wir am Dienstag zur Remise nach Düsseldorf. Meinem Vater scheint das gut zu gefallen und es geht ihm wohl auch gut. Selbst als wir anschließend ins Zentrum nach Düsseldorf fahren, scheint er keine Probleme zu haben. Das ist sehr erfreulich und während des ganzen Tages könnte man fast vergessen, dass er Krebs hat. Aber nur fast.

10. September 2014
Am Nachmittag fahren wir nach Dortmund. Mein Vater wirkt etwas ausgelaugt und hat anfangs im Parkhaus Probleme mit den Treppen. Ihm scheint Kraft zu fehlen. Vielleicht steckt ihm der lange Tag gestern noch in den Knochen. Vielleicht mute ich ihm etwas viel zu.
Nachdem wir Kuchen gegessen haben, geht es scheinbar wieder. Ich hoffe, ich mute ihm nicht zu viel zu mit diesen Ausflügen.

15. September 2014
Chemotherapie Nummer 6 verläuft ohne Komplikationen und ist dennoch eine ganz besondere Therapie. Denn es ist die letzte Chemotherapie vor der CT-Untersuchung, welche Auskunft darüber geben wird, ob und wie die Quälerei angeschlagen hat. In zwei Wochen ist der so wichtige Termin, der Aufschluss darüber geben wird, wie es weiter geht. Dann kann es ein Ergebnis geben, welches uns absolut nicht gefällt. Obwohl derzeit bei mir ein gewisser Optimismus herrscht, kann ich nicht ignorieren, dass das Ergebnis niederschmetternd sein kann. Und wir haben nicht wirklich Einfluss darauf, ob die Chemotherapie wirkt oder eben nicht. Schwarz oder weiß. Top oder Flop. Tot oder Leben. Dazwischen scheint es nichts zu geben. Gruselig.

18. September 2014
Die Übelkeit kam bereits gestern Abend und ist heute voll da. Den Tag verbringt mein Vater größtenteils im Bett, aber er schafft es zum Glück immer wieder etwas zu essen, was früher ja nicht so klappte. Dennoch ist er sichtlich niedergeschlagen. Trotzdem begleitet er mich zu mir als ich nach Hause gehe. So kommt er noch etwas raus und ich denke, dass ihm das auch gut tut.

19. September 2014
Trotz Übelkeit kocht mein Vater Mittagessen und schafft es auch ordentlich davon zu essen. Im Vergleich zu den ersten Chemotherapien ist das schon ein echter Unterschied und natürlich hoffe ich, dass es ein gutes Zeichen ist, dass die Chemo ihn nicht völlig umhaut. Dennoch ist er nach dem Essen so K.O., dass er sich eine Stunde hinlegen muss. Doch nachdem er sich ausgeruht hat, gehen wir gemeinsam einkaufen, was ich einfach als gutes Zeichen werte, weil ich es so werten will.

Später kauft mein Vater ein Lotterielos für mich. Er möchte, dass ich eine Rente gewinne, damit ich mir keine Sorgen mehr machen muss. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also sage ich gar nichts.

20. September 2014
Die Übelkeit ist noch nicht völlig verschwunden, doch es geht meinem Vater deutlich besser. Er sagt, dass er, bei den Mengen, die er isst, eigentlich zunehmen müsste. Am letzten Sonntag brachte er es tatsächlich auf 88kg. Das klingt alles so gut, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass die CT-Untersuchung ein schlechtes Ergebnis liefert. Sollte es dennoch so sein, bricht erneut alles zusammen. So viel steht jedenfalls fest.

28. September 2014
Es macht den Eindruck als ginge es meinem Vater in den letzten Tagen recht gut. Am Freitag war er sogar kurz aus und hat Bier getrunken und heute machen wir unseren Sonntagsspaziergang in Lünen. Dieser führt uns recht bald aus der Stadt heraus auf ein altes Zechengelände. Immer weiter wandern wir, klettern Abhänge rauf, rutschen ab, fallen fast hin und kehren doch nicht um. Wie Jugendliche laufen wir hier herum und für eine Weile spielen weder Alter noch Krankheit eine Rolle. Menschen begegnen uns kaum, was mir besonders gut gefällt. Das Wetter ist prima und ich komme ganz schön ins Schwitzen von unserer Wanderung.

Später setzen wir uns am Bahnhof auf eine Bank und trinken etwas. Mein Vater erzählt stolz, dass er mittlerweile knapp über 89 Kilo wiegt, was ich ebenfalls sehr gut finde. Aber Krebs ist ein tückisches Arschloch, weshalb die Gewichtszunahme gut sein kann oder nichts zu bedeuten haben muss. Dennoch ist heute irgendwie ein besonderer Tag, weil er trotz Krankheit so positiv erscheint und Freude bereitet. Manchmal ist es so einfach. Wir sitzen noch eine Weile völlig entspannt auf der Bank, dann machen wir uns auf den Weg zum Auto und beenden unseren Ausflug. Noch zwei Tage bis zur Untersuchung.

30. September 2014
Tag der Untersuchung. CT und Lunge Röntgen. Die Lunge ist okay. Das CT-Ergebnis bekommt mein Vater erst nächsten Montag. Wenn man die Situation in diesem kurzen Augenblick betrachtet, scheint nichts darauf hinzudeuten, dass es meinem Vater so schlecht geht. Er wirkt derzeit absolut nicht wie ein schwerkranker Mann. Aber wir wissen auch, dass das nichts zu bedeuten hat.

07. Oktober 2014
Heute findet das Gespräch mit der Ärztin statt. Die Blutwerte meines Vaters sollen besser sein als beim letzten Mal. Lediglich die Anzahl der weißen Blutkörper ist, wie erwartet, nicht so gut. Aber auch nicht besorgniserregend schlecht. Der Tumor ist noch da, was zu erwarten war. Laut Bericht hat er sich immerhin nicht vergrößert. Aber da die Ärztin es selber sehen/vergleichen möchte, hat sie mehrfach die Aufnahmen der CT-Untersuchung angefordert, welche vor der Chemotherapie gemacht wurden. Doch trotz mehrmaliger Aufforderung, die Bilder zu bekommen, sind diese bis heute nicht aufgetaucht. Selbst die erneute Aufforderung führt zu nichts. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Aufnahmen verschwunden sind, was einen Vergleich so natürlich unmöglich macht.

Insgesamt ist die Ärztin anscheinend über den Zustand meines Vaters positiv überrascht und die Chemotherapie wird nächsten Monat fortgesetzt. An drei Montagen in Folge. Wie stark die Therapie sein wird, hängt von dem Vergleich der Aufnahmen ab. Ich habe da meine Zweifel, ob es diesen Vergleich geben wird, weil ich fürchte, dass die Aufnahmen irgendwie verloren gegangen sind. Damit darf der Bericht, dass sie nichts verschlechtert hat, als fraglich betrachtet werden. Ohne Vergleich bringt so ein Bericht herzlich wenig. Ein Hoch auf die deutsche Gründlichkeit.

13. Oktober 2014
Mein Vater hatte noch eine CD mit den Aufnahmen der CT-Untersuchung, die vor der ersten Chemotherapie gemacht wurden. Die Chemotherapie wird daraufhin, in etwas abgeschwächter Form, fortgesetzt. Viermal, im gleichen Rhythmus wie bisher, denn der Tumor soll in etwa gleich groß sein, wie bei der CT-Untersuchung vor der Chemo. Zumindest sagt mein Vater es mir so. Ich würde es auch gerne glauben, aber als er ein neues Medikament gegen Schmerzen auspackt und auch noch sagt, dass er seit ein paar Tagen Laxatan nimmt und auch wieder Blasen- und Nierentee trinkt, erscheint mir das alles besorgniserregend. So war es nämlich schon vor der OP. Da hatte er auch Schmerzen und nahm die Mittel. Für mich klingt das eher nach einem gewachsenen Tumor. Alles, was bei der OP entfernt wurde, scheint nachgewachsen und die etwas schwächere Therapie gibt es nur, um seinen Körper nicht zusätzlich zu belasten. Da kann ich so viel verdrängen, wie ich will, die Fakten sind und bleiben Fakten. Und auch wenn der Tumor tatsächlich nicht gewachsen ist, läuft die Uhr gnadenlos ab.

14. Oktober 2014
Mein Vater scheint derzeit sehr gewissenhaft die Mittel, die der Heilpraktiker empfohlen hat, einzunehmen. Das hat er sonst eher vernachlässigt und für weniger wichtig gehalten. Ich sage nichts dazu, denke mir aber, dass er das sicher nicht ohne Not macht. Mir gefällt zwar, dass er die Mittel nimmt, aber die Gesamtsituation gefällt mir gar nicht.

Nachdem ich in den letzten Tagen, eigentlich sogar Wochen, immer wieder dachte, es kann noch lange so weitergehen, denke ich heute, dass es vermutlich doch nicht so ist. Meine Vorstellung, dass wir den nächsten Sommer locker erreichen, erscheint mir utopisch. Vielmehr ist es nun dieses Gefühl, dass selbst Weihnachten nicht zu erreichen ist. Meine Mutter starb vor Weihnachten und ich habe Angst, dass sie das alles wiederholen wird. Unaufhaltsam treiben wir im Strudel des Lebens der nächsten persönlichen Katstrophe entgegen. Dabei ist der Tod doch das natürlichste der Welt. Alles vergeht. Wir Menschen sind da keine Ausnahme. Ob es uns nun gefällt oder nicht. Tatenlos müssen wir uns und andere beim Sterben begleiten und können nur hoffen, dass wir irgendwann im Schlaf einschlafen und uns Schmerzen erspart bleiben.

17. Oktober 2014
Die Nebenwirkungen der Chemotherapie sind wieder sehr heftig. Meinem Vater ist sehr übel und ich bin logischerweise besorgt. Zum Glück versucht er, wann immer es ihm möglich ist, etwas zu essen. Er ist aber sehr schlapp und muss sich, nachdem wir zusammen zu Mittag gegessen haben, hinlegen. Es ist zwar nicht zum ersten Mal, dass es vorkommt, aber dennoch finde ich es besorgniserregend. Wir verabreden und dennoch um 17.00 Uhr an der Garage, um gemeinsam einkaufen zu fahren.

Als ich um 17.00 Uhr an der Garage bin, ist mein Vater nicht da, was völlig untypisch für ihn ist. Sofort mache ich mir Sorgen und ich habe Angst, dass es ihm nicht gut geht und ich ihn vielleicht leblos in der Wohnung vorfinden werde. Diese Ängste hatte ich in letzter Zeit eigentlich nicht mehr so extrem, doch seitdem wir wissen, dass der Tumor nicht zurückgegangen ist und mein Vater vermehrt Schmerzen hat, mache ich mir wieder vermehrt Sorgen. Und die Sirenen von Krankenwagen klingen seit einer Weile ebenfalls wieder bedrohlich. Waren nachdem meine Mutter gestorben ist, Krankenwagensirenen eine Zeitlang nur Krankenwagensirenen, sind sie nun wieder eine Bedrohung, weil sie ja für meinen Vater sein könnten. Wie damals, als ich immer wieder fürchtete, es könnte meiner Mutter etwas passieren. Bis es dann eines Tages eintraf und ich sogar den Krankenwagen, der zu meiner Mutter fuhr, gehört habe, obwohl ich nicht in der Nähe war. Und irgendwann, so fürchte ich, werde ich den Krankenwagen, der zu meinem Vater fährt, hören. Oder ihn rufen. Mit all diesen Gedanken, mache ich mich auf zu meinem Vater. Vor der Tür stehen seine Schuhe. Konzentriert und angespannt schließe ich die Wohnungstür auf und bin erleichtert als ich seine Stimme aus der Küche höre. Irgendwann, so fürchte ich, wird es anders sein. Doch zum Glück heute noch nicht.

Wir fahren einkaufen, doch ihm geht es weiterhin nicht gut und er schafft es nur mit Mühe, den Einkauf durchzuhalten. Die Chemotherapie ist wirklich kein Kinderspiel und auch wenn sie etwas schwächer als sonst ist, so ist sie doch brutal hart. Dennoch hoffe ich, dass sie ihm trotzdem mehr Zeit bringt als der Arzt damals prognostiziert hat. Und noch immer höre ich seine Worte, wie er sagte, dass mein Vater ganz normal und schmerzfrei weiterleben könnte. Was für ein verlogener Arsch.

21. Oktober 2014
Meinem Vater geht es nicht wirklich gut, aber er spielt es, wie zumeist, herunter. Er hat Schmerzen im Bauchbereich und auch in die Nieren strahlen die Schmerzen wieder aus. Oft hält er inne, streckt sich und hält sich mit den Händen im Bereich der Nieren. Außerdem muss er sich immer mal wieder hinsetzen wegen der Schmerzen. Dennoch putzt und kocht er als wäre nichts. Er isst, was ich ihm auch sage, allerdings keine Kost, die förderlich ist. Zur Suppe gibt es heute zwei Mettwürstchen. Davon kann ich ihn nicht abbringen. Er sagt, er muss zunehmen und deshalb so etwas essen. Ich sage ihm, dass es da eindeutig bessere Sachen gibt als diese Mettwürstchen. Nach dem Essen nimmt er sich eine Artischocke-Tablette, die er sich gestern besorgt hat. Ich sage ihm, dass er stattdessen auf Mettwürstchen verzichten und die Tabletten nehmen soll, welche der Heilpraktiker ihm zusammengestellt hat. Er erwidert, dass er das macht, doch so, wie er es sagt, klingt es nicht als würde es stimmen. Ob ihm bewusst ist, dass er falsch handelt und es ihm egal ist? Oder denkt er, dass es eh keine Rolle spielt, weil er nur verlieren kann? Und spielt das alles wirklich eine Rolle? Ist es am Ende vielleicht vollkommen egal, ob er etwas nimmt oder nicht? Ich mache mir dennoch große Sorgen, weil mir sein Zustand und sein Verhalten nicht gefallen. Die Tatsache, dass er seit Monaten, so wie er sagt, nachts nie länger als zwei Stunden schläft, ist nur eine Nebenerscheinung, die aber auch nicht zur Erleichterung beiträgt. Das alles gefällt mir nicht. Überhaupt nicht.

26. Oktober 2014
Da ich mir mal wieder eine Erkältung zugezogen habe, habe ich meinen Vater seit Mittwoch nicht gesehen. Heute gehen wir spazieren, weil ich denke, dass ich ihn so nicht gefährde. Wie auch am Telefon in den letzten Tagen, sagt er, dass es ihm gut geht. Hoffentlich sagt er das nicht nur so. Nach einer Weile merke ich, dass der Spaziergang ihn anstrengt, was er aber auf Nachfrage verneint. Hoffentlich ist er morgen nach der Chemotherapie nicht wieder so platt wie beim letzten Mal.

27. Oktober 2014
Als mein Vater bei der Chemotherapie fragt, ob der Tumor gestreut hat, sagt der für die Chemo zuständige Angestellte, dass der Tumor gestreut hat. Mein Vater fragt, warum ihm das nicht gesagt wurde, worauf der Mann sagt, dass er nachsehen wird. Als er zurück ist, sagt er, dass der Tumor nicht gestreut hat, aber irgendwie ungünstig in die Milz gewachsen ist und man sehen muss, ob man das operieren kann. Mein Vater sagt, dass der Arzt in Dortmund sagte, dass man das nicht operieren kann. Letztlich erfährt er aber nicht, ob er Tumor erst neu so gewachsen ist oder dies schon bei der OP festgestellt wurde. Irgendwie erscheint mir die Kommunikation arg verbesserungswürdig. Jedenfalls sollen zwei weitere Chemotherapien folgen, bevor erneut geschaut wird, wie es aussieht. Über Weihnachten soll mein Vater sich dann erholen. Mir kommt das alles improvisiert vor. Ratlose Versuche am lebenden Patienten. Dazu Informationen, die nur spärlich fließen und denen man scheinbar nicht trauen kann. Ob mein Vater zu wenig fragt oder ob die zu wenig mitteilen, kann ich aus der Entfernung nicht sagen. Vermutlich haben die einfach keine Ahnung. Oder, was wahrscheinlicher erscheint, die wissen, dass alles keinen Sinn macht, wollen aber noch möglichst lange und gut daran verdienen.

Weil meine Erkältung noch immer nicht weg ist, kann ich meinen Vater nicht besuchen, weshalb er mich am Abend anruft. Unschwer zu hören, dass es ihm nicht so gut geht. Da es ihm nach einer Chemotherapie meist erst ab Mittwoch schlecht geht, vermute ich, dass es nicht an der Chemotherapie liegt, dass es ihm schon heute so schlecht geht, sondern an dem verfluchten Krebs. Mein Vater sagt, dass er schon Tabletten genommen hat, was untypisch für ihn ist. Ich bin nicht wirklich glücklich mit der Entwicklung.

28. Oktober 2014
Obwohl mein Vater am Telefon besser klingt, bleibe ich skeptisch, weiß ich doch, was für ein guter Gesundheitsschauspieler er ist.

Als ich ihn später kurz besuche, liegt er im Bett und sagt, dass es ihm ganz gut geht, er aber müde war, weil er in der Nacht, wie üblich, nicht schlafen konnte. Da er ganz gut aussieht, glaube ich ihm. Wegen meiner Erkältung bleibe ich nicht lange, hole nur kurz Wasser aus dem Keller und bin dann wieder weg.

Abends ruft er erneut an und klingt ganz gut, was mich beruhigt.

29. Oktober 2014
Als mein Vater anruft, klingt er wirklich schlecht. Er sagt, dass er die ganze Nacht Schmerzen im Ellenbogen hatte, Tabletten nicht geholfen haben und er deshalb nicht schlafen konnte. Auch ist ihm übel und er hat Schmerzen im Bauchbereich. Er sagt, dass die Schmerzen am Ellenbogen nicht zu behandeln sind. Maximal durch eine OP, aber, so hat er gelesen, meistens bringen diese OPs nichts. Da es sich um eine Nervenkrankheit handelt, kann man nichts machen. Weder Tabletten noch Spritzen können helfen und zum Arzt will er nicht. Da ich das für falsch halte, sage ich ihm, dass ich einen Termin für ihn beim Arzt vereinbaren werde. Obwohl er sicher ist, dass ihm das nichts bringt, willigt er ein.

Der Termin ist morgen Mittag. Bis dahin wird er vermutlich noch Schmerzen haben. Ich rufe ihn an, um ihm mitzuteilen, dass er morgen Mittag den Termin hat. Er klingt total krank. Nie zuvor klang er so und nie zuvor wirkte er so resigniert niedergeschlagen. Ist das vielleicht schon die letzte Phase? Oder ist es doch nur der Ellenbogen und lässt sich in den Griff kriegen?

Nach kurzer Kommunikation mit Agnes, schlägt diese vor, beim Arzt etwas gegen die Schmerzen aufschreiben zu lassen. Wieso bin ich da eigentlich nicht selber drauf gekommen? Der Arzt schreibt Novaminsulfon und Tramadol auf.
Auf dem Weg zu meinem Vater hole ich ihm an der Trinkhalle eine BILD-Zeitung. Die Verkäuferin fragt, wie es meinem Vater geht und sagt, dass er ihr gesagt hat, dass die Chemotherapie nicht angeschlagen hat. Ich bin irritiert. Verschweigt er mir etwas oder meint er, weil der Tumor noch da ist, hat die Therapie nicht angeschlagen? Ich frage nicht weiter nach und frage ihn dazu auch nicht als ich bei ihm bin. Ist alles schon mies genug. Ich gebe ihm die Tabletten und wir stellen fest, dass er letzte Nacht nicht nur SPALT-Tabletten, sondern auch Novaminsulfon Tropfen, genommen hat. Wirkung gleich Null. Trotzdem nimmt er sofort eine Novalminsulfon Tablette. Tramadol soll er nur abends nehmen. Ich frage ihn, ob er denn auch sonstige Schmerzen als ihm Ellenbogen hat. Er verneint. Hoffentlich ist es wirklich so. Ob er morgen denn dennoch zum Arzt gehen soll, will er wissen. Natürlich. Schließlich kann es durchaus sein, dass der eine Idee hat, wie man den Arm schmerzfreier bekommt. So jedenfalls kann es nicht weiter gehen. Außerdem hoffe ich noch immer, dass der Arzt ihm zur Misteltherapie rät. Ich bin echt naiv.

30. Oktober 2014
Der Termin beim Arzt war, so erzählt mir mein Vater, überflüssig. Der Arzt hat zum Arm nur die Idee gehabt, dass er ihn operieren lassen kann. Wegen der Übelkeit hat er eine Ultraschall Untersuchung gemacht und soll gesagt haben, dass alles gut aussieht. Meinem Vater indes geht es nicht gut. Ihm ist übel und er ist total schlapp. Weil ich immer noch erkältet bin, bleibe ich nur kurz.

31. Oktober 2014
Heute treffen wir uns am Grab meines Onkels. Mein Vater ist gerade dabei den Grabstein zu putzen als ich ankomme. Einmal verliert er kurz das Gleichgewicht und droht umzufallen. Es bedarf einiger Überredungskunst, ihn davon zu überzeigen, dass ich das übernehmen kann, denn er will, egal wie schlecht es ihm geht, immer alles selber machen. Nachdem wir eine Kerze angezündet haben, besuchen wir das Grab seines Bruders. Anschließend das Grab meiner Mutter auf dem anderen Friedhof. Auch hier fängt er sofort an den Grabstein zu putzen. Erst als er Probleme mit dem Gleichgewicht bekommt, kann ich ihm den Lappen wegnehmen und weiter putzen. Stur ist er, der Herr. Wir stellen, wie jeden Freitag, Blumen und Kerze auf und gehen dann noch zum Grab seines anderen Bruders.
Nach dem Friedhofsbesuch machen wir einen kleinen Spaziergang. Das Wetter ist herrlich. Ab und zu muss mein Vater anhalten und durchatmen. Wir gehen zurück zum Auto. Auf dem Weg erzählt mein Vater mir, dass er seit Montag sechs Kilo abgenommen hat. Montag vor der Chemotherapie wog er 92kg, jetzt sind es nur noch 86kg. Es ist bewundernswert, dass er es immer wieder schafft an Gewicht zuzulegen zwischen den Behandlungen. Ich glaube, ich wäre längst gestorben und versuche ihn zu überreden zusätzlich Regacan zu nehmen. Doch er will nichts weiter einnehmen. Ich werde es dennoch weiter versuchen. Was mir gar nicht gefällt ist die Tatsache, dass er scheinbar erkältet ist und ich dafür verantwortlich bin. Meine Kurzbesuche waren unnötig und zu viel. Hausgemachte Zusatzprobleme. Mein Fehler.

Beim einkaufen geht es ihm nicht so gut und er ist froh, als wir endlich fertig sind. Gekauft hat er sich nur wenig. Sein Angebot, dass er morgen für mich kocht, lehne ich ab. Er soll sich ausruhen und etwas hinlegen. Er sagt, wenn er so viel liegt, wird er nur noch schwächer. Vielleicht hat er damit Recht. Hoffentlich kann ich ihn dazu bringen in der Chemopause zusätzlich Regacan zu nehmen. Ich finde, es ist einen Versuch wert.

10. November 2014
90kg. Mit diesem Gewicht geht es zur neunten Chemotherapie. In den letzten Tagen ging es meinem Vater nicht wirklich gut. Er nimmt täglich bis zu drei Novalminsulfon und hatte tagelang Halsschmerzen. Letzteres vergisst er aber dem Arzt zu sagen, weil er heute keine Halsschmerzen hat. Er lässt sich nur Novalminsulfon aufschreiben. Die zuständige Pflegerin / Krankenschwester sagt ihm, dass er dazu auch MCP Schmerzmittel nehmen kann. Ganz häufig. Das schadet nichts. Glaubt sie wirklich, dass alle diese Mittel auf Dauer nicht schaden oder meinst sie nur, dass es in diesem Fall nicht mehr wirklich schaden kann, weil mein Vater eh keine Chance hat?
Obwohl sein Blut angeblich okay ist, wird auf eine der drei Chemikalien der Chemotherapie verzichtet. Angeblich, um die Chemotherapie langsam ausklingen zu lassen. In zwei Wochen folgt die nächste und vorerst letzte Chemo. Auf die Blutuntersuchung nächste Woche wird, warum auch immer, verzichtet. Das ist auch neu.

Kaum ist mein Vater zu Hause, hat er wieder Halsschmerzen. Wenn der Krebs ihn nicht umbringt, dann schafft es ganz sicher früher oder später die Chemotherapie. Da bin ich mir ziemlich sicher. Ich frage mich, ob die Chemotherapie für die ständigen Schmerzen verantwortlich ist oder ob es der Krebs ist, der die Beschwerden verursacht? Weiß das überhaupt irgendwer und spielt es eine Rolle?

Was mir persönlich nicht gefällt ist die Tatsache, dass mein Vater, um Gewicht zuzunehmen, sehr viel Cola trinkt und viele Süßigkeiten isst. Zucker soll nämlich Tumoren sehr gut bekommen und deren Wachstum fördern. Somit wäre seine Maßnahme alles andere als sinnvoll.

Insgesamt für 110 Euro haben wir Mittel zur Unterstützung seiner Gesundheit nachbestellt. Erstmals auch Regacan. Mein Vater findet das alles viel zu teuer und er will kein Geld mehr dafür ausgeben. Da er es sich durchaus leisten kann, es ihm möglicherweise sogar hilft, kann ich seine Einwände gegen all die Mittel nur ignorieren. Gesundheit ist nicht mit Geld aufzuwiegen, weshalb ich keine Widerrede und erst recht keine Verweigerung akzeptiere. Er indes möchte von allen Mitteln nur die Hälfte einnehmen, weil es ja so teuer ist. Ich sage ihm, dass es keinen Sinn macht. Ob er sich an meine Anweisungen hält, werde ich vermutlich nie erfahren.

Zuletzt sage ich ihm noch, dass er seinen Colakonsum etwas einschränken soll und wir reden über die Ärzte, die sich weigern, irgendwelche Alternativen zur Chemotherapie auch nur in Erwägung zu ziehen. Das Fazit lautet, dass man fast alle Ärzte in der Pfeife rauchen kann. Borniertheit so weit das Auge recht. Verfickte Götter in Weiß.

12. November 2014
Weil man Vater mich nicht, wie vereinbart, am Vormittag anruft und mich das beunruhigt, rufe ich ihn an. Er klingt niedergeschlagen. Es geht ihm definitiv nicht gut, was er auch zugibt. Ich frage mich, ob die Chemotherapie ihn nun völlig fertig macht. Denn mit jeder der letzen Chemotherapien geht es ihm schlechter. Zufall kann das kaum sein. Eine muss er zunächst noch überstehen, dann wird er untersucht und dann wird wieder irgendwas entschieden. Ob wir jemals erfahren, ob der Tumor oder die Chemotherapie ihm so zusetzt, darf bezweifelt werden. Obwohl wir, wenn wir uns nicht sehen, zweimal am Tag telefonieren, sagt er, dass er sich erst morgen wieder meldet. Ich bestehe allerdings darauf, dass er sich heute nochmal meldet. Seine Entwicklung gefällt mir nicht. Und ich bin vermutlich auch ganz schön anstrengend für ihn.

Da sich mein Vater auch am Abend nicht telefonisch bei mir meldet, rufe ich ihn an. Es ist deutlich hörbar, dass es ihm schlecht geht. Den Tag hat er im Bett verbracht und ständig friert er. Ihm ist übel und er hört sich schlapp an. In der Apotheke hat er sich was gegen Husten besorgt. Nun ist selbst er für die Chemotherapie nicht mehr stark genug.

13. November 2014
Als ich ihn gegen Mittag anrufe, klingt er noch fertiger als am Vortag. Zu seiner Übelkeit gesellte sich noch erbrechen. Meine frage, ob er etwas braucht, verneint er selbstverständlich und da ich ins Büro muss, kann ich erst am späten Nachmittag nach ihm sehen. Obwohl es eindeutig nach Nebenwirkungen der Chemotherapie aussieht, frage ich mich, ob er sich vielleicht einen Infekt eingefangen hat und ansteckend ist. Das wäre etwas, was mich viele Tage flach legen würde, da ich Magen-Darminfektionen gar nicht verkrafte. Ich weiß, dass es in Anbetracht seiner Lage schon fast eine Frechheit ist, mir solche Gedanken zu machen, aber für mich sind Magen-Darmerkrankungen eine mehr als abscheuliche Sache, die es zu vermeiden gilt. Was mache ich nur?
Noch bevor ich ihn besuche wird mir schlecht und mein Körper bildet erste Symptome von Magen- und Darmproblemen. Es ist schon blöd, wenn man nur von möglichen Krankheiten hören muss und schon die Symptome bekommt. Bei meinem Vater trage ich meinen Schal als Mundschutz und fasse nichts an. Er liegt im Bett, ist sichtlich platt und wirkt niedergeschlagen. Die zehnte Chemotherapie, so sagt er, will er nicht mehr. Wenn mein Vater so etwas sagt, dann will das schon was heißen. Seinen Zustand bezeichnet er als minimal besser als am Vortag. Wann immer er kann, versucht er etwas zu essen. Das finde ich beachtlich.

Am Abend ruft er an, was ich als gutes Zeichen werte. Er will etwas Fernsehen und hat erneut etwas essen können. Auch das klingt besser, aber noch lange nicht gut

14. November 2014
Als mich mein Vater am Vormittag anruft, klingt er eindeutig besser als bei unseren letzten Gesprächen. Ich sage ihm, dass ich ihm gleich Bananen bringe und wenig später bin ich auch schon da. Er liegt noch im Bett, sieht aber bedeutend besser aus als gestern. Seine Stimme klingt auch besser. Seine Naturheilmittel sind auch angekommen. Ich sage ihm, dass er, sobald möglich, jeden Abend drei Regacan nehmen soll. Er will nicht und sagt, dass die Mittel nicht helfen. Ich frage, woher er das weiß. Weil es ihm so schlecht geht. Würden die Sachen helfen, dann hätte er jetzt nicht solche Probleme. Ich versuche ihm zu erklären, dass es ihm schlecht geht, weil er Chemotherapien bekommt und das Gift irgendwann einfach zu viel ist. Außerdem sollen diese Medikamente sein Immunsystem stärken und beim Kampf gegen den Krebs helfen. Schwer zu sagen, was er über meine Aussagen denkt. Außerdem frage ich mich, woher er wissen will, dass es ihm ohne all die Mittel nicht schon eher schlechter gegangen wäre. Vielleicht wären die letzten Tage viel schlimmer gewesen. Ich gehe davon aus, dass die Chemotherapie dem Körper viel mehr schadet als die Mittel. Aber die Mittel muss man selber bezahlen, was ihn sicher auch stört.

17. November 2014
Als ich mit meinem Vater einkaufen bin, klagt er über Schmerzen in der Nierengegend. Mit diesen Schmerzen fing alles an. Hoffentlich bedeuten sie nicht, dass der Tumor wächst. Bis die Novalminsulfon Tabletten wirken dauert es immer eine Weile. Wie ich meinen Vater kenne, müssen die Schmerzen enorm sein, denn sonst würde er nichts sagen und man ihm nichts anmerken.

Da mein Vater abends ausgeht, muss sich sein Zustand deutlich verbessert haben und die Tabletten wirken.

19. November 2014
Die Tage an denen es scheint als wäre alles okay, als würde es den Krebs nicht geben, gibt es zum Glück auch noch. Heute ist so einer. Ich bin mit meinem Vater einkaufen, er hat Appetit auf sehr viele Sachen, packt Süßigkeiten ein und alles scheint gut zu sein. Ohne solche Tage wäre es nur deprimierend.

22. November 2014
Mein Vater sagt, dass er eigentlich permanent Beschwerden hat. In zwei Wochen will er zum Arzt gehen, um sich Spritzen geben zu lassen, weil das früher auch gewirkt hat. Ich glaube, diese Spritzen gab es vor der Krebszeit gegen Rückenschmerzen, weshalb ich ihm sage, dass die Schmerzen auch vom Tumor sein können. Irgendwie ist das wieder deprimierend und die bevorstehende Chemotherapie am Montag ist auch alles andere als erbaulich. Natürlich hoffen wir, dass die Nebenwirkungen nicht so hart sein werden und er in der Zeit bis es später eventuell weiter geht, Beschwerdefrei ist, aber wir wissen auch, dass sich nicht alle Hoffnungen erfüllen.

Wir essen etwas bei McDonalds, gehen spazieren und anschließend will mein Vater es sich gemütlich machen. Gemütlich ist immer gut. Gestern war mein Vater zum dritten Mal in dieser Woche in seiner neuen Stammkneipe. Ich finde es gut, wenn er rauskommt. Nur zu Hause zu sitzen muss eh deprimierend sein. Vor allem, wenn der Krebs in einem wütet.

24. November 2014
Die Chemotherapie fällt aus. Mein Vater klagt über Schmerzen, es wird eine Ultraschalluntersuchung, bei der nichts festgestellt wird, gemacht und beschlossen, dass heute keine Chemotherapie stattfindet. Meinem Vater wird dazu mitgeteilt, dass er zu viel Luft im Bauch hat und er soll seine Tabletten gegen Übelkeit nicht weiter nehmen. Stattdessen soll er Lefax gegen die Luftansammlungen nehmen. Nächste Woche folgt die nächste CT-Untersuchung, in der darauf folgenden Woche die Besprechung mit der Ärztin. Nun bleibt, wie eigentlich von Beginn an, nichts weiter zu tun, als zu hoffen, dass der Krebs nicht gewachsen ist.

Am Nachmittag bin ich mit meinem Vater bei IKEA. Er klagt über Schmerzen im Rückenbereich. Zum Glück habe ich immer eine Ibuprofen dabei, die ich ihm gebe. So lange Schmerztabletten noch wirken, ist es, den Umständen entsprechend, zu ertragen. Zumindest für mich, weil es heißt, dass man noch etwas zur Erleichterung tun kann.

26. November 2014
In der Nacht hat mein Vater so starke Schmerzen, dass er eine Tramadol nimmt. Die Wirkung bleibt aus. Nach zwei Stunden nimmt er Novalminsulfon Tropfen, welche zum Glück rasch wirken. Er nimmt täglich sowieso zwei bis drei Novalminsulfon Tabletten. Die Schmerzen, vermutlich vom Tumor, sind längst Alltag geworden. Es bleibt nur zu hoffen, dass Novalminsulfon weiter hilft und der Tumor sich nicht vergrößert hat. Schon bald wissen wir mehr.

04. Dezember 2014
Seit mein Vater am Montag zur CT-Untersuchung war, wirkt seine Stimmung gedrückt. Er sagt, dass er noch keine Ergebnisse hat und sie erst am kommenden Montag besprochen werden, aber seine Stimmung könnte auch bedeuten, dass er nichts Gutes zu hören bekam. Oder es ist die verständliche Angst vor dem Ergebnis. Seine Schmerzen sind permanent vorhanden und laut dem Arzt können Sie auch von der Luft kommen, die in ihm ist. Lefax jedenfalls hilft gar nicht. Und so nimmt er weiter täglich Novalminsulfon.

05. Dezember 2014
Weil mein Vater davon ausgeht, dass ich ihn morgen am Nikolaustag nicht besuche, erzählt er die Geschichte von einem als Weihnachtsmann verkleideten Mann, der bei ihm geschellt hat, um etwas für mich abzugeben. Zunächst dachte mein Vater, der Mann wollte etwas haben, doch dieser versicherte ihm, dass er nur was abgeben will. Und so überreicht mir mein Vater einen Lottoschein und ein Los für die Glücksspirale. Jeweils fünf Wochen gültig. Er möchte unbedingt, dass ich eine lebenslange Rente gewinne. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll und bleibe irgendwie unterkühlt. Ich freue mich ja, finde die Geste schön, aber wegen der Umstände auch sehr bedrückend. Es ist gar nicht lange her, da schenkte er mir auch drei Lose einer Lotterie. Er will wirklich unbedingt, dass meine finanzielle Situation nach seinem Tod besser ist als sie es vermutlich sein wird. Er ist in seiner beschissenen Lage mehr um mein Wohl als um seines besorgt. Und ich stehe versteinert, fast schon kühl da, und kann mich nicht angemessen freuen. Ich kann nicht aus meiner Haut. Ich bin ein Arsch.

06. Dezember 2014
Weil mein Vater arge Probleme und Schmerzen hat, bestelle ich ihm Toxaprevent Plus Kapseln. Diese sollen seinen Darm entgiften und seine Probleme helfen. Er will zwar keine weiteren Medikamente einnehmen, aber seine Schmerzen sind so unerträglich unangenehm, dass er nicht wirklich Widerstand leistet. Und mir fällt einfach nichts anderes ein. Verzweifelte, vermutlich vergebene Versuche, sein Leben angenehmer zu gestalten.

08. Dezember 2014
Der erste Todestag meiner Mutter. Nebenbei steht das Gespräch mit der Ärztin an. Der Tag kann ganz schnell zu einem weiteren schwarzen Tag werden und beginnt allein mit der Hoffnung, dass es heute keine weiteren schlechten Nachrichten gibt und der Tumor darauf verzichtet hat zu wachsen. Viel mehr kann man weder hoffen noch erwarten, weil der Tumor eben nicht heilbar und Krebs ein Arschloch ist.

Der Arzt ist zufrieden, weil der Tumor nicht gewachsen ist. Ab dem 05. Januar 2015 wird die Chemotherapie fortgesetzt. Fünf bis sechsmal, dann folgt die nächste kurze Pause inklusive CT-Untersuchung. Mein Vater fragt, ob der Tumor sich nicht verkapseln kann. Der Arzt sagt ihm, dass das bei dieser Art Tumor nicht vorkommt und mein Vater sein Leben lang Chemotherapien bekommen wird. Obwohl diese Chemotherpien alles andere als gut für den gesamten Körper sind, hoffe ich, dass es noch lange so weiter geht. Bin ich da zu egoistisch? Mein Vater ist nach diesen Aussagen alles andere als glücklich. Bis jetzt hat er wohl gedacht, dass alles gut werden kann, der Tumor sich verkapselt und er keine Chemotherapie mehr braucht. Seine Niedergeschlagenheit ist mehr als verständlich und es bleibt zu hoffen, dass die nächsten Chemotherapien ihn nicht wieder so fertig machen. Wahrscheinlich ist es aber nicht. Der Arzt sagt ihm noch, dass er, im Gegensatz zu vielen anderen Patienten, die Chemotherapie gut verträgt und bei anderen die Blutwerte meist schlechter sind. Ich finde ja, dass solche Aussagen kein Trost sind und die Ärzte sie sich verkneifen sollten. Denn was soll man mit einer solchen Aussage anfangen? Sich freuen, dass es andere weniger gut verkraften, wenn das Chemogift in ihren Körper geleitet wird? Löst eine solche Aussage nicht viel mehr die Angst aus, dass man selbst irgendwann immer mehr unter der Chemotherapie leiden wird und früher oder später von ihr getötet wird? Wer sagt denn, dass man die Chemotherapie wirklich fortführen muss? Wächst der Tumor wirklich, wenn er und der Körper nicht permanent vergiftet werden oder weiß das in Wahrheit niemand? Sind Krebspatienten nichts weiter als Versuchskaninchen mit denen man viel Geld verdienen kann? Ich glaube schon.

Mein Vater sagt dem Arzt, dass er ständig sehr starke Schmerzen hat und er täglich Novalminsulfon nehmen muss. Der Arzt antwortet, dass das völlig normal ist, weil mein Vater halt voller Luft ist. Weiter sagt er, dass man nichts dagegen tun kann und damit leben muss. Mir erscheinen solche Aussagen wenig hilfreich und wenig glaubhaft. Ist die Schulmedizin wirklich nicht in der Lage irgendwas zu tun? Überhaupt finde ich die Behandlung auch weiter völlig eindimensional. Chemotherapie und Schmerzmittel. Das war es. Keine Mittel, die eventuell die Blutwerte verbessern könnten. Nicht einmal Hinweise auf etwas, was außerhalb der Schulmedizin meinem Vater eine Hilfe sein könnte. Diese absurde Engstirnigkeit bei der Behandlung und im Umgang mit schwer kranken Menschen passt einfach nicht zu einem angeblich so hochentwickelten Land. Wieder scheint es so als ginge es in erster Linie um viele Dinge, aber ganz sicher nicht um das Wohl des Patienten. Und so lange es Patienten gibt, denen es schlechter geht ist scheinbar alles okay. Und wenn man der Patient ist, dem es am schlechtesten geht, dann ist das eben so. So bleibt einem nicht viel mehr als zu hoffen, niemals, absolut niemals, wirklich krank und abhängig von dem perfiden System zu werden und in die Fänge solch eindimensionaler Ärzte zu geraten.

Es ist wenig verwunderlich, dass ich auf der einen Seite erleichtert bin, dass der Tumor nicht gewachsen ist, auf der anderen Seite aber angewidert von den Ärzten bin. Vielleicht fehlt mir da als Angehöriger die nötige Distanz, doch vielleicht sollte man das System auch einfach kritischer beobachten und hinterfragen. Ich weiß auch, dass davon wahrscheinlich nichts besser wird und Bauchspeicheldrüsenkrebs auch weiter zum Tod führen wird. Aber vielleicht gibt es dennoch Möglichkeiten das Leben, so lange es noch da ist, zu erleichtern. Wobei vermutlich viele Ärzte denken, dass sie es tun. Andererseits gibt es viele Ärzte, die sich selbst einer solchen Behandlung nicht unterziehen würden. Da fragt man sich dann schon, wie das sein kann.

13. Dezember 2014
Die Schmerzen sind nun scheinbar ununterbrochen da und Schmerztabletten scheinen nicht zu wirken. Mein Vater muss oft innehalten, er streckt sich, dreht seinen Oberkörper, kann aber den Schmerzen nicht entkommen. Heute ist einer der Tage an denen er sehr niedergeschlagen wirkt. Erschöpft und irgendwie verloren und resigniert. Ich klammere mich an der Hoffnung, dass die Einnahme der Toxaprevent Plus Kapseln, die er seit Mittwoch nimmt, demnächst etwas hilft. Wenn nicht, müssen wir uns etwas anderes überlegen.

Zurzeit schmeckt ihm das Essen nicht besonders, was ebenso wie die Schmerzen für Frustration sorgt. Und wieder höre ich die Worte des Chefarztes, wie er mir am Telefon sagte, dass mein Vater ohne Schmerzen leben kann. Der hat doch keine Ahnung. Gar keine Ahnung. Oder er ist ein verdammtes Lügenmaul.

14. Dezember 2014
Als ich meinen Vater gegen Mittag anrufe, befindet er sich im Bett. Die Schmerzen reagieren nicht mehr auf die Schmerztabletten und mein Vater klingt verständlicherweise resigniert. Schnell stellt sich während unseres Gesprächs raus, dass er, weil es ihm ja nicht besser geht, aufgehört hat, Toxaprevent zu nehmen. Mitteln vom Heilpraktiker gibt er weiterhin nur sporadisch eine Chance. Mittel, die er vom Arzt bekommen hat, nimmt er aber weiter, ohne sie zu hinterfragen. Und falls er sie doch hinterfragt, nimmt er sie dennoch weiter. Wir führen erneut die Diskussion, dass er nichts zu verlieren hat, wenn Toxaprevent nicht wirkt, aber nur gewinnen kann, wenn er wenigstens den einen Monat versucht damit etwas zu erreichen. Ich verstehe absolut, wenn er resigniert und nicht mehr will, verstehe aber nicht, wieso er dann weiter die altbekannten Mittel nimmt, die ja, wenn sie schon nicht wirken, wenigstens für Nebenwirkungen geeignet sind. Morgen will er zum Arzt gehen, obwohl er überzeugt davon ist, dass dieser ihm nicht helfen kann, weil alle Ärzte gleich sind. Warum versucht er es dann nicht mal beim Heilpraktiker? Weil ein Heilpraktiker kein Arzt ist und er ihn bezahlen muss. Natürlich kann der Heilpraktiker ihm kaum das Leben retten, aber vielleicht kann er es ihm erleichtern, was für die Ärzte scheinbar nicht so wichtig ist. Das ist jedoch eine andere Geschichte, die ich schon zu oft thematisiert habe und die uns am Ende auch nicht weiter führt.

Zwei Stunden später besuche ich ihn. Zu meiner Überraschung liegt er nicht im Bett, sondern putzt das Schlafzimmer, bezieht die Betten und sagt, dass das sein muss. Später erfahre ich von ihm, dass er sich in der Apotheke Ibuprofen-Tabletten besorgt hat, weil er dachte, dass die besser helfen als Novalminsulfon. Außerdem hat er alle Tramadol-Tabletten mittlerweile genommen, ohne dass diese gewirkt haben. Wieder einmal frage ich mich, wieso er so konsequent bei der Einnahme der Schmerztabletten ist und so wenig Interesse an den alternativen Mitteln hat. Vor allem, weil die Schmerztabletten offensichtlich nicht wirken. Ich sage ihm, dass er morgen zum Arzt gehen muss, weil es möglicherweise mehr Sinn macht als Unmengen von Tabletten zu schlucken. Ob es wirklich Sinn macht, zum Arzt zu gehen, wissen wir dann morgen. Das ist doch alles Scheiße.

Später machen wir einen Spaziergang. Auffällig auch hier, dass mein Vater gelegentlich innehalten muss, um sich vor Schmerzen zu krümmen. Dennoch sagt er, als ich ihm mitteile, dass ich den Termin beim Arzt für ihn vereinbare, dass wir doch erst mal warten sollen. Das lehne ich ab, denn es gibt ja nichts, worauf wir warten könnten, weil Spontanheilungen doch eher selten sind und ich hoffe, dass der Arzt vielleicht eine Idee hat und meinem Vater helfen kann.

16. Dezember 2014
Nachdem mein Vater die ganze Nacht wegen der Schmerzen nicht schlafen konnte und er vier Novalminsulfon genommen hat, die keinerlei Wirkung zeigten, geht er zum Hausarzt. Dieser untersucht ihn, macht eine Ultraschalluntersuchung und fragt meinen Vater, wann ihm die Gallenblase entfernt wurde. Davon weiß mein Vater nichts, so dass nun vermutet wird, dass die Gallenblase bei der OP rausgenommen wurde. Auf mich wirkt das alles andere als Kompetent, was der Hausarzt veranstaltet. Als ob Gallenblasen einfach so verschwinden oder rausgenommen werden, ohne das es irgendwo vermerkt wird. Lächerlich.

Gegen die Schmerzen möchte er meinem Vater keine stärkeren Tabletten aufschreiben. Mein Vater soll Fencheltee trinken, ansonsten kann man nichts weiter machen. Fencheltee als einzige verbleibende Möglichkeit. Klingt ein wenig fragwürdig.

Nach dem Mittagessen geht es meinem Vater wieder so schlecht, dass er sich hinlegen muss. Ich werde dem Heilpraktiker schreiben und fragen, ob er eine Idee hat. Lieber wäre es mir, wenn mein Vater zu ihm gehen würde.

18. Dezember 2014
Weil Fencheltee keine Lösung sein kann und mein Vater die Schmerzen kaum noch erträgt, geht er erneut zum Hausarzt, um sich Schmerzspritzen geben zu lassen. Mein Vater ist überzeugt davon, dass seine Schmerzen vom Rücken kommen. Vor ein paar Jahren hatte er schon mal ähnliche Schmerzen und diese waren nach fünf Spritzen verschwunden. Der Arzt erklärt sich einverstanden und mein Vater bekommt eine Spritze.
In der Apotheke besorgt er sich später noch Dexahexal-Spritzen, die er in den nächsten Tagen bekommt. Es wäre natürlich sehr gut, wenn damit das Schmerzproblem erledigt werden könnte. Fencheltee jedenfalls wird das nicht schaffen.

Etwa drei Stunden nachdem mein Vater die Spritze bekommen hat, ruft er mich an und sagt, dass er wie ausgewechselt ist. Keine Schmerzen. Er klingt tatsächlich wie ausgewechselt und sagt, dass er die letzte Nacht vor Schmerzen nicht schlafen konnte und sechs Novalminsulfon genommen hat. Wirkung gleich null. Hoffentlich wirken die Spritzen nachhaltig.

Am Abend lässt die Wirkung der Spritze nach und mein Vater nimmt eine Novalminsulfon. Dieses Mal wirkt sie und befreit ihn von seinen Schmerzen. Alles scheint zufällig zu wirken oder eben nicht.

19. Dezember 2014
Gegen 11.00 Uhr bekommt mein Vater die nächste Spritze. Dazu verschreibt ihm der Arzt Voltaren Resinat Kapseln. Davon soll mein Vater aber auf keinen Fall mehr als zwei am Tag von nehmen. Falls es nötig sein sollte, kann mein Vater sich am Montag noch eine Spritze geben lassen. Es bleibt nun abzuwarten, wie sich alles entwickelt.

Probleme hat mein Vater mit seinem Gewicht. Er wiegt noch 86 kg, was in Zeiten ohne Chemotherapie etwas wenig ist. Außerdem wurde bei der Blutuntersuchung festgestellt, dass er zu wenig Blut hat. Aber weil er ja Chemotherapien bekommt, ist das normal und wird, wer hätte was anderes erwartet, nicht behandelt.

Wie schon gestern, hält auch heute die Wirkung der Spritze nicht wirklich lange an und mein Vater muss eine Tablette nehmen. Vielleicht kommen die Schmerzen doch vom Tumor oder der Luft im Bauch. Wissen werden wir es vermutlich nie.

24. Dezember 2014
Das zweite Weihnachtsfest ohne meine Mutter. Eine gewisse Normalität ist eingekehrt, dass ich unschwer zu sagen. Doch immer wieder kommen Gedanken auf, die andeuten, dass das Normale doch nicht normal sein könnte. Zumindest nicht, wenn man es anders kennt. Ich sehe oft meine Mutter vor mir, denke an vergangene Situationen und bin dann wieder fassungslos, wenn ich die Zeit vor und die Zeit nach dem Tod als eine einzige Situation zusammenfügen muss. Der Lauf des Lebens kann einen durchaus verzweifeln lassen. Vielmehr noch aber wirft er wieder und wieder die Frage nach dem Sinn auf. Weiter führen solche Gedanken letztlich aber nicht.

Meinem Vater geht es weiter nicht wirklich gut. Er schafft es nicht mehr, Gewicht zuzunehmen. Problem dabei ist natürlich auch, dass er vor Schmerzen oft keinen Hunger hat. Gestern war er mit Helmut was trinken, doch schon nach zwei Stunden musste er wieder gehen, weil die Schmerzen nicht zu ertragen waren.
Er nimmt täglich Voltaren Resinat. Ob und wie viel Novalminsulfon er dazu nimmt, weiß ich nicht. Mich erschreckt weiter die Tatsache, dass die Chemotherapie schon bald fortgesetzt wird. Ich verstehe einfach nicht, vielleicht will ich es auch nur nicht, wieso man ihm keine unterstützende Behandlung anbietet. Das Gesundheitssystem bekommt von mir in diesem Fall sicher niemals gute Noten.

28. Dezember 2014
Die Wirkung der Spritzen ist längst nichts mehr als eine Erinnerung. Die anfängliche Begeisterung, die Schmerzfreiheit, alles scheint so lange her. Leider war der Erfolg nur scheinbar, mehr Hoffnung als sein. Eine Art Irrtum vielleicht. Ernüchterung ist eingekehrt. Mein Vater nimmt Schmerztabletten. Wenn es sein muss auch als Kombination. Er schläft weiter schlecht, hat nachts oft Schmerzen und nimmt nach den Tabletten in der Nacht weitere am Tag. Heute Vormittag eine Novalminsulfon und anschließend eine Voltaren Resinat. Vielleicht auch mehr als eine. Ein Blick in seine Packung Toxaprevent lässt vermuten, dass er diese nicht regelmäßig nimmt. Ich weiß, dass man bei Schmerzen Schmerzmittel braucht, aber wieso gibt er den alternativen Mitteln nicht konsequent eine Chance?
Er isst auch nicht mehr so viel, wie ich es von ihm gewohnt bin. Er schafft es nur mit Mühe seine 88 kg zu halten. Das bereitet mir weiter Sorgen, denn wenn die nächste Chemotherapie beginnt wird es sicher nicht leichter.

Dass wir Menschen sterben ist die eine Sache, dass manche ihre letzten Tage, Wochen oder Monate aber teilweise so oder noch schlimmer verbringen müssen, ist einfach nur grausam und unterstreich die Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins mit Nachdruck.

Um 19.00 Uhr geht mein Vater Helmut besuchen. Doch schon um 21.00 Uhr ist er wieder zurück und liegt im Bett, weil es ihm nicht gut geht. Er nimmt weitere Tabletten gegen die Schmerzen. Welche und wie viele, weiß ich nicht. Ist das ein Zustand, der sich nicht mehr verbessern lässt? Ich fürchte es fast.

29. Dezember 2014
Das erste Jahr ohne meine Mutter. Das vielleicht letzte Jahr mit meinem Vater. Dass wir alle irgendwann sterben, ist unvermeidlich. Besser und erträglicher macht dieses Wissen es nicht. Meine Mutter musste sich sechs Monate quälen und ich kann für sie nur hoffen, dass sie das nicht bewusst wahrgenommen hat. Erfahren werde ich es nie. Und nun leidet mein Vater. Wie sehr und wie lange, dass weiß niemand. Aber wenn ich mich an Prominente erinnere, die ebenfalls an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben sind, dann sehe ich abgemagerte Menschen, Schatten ihrer selbst, denen es nicht vergönnt war, einfach zu sterben. Sie litten lang und ausgiebig. Und das Gleiche steht meinem Vater bevor. Wie ich das mit ansehen soll, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich keine Wahl habe. Ich kann nichts tun, kann es nur ertragen. So wie eigentlich das ganze Leben. Das Leben passiert, wir haben es zu akzeptieren. Erst werden wir geboren, dann beginnt der Verfall. Und ab dem Moment, wo wir uns unserer Sterblichkeit bewusst werden, haben wir den Salat.

30. Dezember 2014
Wegen der Schmerzen steht mein Vater früh auf und geht zum Arzt, um sich eine Spritze zu holen. Da der Arzt Urlaub hat, muss er wieder zurückgehen. Es passt einfach alles zusammen.

Um 11.00 Uhr holt er mich ab. Wir wollen nach Lünen meinen Wagen ummelden. Er erzählt, dass er in der Nacht vor Schmerzen nicht schlafen konnte und fünf Tabletten, die keine Wirkung brachten, genommen hat. Auf halber Strecke kehren wir um, weil er zur Toilette muss. Die Entwicklung wird immer besorgniserregender.
Ich fahre alleine nach Lünen. Als ich anschließend zurück bin, liegt er im Bett und es geht ihm absolut nicht gut. Dennoch steht er auf, nimmt eine Ibuprofen und Minuten später Novalminsulfon-Tropfen. Einige Zeit später fahren wir nach Lünen, um Pizza zu essen. Anschließend machen wir einen kleinen Spaziergang durch Lünen. Mehrfach greift er sich währenddessen an die Seite und muss kurz anhalten. Die Schmerzen ignorieren alle Schmerzmittel. Wir fahren zurück.

Gegen 19.00 Uhr ruft mich mein Vater an. Die Schmerzen sind weiter da und er will sich ins Bett legen, weil er es nicht mehr aushält. Wie viele weitere Tabletten er genommen hat, weiß ich nicht. Es scheint so als würde es keine Besserung mehr geben. Und mir wird abermals deutlich bewusst, dass es ernst ist. Die Gedanken an ein baldiges, gar qualvolles Ende meines Vaters kommen hoch. Den Rest des Abends schaffe ich es nicht mehr zu entspannen oder den Kopf frei zu kriegen. Mein Magen schnürt sich zusammen und ich mache mir Gedanken, was alles zu tun ist, wenn mein Vater gestorben ist. Was mache ich mit der Wohnung, was mit den Möbeln? Wen muss ich alles informieren, was muss ich organisieren? Was kostet das? Werde ich es schaffen? Und je mehr ich darüber nachdenke, desto angespannter werde ich. Ich frage mich, wie es dann weiter gehen soll. Es ist ja jetzt schon nicht so, dass ich mein Leben in irgendeiner Weise auf die Reihe bekomme. Wenn mein Vater nicht mehr ist, bin ich familienmäßig alleine. Es gibt zwar noch meinen Onkel, aber wir haben kaum Kontakt. Ich bin dann der letzte Überlebende. Kein wirklich erbaulicher Gedanke.

31. Dezember 2014
Silvester ist eigentlich schon immer ein angespannter Tag gewesen. Und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Zumindest glaube ich das heute. Die Nacht war nicht so gut. Mein Magen hat sich eingeschaltet und signalisiert mir, dass nichts in Ordnung ist. Auf Stress reagiert er deutlich mit Schmerzen. Dazu kommt die gewohnte Appetitlosigkeit, welche mir Probleme bereitet. Ich kann mir nicht vorstellen etwas zu essen. Situationen wie diese sind nicht förderlich für meine Essstörung. Mir graut vor dem Tag. Mir graut es vor allem. Meine Naivität, dass das nächste Jahr aus unerklärlichen Gründen besser als dieses Jahr wird, ist auf einmal verflogen. Es gibt keinen Grund, warum irgendwas besser werden sollte. Nicht einen einzigen.

Ich frage mich, ob der Tumor in den letzten Tagen gewachsen ist oder ob er die Probleme auch machen kann, ohne gewachsen zu sein. Ich frage mich, wie es meinem Vater gehen soll, wenn die Chemo wieder beginnt. Zu den Schmerzen dann noch die Nebenwirkungen der Chemo. Das kann er nicht ertragen. Haben die Ärzte ihm vielleicht nur gesagt, dass der Tumor nicht gewachsen ist, damit sie mit der Chemotherapie fortfahren können? Werden sie ihm stärkere Schmerzmittel geben und werden diese wenigstens eine Weile helfen? So viele Fragen, doch auf keine fällt mir wirklich eine positive Antwort ein. Eine Lösung, die weitere Zeit bringt, scheint es nicht zu geben. Der Arzt damals sprach von maximal einem Jahr. In Anbetracht der Entwicklung scheint es, als würde er Recht behalten auch wenn es meinem Vater, so scheint es zumindest, heute besser als gestern geht.

02. Januar 2015
Am Vormittag ruft mein Vater mich an. Er hat in der letzten Nacht, wie eigentlich in jeder Nacht, nicht wirklich schlafen können. Ich soll ihm Doppelspalt Schmerztabletten mitbringen, wenn ich ihn nachher besuche. Er hat alle seine Schmerzmittel aufgebraucht, was ich sehr bedenklich finde. Ich glaube auch nicht, dass Doppelspalt-Tabletten irgendwas bewirken können. Montag, wenn die Chemotherapie fortgesetzt wird, will er mit dem Arzt sprechen. Viel wird da sicher nicht bei rumkommen. Maximal stärkere Tabletten. Irgendwann gibt es keine stärkeren Tabletten mehr.

Beim Mittagessen ist unschwer zu erkennen, dass es ihm nicht gut geht. Direkt nach dem Essen nimmt er eine Doppelspalt und legt sich hin. Ich mache Tee und spüle. Weil mein Vater es nicht schafft, mal loszulassen und im Bett zu bleiben, steht er schon bald wieder auf, um mit mir einkaufen zu fahren. Weil er ähnliche Schmerzen vor Jahren schon mal hatte, vermutet er, dass die Schmerzen von seinen Nierenzysten ausgelöst werden. Klingt für mich nachvollziehbar, werden die Ärzte sicher anders sehen, weil Nierenzysten in der Regel keine Beschwerden verursachen und er ja Krebs hat und damit der Krebs die Antwort auf alle Fragen ist. Dennoch sollte man beim Betrachten der Schmerzen vielleicht darüber nachdenken, die Zysten zu punktieren. Verlieren kann man ja nicht wirklich etwas, aber viel gewinnen. Hoffnung, dass es wirklich nicht vom Krebs kommt ist alles, was bleibt. Ich bin wirklich gespannt, was der Arzt am Montag dazu zu sagen haben wird.

03. Januar 2015
Gegen 10.00 Uhr ruft mein Vater mich an. Ich soll ihm erneut Doppelspalt aus der Apotheke mitbringen, weil er gerne ein paar Tabletten zur Reserve hat. Ich finde das nicht gut und sage ihm, dass er ja Montag mit dem Arzt spricht und dieser ihm gegebenenfalls andere Tabletten aufschreibt. Er wiegelt ab, weil es ihm ja gerade etwas besser geht und er deshalb auch nicht mit dem Arzt reden muss. Energisch weise ich darauf hin, dass er auf jeden Fall mit dem Arzt über seine Probleme reden muss. Er willigt ein. Ich fürchte er tut es nur, damit ich ruhig bin.

Als wir nach dem Mittag einkaufen sind, muss er mehrmals stehen bleiben. Er krümmt sich regelrecht vor Schmerz, stützt sich auf den Einkaufswagen und geht nicht mehr davon aus, dass der Schmerz von den Nierenzysten verursacht wird. Die Tabletten wirken natürlich nicht mehr wirklich. Was wird der Arzt am Montag dazu sagen?

05. Januar 2015
Die nächste Staffel Chemotherapien beginnt. Beim Blut abnehmen sagt mein Vater, dass er starke Schmerzen hat. Der Pfleger spricht mit dem Arzt und dieser antwortet, wie von ihm nicht anders zu erwarten. Die Chemotherapie wird fortgesetzt. Außerdem schreibt er meinem Vater Novalminsulfon-Tropfen auf. Diese soll er bei Bedarf nehmen. Dazu Tilidin Tabletten, welche mein Vater morgens und abends nehmen soll. Dass die Schmerzen von den Nierenzysten kommen, ist ausgeschlossen. Nun gut, er ist Arzt, er wird es wissen.
Eine Frau sagt zu meinem Vater, dass die Schmerzen ein gutes Zeichen sind. Schmerzen bedeuten, dass sich der Tumor verkleinert. Wer diese Frau ist und woher sie die Informationen hat, bleibt unbekannt.

06. Januar 2015
Die Nebenwirkungen der Chemotherapie setzten schon gestern Abend ein. Übelkeit und Erbrechen die ganze Nacht. An Schlaf nicht zu denken. Die Nebenwirkungen steigern sich von Chemotherapie zu Chemotherapie. Die Schmerzen sind nebenbei unvermindert stark. Die neuen Tabletten wirken gar nicht.

Außerdem nimmt mein Vater kaum noch Tabletten vom Heilpraktiker. Ich verstehe das einfach nicht. Er nimmt zehn und mehr Schmerztabletten am Tag, aber die Sachen vom Heilpraktiker nimmt er nicht, weil sie nicht wirken. Was definitiv auch nicht wirkt, sind die Schmerzmittel. Was also hat er zu verlieren, wenn er die alternativen Mittel dazu einnimmt?

07. Januar 2015
Die letzte Nacht musste mein Vater sich fast durchgehend übergeben. Es kam nur gar nichts mehr beim übergeben raus, weil schon im Verlauf des Tages jeder Versuch Nahrung aufzunehmen gescheitert ist. So sind die Nebenwirkungen nicht nur stärker, sondern dauern auch länger an. Heute muss er dennoch zum Krankenhaus, um das portable Infusionsgerät zurück zu bringen.
Blutuntersuchungen finden nun auch nicht mehr wöchentlich statt, sondern alle zwei Wochen vor der Chemotherapie. Warum das wohl so ist?

Als mein Vater das Infusionsgerät zurück bringt, klagt er über Übelkeit und starke Schmerzen. Er bekommt eine Infusion gegen die Übelkeit. Wegen der Schmerzen soll er die Tabletten weiter nehmen. Und nächsten Montag wird er geröntgt. Bis dahin muss es klar kommen.
Kaum zu Hause angekommen, übergibt er sich weiter. Er kann weder essen noch trinken, weil nichts drin bleibt. Ich spreche erneut mit dem Heilpraktiker über die Situation. Abermals empfiehlt er die Misteltherapie, weil diese die Nebenwirkungen sehr reduzieren kann.

Mein Vater will nicht wirklich was von der Misteltherapie hören. Er krümmt sich vor Schmerzen, ihm ist schlecht und doch ist er nicht wirklich offen, etwas anderes zu versuchen. Er sagt, dass er abwarten will, was beim Röntgen herausgefunden wird. Ich weiß nicht, was das mit der Misteltherapie zu tun hat, komme aber gegen ihn nicht an.

10. Januar 2015
Gegen die Schmerzen nimmt mein Vater nach eigener Aussage alle drei Stunden Tabletten. Direkt nach dem Mittagessen nimmt er eine Tilidin und eine Novalminsulfon zugleich ein. An der Misteltherapie ist er auch weiter nicht interessiert, stattdessen will er die Chemotherapie abbrechen, wenn es ihm nach der nächsten Chemotherapie wieder so schlecht geht. Meine Anmerkungen, dass es gut sein, dass die Misteltherapie die Nebenwirkungen reduziert, scheinen auf taube Ohren zu stoßen. Es klingt auch so als wäre das Röntgen am Montag eine entscheidende Untersuchung für ihn. Meine Frage, warum er sich denn nicht wenigstens täglich eine Spritze gegen die Schmerze geben lässt, beantwortet er so, dass die Wirkung der Spritze ja nur sechs oder sieben Stunden anhält. Das finde ich besser als alle drei Stunden Tabletten zu nehmen. Aber dafür ist mein Vater nicht zugänglich. Und es ist sein Körper und sein Entscheidung. Das muss ich akzeptieren.

12. Januar 2015
Die Röntgenuntersuchung beim Röntgenarzt hat etwas von einem schlechten Scherz. Der Onkologe hat nämlich veranlasst den Brustkorb zu röntgen. Das hat er vor ein paar Wochen übrigens auch schon machen lassen. Der Röntgenarzt sagt, dass er nichts erkennen kann und vermutet, dass die Schmerzen entweder von der Wirbelsäule oder der Leber kommen. Wie er darauf kommt, sagt er allerdings nicht. Ich frage mich, ob der Onkologe etwas beschränkt ist, weil er den Brustkorb röntgen lässt, obwohl die Schmerzen ganz woanders sind. Eine Frage des Geldes oder des fehlenden Verstandes. Beides nicht wirklich als Grund zu akzeptieren.
Morgen geht mein Vater zum Hausarzt. Bis es soweit ist, schluckt er weiter Schmerztabletten. Mal Tilidin, mal Novalminsulfon und auch mal eine Doppelspalt. Kreuz und quer, das ist nicht schwer. Ob sein Durchfall daher kommt, bleibt ungeklärt.

13. Januar 2015
Der Hausarzt ist, nachdem mein Vater ihm die Vermutung des Röntgenarztes, dass die Schmerzen entweder von der Leben oder der Wirbelsäule kommen, der gleichen Meinung. Er ordnet Urinprobe, Blutabnahme und Ultraschall an. Stärkere oder andere Tabletten will er meinem Vater erst nach den Untersuchungen verordnen. Bis dahin schreibt er ihm Novalminsulfon Tabletten auf. Mein Vater nimmt diese zusammen mit den Tilidin alle zwei bis drei Stunden ein. Doppelspalt nimmt er, laut eigener Aussage, derzeit nicht mehr. Wenn es wirklich die Leber ist, die die Probleme verursacht, dann sieht es nicht gut aus. Übermorgen wissen wir vielleicht schon mehr.

14. Januar 2015
Termin zur Blutabnahme und anschließender Ultraschalluntersuchung. Der Hausarzt erkennt irgendetwas an der Seite, was er nicht zuordnen kann, teilt dies meinem Vater mit und sagt dann:“Wir sehen uns in einem Vierteljahr.“ Da fragt man sich schon, was mit dem Arzt nicht stimmt. Mein Vater sagt, dass es so nicht geht, er nicht täglich Schmerzen ohne Ende haben kann, täglich 10 – 20 Tabletten nehmen und die Ergebnisse der Blutuntersuchung auch noch nicht vorliegen. Leicht irritiert sagt der Arzt, dass mein Vater morgen wiederkommen soll. Bin ich vielleicht zu kritisch, wenn ich das Gefühl habe, dass die Ärzte maximal Dienst nach Vorschrift im Angebot haben und ist das wirklich eine Frechheit, was hier abgeliefert wird?

15. Januar 2015
Die Blutwerte sind da. Die Bauchspeicheldrüsenwerte sind schlecht. Die Schmerzen können von der Bauchspeicheldrüse kommen und der Arzt schreibt meinem Vater Tilidin und Palexia auf. Ob die Bauchspeicheldrüsenwerte nun schlechter als zuletzt sind oder nicht wird nicht kommuniziert. Es gibt auch keinen Bericht für den Onkologen. Mein Vater bekommt auch keinen Ausdruck der Werte. Wozu auch? Hinterher könnte man die Werte ja noch irgendwie vergleichen. Das ist doch nicht normal, wobei es natürlich vollkommen normal ist. Es werden keine Daten ausgetauscht, es wird nicht kommuniziert. Es werden Überweisungen ausgestellt und Rezepte erstellt. Zu viel mehr scheinen Ärzte nicht zu taugen. Solange man nicht wirklich krank ist, kann man Ärzte in Anspruch nehmen. Ist man krank, dann wird es krank. Und auf dieses System sollen andere Länder wirklich neidvoll blicken? Doch wohl höchstens Dritte Welt Länder. Affentheater.

Die Tabletten soll mein Vater nur morgens und abends nehmen. Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich jetzt kurz lachen. Aber ich verkneif es mir einfach.

17. Januar 2015
Die neuen Tabletten scheinen nichts zu verändern. Dennoch versuchte mein Vater die Abstände zwischen den Einnahmen zu verlängern. Das führt dazu, dass er es nun vor Schmerzen kaum aushalten kann und seinen Entschluss, seltener Tabletten zu nehmen, rasch wieder ändert und nicht mehr so lange mit der Einnahme wartet.

Zwischenzeitlich vermutet er, dass bei der OP was schiefgelaufen sein muss, weil die Schmerzen so stark sind. Ich sage ihm, dass das vermutlich nichts mit der OP zu tun hat, weil er die Schmerzen ja anfangs nicht hatte. Dennoch wäre es wichtig zu wissen, was der Hausarzt beim Ultraschall gesehen hat, was er nicht zuordnen kann. Vielleicht waren es Metastasen und er will es meinem Vater nur nicht sagen. Es wäre auch gut zu wissen, was er mit schlechten Bauchspeicheldrüsenwerten meint. Schlechter als sonst oder so schlecht, wie bei Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs üblich? Mein Vater sollte am Montag vor der nächsten Chemotherapie nachfragen.

Ich frage mich, wie es weitergehen wird. Wird es langsam immer schlimmer oder fällt mein Vater irgendwann einfach um? Sicher ist nur, dass ich es nicht mehr verdrängen kann.
Durch den Krebs habe ich viel Zeit mit meinem Vater verbracht. Wir sehen uns fast täglich, essen oft zusammen, gehen spazieren. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal eine so enge Bindung zu meinem Vater haben würde. Die Distanz, die es früher mal gab, ist völlig verschwunden, seit meine Mutter damals ins Krankenhaus kam. Das Leben ist unberechenbar und nicht wirklich planbar. Und vor allem ist es eines, vollkommen sinnlos, weil alles, was man tut nur von begrenzter Dauer ist. Schon alleine der körperliche Verfall, wenn man es tatsächlich schafft alt zu werden, ist etwas, was mir doch einfach nur grausam erscheint. Wenn man mich gefragt und ich davon gewusst hätte, hätte ich meiner Geburt vermutlich nicht zugestimmt.

18. Januar 2015
Mein Vater ruft an, um mir zu sagen, dass ich morgen beim Arzt Novalminsulfon Tabletten aufschreiben lassen soll. Es ist erst fünf Tage her, seit er ihm diese zuletzt aufgeschrieben hat. Ich frage, ob er die Palexia Tabletten nicht mehr nimmt. Er antwortet, dass die nichts bringen, weshalb er nur noch Novalminsulfon nimmt. Und morgens und abends die anderen.

Als ich später bei ihm bin, liegen auf dem Tisch Palexia und Tilidin griffbereit. Außerdem Tramadol. Es sieht nicht so aus als würde mein Vater tagsüber nur noch Novalminsulfon nehmen. Außerdem hat mein Vater seit Tagen wieder Durchfall, weshalb er ständig Lopedium nehmen muss. Ob es von der Bauchspeicheldrüse, der Chemotherapie oder von den vielen Tabletten kommt, lässt sich vermutlich nicht sagen. Die nächste Chemotherapie ist schon morgen.

19. Januar 2015
Beim Arzt fällt auf, dass meinem Vater erst vor fünf Tagen 50 Novalminsulfon aufgeschrieben wurden. Der Arzt kommt zu mir, um mir zu sagen, dass mein Vater auf keinen Fall mehr als vier davon täglich nehmen darf. Ich erwidere, dass ich das weiß, mein Vater aber wegen der Schmerzen etwa alle zwei Stunden eine nimmt. Der Arzt sagt, dass mein Vater dann morgens und abends statt einer Palexia zwei nehmen soll. Dazu maximal vier Novalminsulfon. Alles andere killt seine Nieren und fügt denen irreparable Schäden zu. Außerdem wird das Blutbild so komplett zerstört. Wenn es mit der Dosierung weiter nicht erträglich wird, dann kann man andere Tabletten versuchen. Ich soll meinem Vater das unbedingt mitteilen. Dennoch werden die Tabletten aufgeschrieben. 50 Stück.

Nach der Chemotherapie ruft mein Vater an. Ich erzähle ihm, was der Arzt gesagt hat. Mein Vater sagt, dass ihm eben erst vom Onkologen 50 Novalminsulfon aufgeschrieben wurden. Dazu Tilidin. Auch wurde er darauf hingewiesen, dass er maximal vier Novalminsulfon am Tag nehmen soll. Und morgens eine Tilidin und abends zwei. Ich fürchte, nun nimmt er morgens zwei Tilidin und zwei Palexia. Am Abend dann vermutlich zwei von jeder Sorte. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn die Ärzte sich da irgendwie austauschen würden. Aber vielleicht verlange ich da auch zu viel. Schließlich ist mein Vater erwachsen und Erwachsene wissen was sie tun. Und außerdem bin ich nicht in seiner beschissenen Lage. Spielt es da am Ende überhaupt eine Rolle, was für Langzeitwirkungen all die Tabletten haben?

23. Januar 2015
Nachdem mein Vater die letzten Tage im Bett verbringen musste, weil die Nebenwirkungen der Chemotherapie keine anderen Aktivitäten außer ausruhen und kotzen übrig ließen, gehen wir zusammen Pizza essen. Im Gesicht sieht man den Gewichtsverlust der letzten Tage. 82 kg wiegt er jetzt noch. Zehn Kilo weniger als er möchte. Bis zur nächsten Chemotherapie gilt es mindestens auf 86 kg zu kommen.

Nach dem Essen gehen wir einkaufen. Nach einer Weile hält mein Vater an, krümmt sich regelrecht vor Schmerzen und muss durchatmen. Was genau er hat, mag er nicht sagen. Direkt nach dem Einkaufen sagt er, dass er dingend zur Toilette muss. Immer, wenn er was gegessen hat, bekommt er wenig später Durchfall. Die Chemotherapie hinterlässt immer weitere Spuren. Chemotherapien vergiften Menschen und bringen sie um. Oder?

Die Treppen in die dritte Etage zu seine Wohnung bewältigt mein Vater nur noch mit viel Mühe. Seine Kondition hat merklich nachgelassen. Auch das unmittelbare Folge der Chemotherapie.

27. Januar 2015
Kein wirklich guter Tag. Vormittags trifft mein Vater einen Nachbarn, der zwei Häuser weiter wohnt. Dieser hat ebenfalls Bauchspeicheldrüsenkrebs. Seit zwei Jahren wird er behandelt und mein Vater sagt mir später, dass der Nachbar furchtbar aussieht. Er hat auch ständig Durchfall und ihm ist übel. Ich klammere mich natürlich sofort an den zwei Jahren fest. Wenn der das schafft, dann schafft mein Vater das auch. Ob das für meinen Vater erstrebenswert ist, hinterfrage ich nicht. Ich will nur, dass er es mindestens so lange schafft. Purer Egoismus. An dieser Stelle sei es mir gestattet.
Den ganzen Tag ist meinem Vater übel und nach dem Mittagessen muss er sich eine Weile hinlegen. Ich indes hoffe, dass heute einfach nur ein schlechter Tag ist.

Später als ich beim Heilpraktiker bin, gibt dieser mir für meinen Vater Rephalysin C mit. Zur Unterstützung der Darmflora, die durch die Chemotherapie vermutlich völlig im Arsch ist. Welch passendes Wortspiel. Ich hoffe, mein Vater nimmt sie auch ein.

28. Januar 2015
Ich betrachte die Fotos an der Wand. Meine Mutter ist darauf zu sehen. Sie lacht, sieht so lebendig und auch zufrieden aus. So nah und doch so weit weg. Nicht mehr greifbar. Nie mehr fröhlich. Daneben mein Onkel. Aufgenommen wenige Stunden vor seinem Tod. Er tanzt, wirkt ausgelassen. Kurz danach kippt er vor seiner Wohnungstür um und stirbt eine Weile später. Ich sehe ihn in seiner Wohnung, die nun meine ist, sitzen, höre ihn reden, schimpfen, weil er mit irgendwas nicht einverstanden war. Ich kann ihn nicht unterbrechen, ihm nicht zustimmen. Er ist seit Jahren weg. Von beiden sind Erinnerungen alles, was geblieben ist. Sie sind nicht mehr da, sie sind auch nicht woanders. Alles was von ihnen noch greifbar ist, sind ihre Überreste auf dem Friedhof. Absurdes Leben. Es ist manchmal so als hätte es sie nie gegeben. Man lebt vor sich hin, macht irgendwas, wird älter und manchmal ist es so als wäre alles, was gewesen ist, nicht mehr real. Eine Vergangenheit, die so weit weg ist, dass es scheint als hätte sie womöglich gar nichts mit einem selbst zu tun. Und vielleicht ist es sogar so. Zwischen den Fotos und dem Jetzt scheinen manchmal Welten zu liegen. Als hätten diese Welten nicht wirklich etwas miteinander zu tun. Erschreckend.

02. Februar 2015
Eigentlich sollte heute Chemotherapie sein, doch mein Vater sagt, dass er nicht möchte, weil die Nebenwirkungen zuletzt so stark waren, es ihm auch jetzt noch nicht gut geht und ihm immer übel ist. Ihm wird erwidert, dass man vorhin beschlossen hat, dass er heute sowieso keine Chemotherapie bekommen soll. Warum das beschlossen wurde, sagt man nicht und mein Vater fragt auch nicht nach. Nächste Woche soll er zur Blutuntersuchung vorbei kommen und in der übernächsten Woche wird die Chemotherapie fortgesetzt. So lauter der Plan. Mehr erzählt mir mein Vater nicht. Ob noch mehr besprochen wurde oder nicht, bleibt mir verborgen.

Aufgeschrieben bekommt er Loperamid und Novaliminsulfon von Ratiopharm, weil der Arzt meint, dass der Durchfall vom Novalminsulfon kommt und es vielleicht hilft, wenn mein Vater es nun von einem anderen Anbieter bekommt. Ich vermute, dass der Durchfall und die anderen Beschwerden eher was mit der Chemotherapie zu tun haben. Aber ich bin kein Arzt. Außerdem soll mein Vater regelmäßig Ondansetron gegen die Übelkeit nehmen. Die Einnahme hat mein Vater, obwohl er die Tabletten vorrätig hat, vernachlässigt. Ein Problem ist, dass mein Vater gerne selbst bestimmt, wann er was einnimmt und auch alleine entscheidet, wann er etwas nicht mehr nimmt. Diese Willkür ist möglicherweise nicht sehr hilfreich bei der Bekämpfung der Beschwerden. Andererseits spielt das womöglich auch alles gar keine Rolle.

03. Februar 2015
Am Abend besucht mich mein Vater spontan und für mich überraschend. Wir spielen Billard an der Play Station und alles scheint okay zu sein. Scheinbar hat er keine Schmerzen und so verbringen wir einen völlig entspannten Abend.

08.Februar 2015
Die Woche ohne Chemotherapie war insgesamt viel entspannter. Die Gedanken an Tod und Leid wurden von mir beiseitegeschoben und das Leben ging seinen Gang. Heute machen wir einen Spaziergang. Da erkennt man, dass mein Vater keine besonders gute Kondition mehr hat, denn ab und zu hält er inne, um sich kurz zu strecken oder vor Schmerzen zu krümmen. Dennoch gehören die letzten Tage wohl zu den besseren Tagen.
Ob mein Vater wirklich viel weniger Schmerztabletten nimmt oder ob er es nur sagt, damit ich mir keine Sorgen mache und ihn nicht mit meinen Ausführungen, dass zu viele Schmerztabletten nicht gut für ihn sind, nerve, kann ich nicht sagen. Ich hoffe aber, dass er wirklich weniger Schmerztabletten nimmt. Dafür muss er täglich Loperamid nehmen, weil sein Durchfall nicht mehr weichen will.

Ob die Medizin eines Tages etwas anderes als die Chemotherapie im Angebot haben wird, um gegen den Krebs vorzugehen? Etwas ohne derartige Nebenwirkungen und etwas, von dem man wirklich sagen kann, dass es hilft und die Patienten letztlich nicht killt?

09. Februar 2015
Die Blutwerte sind soweit okay, dass die Chemotherapie nächsten Montag weiter gehen kann. Nächste Woche Mittwoch folgt dann auch schon die nächste CT-Untersuchung. Gegen den Durchfall, so wird es meinem Vater mitgeteilt, kann man nichts machen. Er bekommt ein paar Loperamid aufgeschrieben und gut.

Den Tag über geht es meinem Vater nicht so gut. Ihm ist irgendwie übel. Ob es an seinem Dosenfutter zum Mittag liegt oder was die Ursache ist, lässt sich nicht klären. Weil er den Durchfall nicht loswird, hat er beschlossen, dass er das Rephalysin C absetzt und das L-Carnitin nur noch einmal am Tag nimmt. Weil irgendwoher der Durchfall ja kommen muss. Das Pankreazym nimmt er schon ein paar Tage nicht mehr. Magnesium, Calcium und Vitamin D wohl auch nicht. Er geht davon aus, dass seine Probleme davon kommen. Ich sage ihm, dass es seine Entscheidung ist, aber der Durchfall doch wohl eher auf die Chemotherapie zurückzuführen ist als auf die anderen Mittel. Mehr fällt mir dazu nicht ein. Ich verstehe ihn ja irgendwie, aber dennoch fällt es mir weiterhin schwer seine Entscheidungen immer zu akzeptieren.

Und so ist die Realität zurückgekehrt und das Verdrängen bekommt einen weiteren Dämpfer.

10. Februar 2015
Mein Vater hat keinen Appetit, isst viel zu wenig, klagt über Müdigkeit und hat Schmerzen. Dazu kommt, dass ihm nichts schmeckt, wenn er versucht etwas zu essen. Ein halbes Brötchen, zwei Plätzchen vom Bäcker und ein oder zwei Bananen sind fast alles, was er den Tag über zu sich nimmt. Sein Gewicht bleibt unter 82kg. Es macht nicht den Anschein als würde sich bis nächsten Montag nicht viel daran ändern. Insgesamt wirkt er heute niedergeschlagen, ratlos und schwach. Ich finde, dass man ihm im Gesicht ansieht, dass er abgenommen hat. Manchmal, wenn ich ihn ansehe, sieht er älter aus. Die weniger guten Tage sind eine Woche zu früh dran.

12. Februar 2015
Meinem Vater geht es weiterhin nicht gut. Der Durchfall ist unverändert und er muss sich oft hinlegen. Die Misteltherapie lehnt er weiter ab. Stattdessen will er nun das Pankreazym, was er zwischenzeitlich wieder genommen hat, schon wieder absetzen und stattdessen zweimal täglich Rephalysin C nehmen. Letzteres finde ich zwar gut, fürchte aber, dass er seinen Plan schon bald wieder ändern wird. Dafür, so sagt er, nimmt er seit Tagen weniger Schmerztabletten als der Arzt empfohlen hat.

16. Februar 2015
Eigentlich sollte heute Chemotherapie sein, doch mein Vater ruft vorher auf der Onkologie an, um zu sagen, dass er noch immer Durchfall hat und die Chemotherapie wird abgesagt. Am Mittwoch folgt die CT-Untersuchung.
Am späten Nachmittag gehen wir spazieren. Wie immer in den letzten Tag oder auch gar Wochen, friert mein Vater sehr schnell. Eigentlich friert er ständig. Außerdem fehlt ihm die Kraft für einen größeren Spaziergang. Auch das wird, so scheint es jedenfalls, immer schlimmer. Deutlich ist zu erkennen, dass ihn Chemotherapie und der dadurch verursachte Durchfall immer mehr schwächen. Gewichtstechnisch tut sich auch nichts. Sein Gewicht bleibt unterhalb von 82kg und der Appetit weiterhin mäßig. Eine Misteltherapie kommt auch weiter nicht für ihn in Frage. Stattdessen sollte ich ihm DIMENHYDRINAT Tabletten und Lindenblüten Tee bestellen, weil in einer TV Zeitschrift stand, dass diese Mittel bei Beschwerden, wie er sie hat, helfen. Das finde ich ja nicht grundsätzlich schlecht, frage mich aber, wieso er die Mittel, die der Heilpraktiker empfiehlt, so wenig beachtet. Andererseits hätte ich in seiner Situation schon längst aufgegeben.

18. Februar 2015
Die CT-Untersuchung zeigt keine Veränderungen an. Zumindest versteht mein Vater es so. Er bekommt eine CD mit den Aufnahmen und darf gehen. Am 25. werden die Ergebnisse besprochen.

20. Februar 2015
Als ich mein Mobiltelefon einschalte, erhalte ich die Nachricht, dass man versucht hat mich anzurufen. Ich suche im Internet die Nummer und bekomme einen Schock. Jemand aus der Onkologie, in der mein Vater seine Chemotherapie enthält, hat versucht mich zu erreichen. Da ich mir nicht erklären kann, warum man mich anruft und weil mein Vater am Mittwoch die CT-Untersuchung hatte, werde ich sofort total nervös und der Herzschlag steigt enorm. Wenn man mich anruft, dann kann etwas nicht stimmen. Ich bin somit aufs Schlimmste gefasst, als ich zurückrufe.
Die Frau aus der Onkologie erzählt mir, dass mein Vater am Mittwoch einen Termin hat, aber gerne auch am Montag kommen kann, weil da ein Termin abgesagt wurde. Obwohl das harmlos klingt, frage ich mich, ob es das auch ist. Es gibt sicher unendlich viele Patienten, wieso wird gerade mein Vater zu einem früheren Termin bestellt? Weil ich alles andere als ein Optimist bin, fürchte ich, dass die Untersuchungsergebnisse nicht gut waren und mein Vater deshalb ausgewählt wurde, früher zu kommen. Meine innere Panik ist echt nicht empfehlenswert. Aber wieso ruft man mich, den man nur in Notfällen anrufen sollte, um 08.00 Uhr an, um einen neuen Termin zu vereinbaren? Das ist doch in so einer Situation völlig krank und meiner Meinung nach auch unangemessen.

Später gehe ich zum Hausarzt, um meinem Vater Novalminsulfon von Ratiopharm und Loperamid aufschreiben zu lassen. Loperamid schreibt der Hausarzt nur als Privatrezept auf, was völlig unverständlich ist, da mein Vater es bei der Onkologie als normales Rezept bekommt. Und anstatt von Ratiopharm ist das Novalminsulfon von Liechtenstein. Warum tun Ärzte eigentlich nicht das, was man von ihnen verlangt? Wieso muss alles so kompliziert sein? Gruselig.

Gegen Mittag fahren wir essen. Mein Vater schafft nicht einmal eine halbe Pizza. Ob es an der Pizza liegt, er mag keine Rucolapizza und hat sie aus Versehen bestellt, oder an seinen Magenbeschwerden, ist schwer zu sagen. Möglicherweise auch an der Frikadelle, die er vorher gegessen hat. Außerdem friert es total und will nach dem Essen baden. Während der Rückfahrt krümmt er sich immer wieder vor Schmerzen. Im Moment läuft alles irgendwie beschissen und ich frage mich, ob andere Schmerzmittel, oder gar Schmerzmittelpflaster, nicht einen Versuch wert wären. So jedenfalls kann es nicht weitergehen, zumal die letzte Chemotherapie schon eine Weile zurück liegt.

23. Februar 2015
Besprechung der Ergebnisse und der weiteren Behandlung. Der Tumor, der ungefähr 7cm groß sein soll, ist nicht gewachsen und die Chemotherapie wird morgen fortgesetzt.
Schon länger fehlt ein Mittel bei der Chemotherapie. Das nervenschädigende Mittel wird wohl nicht mehr eingesetzt. Vermutlich ist das der Grund dafür, dass mein Vater wieder kalte Sachen anfassen kann, ohne dabei Schmerzen zu empfinden.

Wegen seiner Übelkeit und vor allem, weil er immer eine kurze Zeit nachdem er etwas gegessen hat, unter Übelkeit und Magenschmerzen leidet, bekommt er Pangrol 25000 aufgeschrieben. Außerdem die üblichen Mittel. Novalminsulfon, Tilidin und Loperamid. Sollte die Chemotherpaie irgendwann nicht mehr wirken, so gibt es, laut Ärztin, noch ein oder zwei andere Möglichkeiten meinen Vater zu behandeln. Das Pangrol soll mein Vater dreimal täglich nehmen. Ich sage ihm, dass das Pangrol ähnlich wie das Pankreazym ist, welches er ja nur gelegentlich nahm, weil es ja von keinem Arzt verschrieben wurde. Nun will er zu drei Mahlzeiten am Tag das Pangrol nehmen und falls er weitere Mahlzeiten zu sich nimmt, dann dazu das Pankreazym nehmen. Wenn Ärzte was verordnen, hat es einen höheren Stellenwert als wenn es vom Heilpraktiker kommt. Mal sehen, wie es sich nun entwickelt und ob er irgendwann wieder zunimmt, denn er sieht schon arg abgemagert aus. Vor allem im Gesicht.

Später am Tag fragt mich Agnes, ob ich viel aus der Kindheit und Jugend meines Vaters weiß. Ich weiß fast nichts. Sie sagt, dass ich ihn fragen soll, weil wir ja nicht wissen, wie viel Zeit wir noch haben und ich es später bereuen könnte. Das macht mich nachdenklich. Auch am Abend denke ich noch viel darüber nach. Ich überlege, ob ich es bereue, dass ich über das Leben meiner Mutter und auch meines Onkels nicht viel mehr weiß als das, was während meines Daseins passiert ist oder ich mitbekommen habe. Vielleicht bin ich kalt oder belüge mich selbst, aber ich habe auch jetzt kein Interesse an dem, was vorher war. Das Bedürfnis etwas mehr zu wissen, habe ich nicht. Wir redeten nie über Träume, die Zukunft oder was alles anders hätte laufen sollen. Ob es an mir liegt oder ob es einfach so war, weil wir alle so sind oder waren, weiß ich nicht. Es ist aber so als würde mich das nicht interessieren, mich gar nicht betreffen. Vielleicht habe ich zu dicke Mauern um mich gezogen, um mich abzuschirmen und nicht beschäftigen zu müssen. Vielleicht stimmt etwas nicht mit mir. Vielleicht bin ich in gewisser Weise ein emotionaler Krüppel.

24. Februar 2015
Die Chemotherapie geht in die nächste Runde. Sechs Termine bis zur nächsten Untersuchung.
Am Nachmittag besuche ich meinen Vater. Er hat sich hingelegt, aber es geht ihm etwas besser als erwartet. Das Pangrol, so sagt er, wirkt super. Weniger Durchfall und weniger Übelkeit. Damit der Stuhl nicht zu fest wird, will mein Vater die Dosis herabsetzen. Ich weiß nicht, wie er immer auf solche Ideen kommt. Und das schon nach einem Tag. Zweimal am Tag Pangrol sollte reichen. Zunächst versuche ich ihm zu erklären, dass er nicht ständig alles nach Lust und Laune dosieren kann, erkenne aber, dass es wenig Sinn macht und gebe auf. Hauptsache es geht ihm besser und das Mittel wirkt.

26. Februar 2015
Seit Tagen ist meinem Vater übel, er muss sich regelmäßig übergeben, kann nicht wirklich etwas essen und verbringt die meiste Zeit des Tages im Bett. Er war gestern sogar zu schlapp, um sich vor den Fernseher zu setzen.

27. Februar 2015
Am Nachmittag gehen wir einkaufen. Während des Einkaufs hat mein Vater starke Schmerzen, weshalb wir anschließend sofort zu ihm fahren, damit er zwei Tilidin nehmen kann. Die Treppen rauf zur dritten Etage schafft er nur unter großer Anstrengung. Ihm fehlt jede Kraft, was nach den letzten Tagen mit der Übelkeit und dem Erbrechen und ohne großartige Nahrungsaufnahme sicher nicht überraschend ist. Als er es geschafft hat, muss er sich eine Weile setzen und ich sage ihm, dass wir nach einer Wohnung in der ersten Etage Ausschau halten müssen. Er lehnt nicht ab, aber wir vertiefen das Gespräch auch nicht.

Weil heute Freitag ist, müssen wir aber nochmal los zum Friedhof. Vorher kauft mein Vater zwei Rosen, die wir später zusammen mit einem Teelicht aufs Grab meiner Mutter stellen. Dies lässt sich mein Vater nicht nehmen, wenn er irgendwie in der Lage ist, es zu schaffen.

28. Februar 2015
Mein Vater wiegt nur noch 77 kg. Wo seine Arme früher Muskeln hatten, hängt die Haut schlaff herunter. Sein Gesicht und besonders sein Hals wirken faltiger. Er sieht irgendwie geschrumpft aus. Altern im Zeitraffer. Er hat für uns gekocht. Schaschlik und Kartoffeln. Dafür ist er heute Morgen extra früh los gewesen. Erst zum Friedhof, dann zum Metzger. Meine Vorschläge, für ihn zu kochen, lehnt er weiter ab.
Er schafft ein Schaschlik und etwas von den Kartoffeln. Er sieht nicht nur erschöpft aus, er ist es auch. Dazu kommt die Übelkeit. Er leidet. Ich biete ihm an, dass ich spüle, was er natürlich nicht will. Ich überlege kurz, seinen Wunsch zu ignorieren, entscheide dann aber anders. So lange er kann und will, soll er tun was er kann und will. Er ist erschöpft und legt sich hin. Ich gehe.

Etwa dreieinhalb Stunden später besuche ich ihn erneut. Er liegt im Bett und wirkt nicht erholt. Er steht auf, ich mache uns Tee und darf nun sogar spülen. Während ich spüle, putzt er das Bad. Dabei singt er. Fast wie früher. Als wäre alles normal. Nachdem das Bad geputzt ist, sitzen wir in der Küche. Ich putze die Spüle, frage, wie er sie gewöhnlich reinigt, schon steht er auf und wirbelt rum. Ich darf echt nix fragen.
Kam haben wir anschließend unseren Tee getrunken, will er unbedingt die Küche wischen. Ich mahne zum Entspannen, er legt los. Noch bevor die Küche fertig ist, bleibt ihm fast die Luft weg und er muss sich hinlegen. Aber nicht, ohne noch den Rest der Küche schnell zu wischen. Meine Hilfe lehnt er selbstverständlich ab. Dann legt er sich hin, weil er völlig erschöpft ist. Weil ich keine weiteren Ideen habe, schlage ich erneut vor, dass er über die Misteltherapie nachdenkt, weil er dann vielleicht nicht mehr so stark weiter abnimmt und die Übelkeit nachlässt. Zu meiner Überraschung lehnt er nicht ab. Er sagt zwar auch nicht, dass er es macht, aber ich denke, dass er es nicht mehr komplett ablehnt. Ich würde mich freuen, wenn er es versuchen würde.

01. März 2015
Um Viertel nach zehn ruft mich mein Vater an. Er hatte ein für die Umstände gutes Frühstück. Zwei gekochte Eier, zwei Knäckebrot mit Marmelade und Kaffee. Das klingt gut. Es geht ihm etwas besser als gestern, was hoffen lässt. Wir überlegen, ob wir am Nachmittag einen Spaziergang machen.

Gegen viertel nach zwei breche ich auf, um eine kleine Runde zu drehen. Ich überlege, ob ich auch bei meinem Vater vorbei gehe, als mein Telefon klingelt. Mein Vater teilt mir mit, dass er heute nicht mehr raus geht. Ich frage ihm, ob ihm übel ist. Er sagt übel nicht, sondern dass es einfach Scheiße ist. Als ich konkreter Frage, wird er genervt, weshalb ich still bin. Er will am Abend nochmal bei mir anrufen und ich beschließe, dass ich ihn bis dahin in Ruhe lasse. Ich bin mir nicht sicher, glaube aber, dass mein Vater bisher noch nie so resigniert, lustlos, ratlos und hoffnungslos klang. Natürlich stellt sich mir dann sofort die Frage, ob ich nicht doch zu ihm sollte. Aber dann denke ich, dass er vielleicht Ruhe braucht und ich ihm eh nicht helfen kann. Wie auch? Durch meine blöde Anwesenheit? Wenn der Tumor wirklich nicht gewachsen ist, dann können die Beschwerden eigentlich nur von der Chemotherapie kommen. So stellt sich abermals die Frage, ob das alles Sinn macht.

Ich gehe zum Friedhof, stehe kurz am Grab meiner Mutter, putze den Grabstein und gehe wieder. Ich kann mit all dem nicht umgehen.

03. März 2015
Als ich gegen 11.20 Uhr zu meinem Vater gehe, um mir seinen Autoschlüssel zu leihen, liegt er im Bett und fragt, wann ich zurück bin, weil er später zum Arzt muss. Ich frage ihn, wieso er zum Arzt will. Erst druckst er rum, dann sagt er, dass er Blut im Stuhl hat. Gestern schon. Ich finde, dass wir sofort zum Krankenhaus müssen, aber mein Vater will erst baden. Da ich meine Kollegin aus Lünen mit zur Teamsitzung nach Kamen mitnehmen wollte, und es nun zu spät ist, abzusagen, bringe ich sie weg, während mein Vater badet. Ich finde das zwar nicht gut, aber mein Vater will es so.

Als ich nach einer Stunde zurück bin, sitzt mein Vater in der Küche und trinkt Tee. Er trägt ein Unterhemd und seine Arme sind furchtbar dünn. Letztes Jahr strotzte er noch vor Kraft, jetzt sitzt er hier mit dünnen Armen und schmalen Schultern. Unfassbar.
Im Krankenhaus soll ich im Flur im Warteberich warten, während er zur Anmeldung geht. Nach einer Weile kommt er heraus und sagt, dass die nicht besorgt sind und es vermutlich harmlos ist. Ein Arzt wird informiert und er soll noch etwas warten. Nach einer Weile kommt eine der Angestellten, fragt etwas zum Stuhl und ist mit der Antwort zufrieden. Blut auf und nicht im Stuhl ist eine häufige, meist harmlose Sache. Wir warten weiter. Dann endlich wird er aufgerufen und ist schon nach wenigen Minuten zurück. Er soll es beobachten und wenn es in zwei Tagen nicht besser ist, soll er zum Hausarzt. Vermutet werden blutende Schleimhäute. Klingt nicht dramatisch, aber irgendwie kommt mir das alles komisch vor. So verlassen wir das Gebäude und fahren zurück. Mein Vater ist etwas enttäuscht, weil er wegen des Vorfalls die Wohnung nicht weiter hat putzen können. Ich sage ihm, dass das nicht schlimm ist, er aber findet es nicht gut, weil er es ja geplant hatte. Wir reden kurz über Geldreserven und er sagt, dass er für den Fall, dass etwas passiert, immer drei Monatsmieten auf dem Konto hat, damit ich keine Schwierigkeiten bekomme. Und eine Waschmaschine soll ich mir erst mal auch nicht kaufen, weil ich ja später seine haben kann. Bis dahin kann ich meine Wäsche weiter bei ihm waschen. Auch wenn er Recht hat, klingt das alles irgendwie gruselig und ich hoffe, dass all diese Maßnahmen in nächster Zeit noch keinen Sinn machen und nicht benötigt werden.

04. März 2015
Der Geburtstag meiner Mutter. Heute wäre sie 73 Jahre geworden. Irgendwie klingt 73 nicht alt. Früher dachte ich immer, dass 73 sehr alt ist, jetzt stehe ich am Grab meiner Mutter und denke, dass sie sehr jung gestorben ist. Sie wirkte nicht so alt, dass sie hätte sterben müssen. Irgendwie passt gerade wieder nichts zusammen. Neben mir steht mein Vater. Er ist 73. Und bis zur Chemotherapie sah er noch viel jünger aus und wirkte auch nicht alt. Ich habe Angst, dass er auch bald hier bei meiner Mutter liegen wird. Wie immer, verdränge ich diese Gedanken rasch, weil sie mich nur deprimieren und ich doch eh nichts ändern kann. In einem etwas merkwürdigen Zustand verlassen wir den Friedhof bald.

Meinem Vater geht es etwas besser als gestern. Zumindest sagt er das und wirkt auch so. Das Blut im Stuhl ist weniger geworden. Hoffentlich sagt er das nicht nur, um mich zu beruhigen.

05. März 2015
Die Anfangseuphorie wegen des Pangrol ist lässt verflogen. Der Durchfall ist nie wirklich weg gewesen und mein Vater traut sich nie zu weit von der Wohnung weg, weil er immer wieder dringend zur Toilette muss. Rephaderm nimmt er nicht mehr. Nur noch Pangrol und Milgamma. Alles andere, so sagt er, will er nicht mehr. Ich sage nicht viel, weil es eh nichts bringen würde. Mein Vater glaubt nicht, dass irgendwas hilft. Das Pangrol nimmt er, weil es vom Arzt kommt, dass Milgamma, weil er ständig Taubheitsgefühle in den Fingern hat. Außerdem soll es gut fürs Gedächtnis sein. Er hat in einer Apothekenzeitung über Milgamma gelesen, deshalb traut er dem Zeug. Mein Vater muss immer irgendwas lesen, dann kann es sein, dass er etwas nimmt. Wenn es vom Arzt aufgeschrieben ist, dann nimmt er alles. Aber auch das ist nichts Neues für mich.
Insgesamt wirkt er heute frischer und hat auch bessere Laune. Er konnte gut essen, muss sich morgens nicht mehr übergeben und wiegt 79,5kg, was ihn sehr erfreut. Endlich wirkt er mal wieder positiv und zuversichtlich. Ich hatte schon befürchtet, dass er diesen Zustand gar nicht mehr erreicht.

10. März 2015
Chemotherapie Nummer 14 steht an. Doch pünktlich dazu leidet mein Vater seit gestern Abend und Übelkeit und muss sich nun auch noch übergeben. Er erscheint trotzdem zu dem Termin und statt der Chemotherapie kommt er an einen Tropf gegen Übelkeit. Da es ihm in den letzten Tagen besser ging und er auch recht gut essen konnte, vermute ich eine psychische Reaktion als Verursacher der Übelkeit. Ich glaube, mein Vater und sein Körper haben einfach die Schnauze voll von der Chemotherapie.

Er bekommt 50 Novalminsulfon aufgeschrieben. Dazu Pangrol, Loperamid und Ondansetron.

14. März 2015
Nach dem Mittagessen nimmt mein Vater eine Tilidin und ein Novalminsulfon. Er sagt, dass er das viermal am Tag machen soll, er es aber fünfmal macht, weil viermal nicht reicht.

15 März 2015
Den ganzen Tag bleibt mein Vater zu Hause. Zum einen, weil es kalt ist und zum anderen, weil er ständig Durchfall hat. Sobald er etwas isst, dauert es nicht lange und er muss zur Toilette. Er liest die Beipackzettel seiner Tabletten. Die Nebenwirkungen von Tilidin sind Magenbeschwerden und Durchfall. Sofort setzt er Tilidin ab und will am Dienstag fragen, ob er deshalb ständig Durchfall hat und er stattdessen ein anderes Mittel bekommen kann. Mal sehen, was ihm dazu gesagt wird.

16. März 2015
Die Schmerzen ohne Tilidin zu bekämpfen, gelingt leider nicht. Das Novalmiunsulfon scheint nicht, oder nicht mehr, zu wirken, weshalb mein Vater notgedrungen auf Tilidin zurückgreift.
Als wir am Nachmittag einkaufen, müssen wir, nachdem wir in einem Geschäft waren, zunächst zurück, weil mein Vater dringend zur Toilette muss. Es ist nicht mehr gut möglich, außerhalb des Wohnortes einzukaufen, weil mein Vater zu oft zur Toilette muss. Oft sind es nur Blähungen, doch ab und zu auch Durchfall, weshalb wir die Einkäufe zur Sicherheit unterbrechen. Schön ist das sicher nicht für ihn.

17. März 2015
Mit einem Gewicht von 78kg startet er in die nächste Chemotherapie. Seine Frage, ob das Tilidin für die Durchfälle und Magenbeschwerden verantwortlich ist, wird verneint. Seine Bauchspeicheldrüse ist verantwortlich. Er bekommt statt Pangrol 25000 nun Pangrol 40000 aufgeschrieben. Dreimal täglich soll er zwei davon nehmen.

20. März 2015
Die letzten beiden Tage hat mein Vater fast nur im Bett verbracht. Selbst die Kraft, um sich vor den Fernseher zu setzen, war nicht da. Heute wollen wir dennoch zum Friedhof und anschließend etwas einkaufen. Es ist ziemlich kalt und mein Vater ist schon durchgefroren nachdem er Blumen gekauft hat. Wir bringen die Blumen zum Friedhof, beeilen uns aber schnell wieder zum Auto zu kommen. Anschließend kaufen wir noch etwas ein, dann kann mein Vater sich wieder hinlegen. Den Rest des Tages verbringt er überwiegend im Bett.

21. März 2015
Morgens geht es meinem Vater erstaunlich gut. Er frühstückt, nimmt seine Tabletten und dann geht es ihm auch schon nicht mehr gut. Der Durchfall, der seit gestern Nachmittag weniger war, ist zurück. Weil er gestern Nachmittag und am Abend kein Pangrol genommen hat, denkt er, dass es damit zu tun haben kann, dass es zeitweise besser war. Eine Antwort, ob es tatsächlich so ist, bekommen wir vermutlich nie.
Dennoch kocht er Mittagessen für uns. Nach dem Mittagessen muss er sich unverzüglich hinlegen und schläft auch direkt ein.

26. März 2015
Insgesamt geht es meinem Vater etwas besser. Extreme Übelkeit und Erbrechen sind keine akuten Themen. Aber er ist unglaublich schlapp, muss ständig ausruhen und sich nach dem Essen immer hinlegen. Mehr als eine halbe Stunde spazieren gehen ist nicht möglich. Er ist völlig kraftlos. Er nimmt regelmäßig, aber ohne zeitlichen Plan, Novalminsulfon, Tlilidin und Loperamd. Das Pangrol hat er inzwischen ganz abgesetzt. Ebenso alle anderen Mittel. Selen, Magnesium, Calcium, Milgamma, L-Carmitin, Vitamin D. Nichts davon nimmt er mehr. Auch wenn ich mich irre, so denke ich, dass er vielleicht auch deshalb so extrem schlapp ist, weil er seinem Körper weder Vitamine noch Mineralstoffe zuführt. Resigniert und in gewisser Weise wütend, nehme ich seine Informationen diesbezüglich auf. Ich weiß natürlich nicht, wie weit diese Mittel ihm helfen, bin aber sicher, dass es ihm ohne schlechter geht.

Weil ich mich immer noch ein wenig einmische, habe ich meinem Vater Vitalkomplex von Dr. Wolz bestellt. Davon muss er nur einmal täglich 20ml nehmen. Ich hoffe, dass er es wenigstens versucht. Noch weiß er nichts von seinem Glück. Ich werde es ihm auch erst mitteilen, wenn ich ihm den Vitalkomplex auf den Tisch stelle.

28. März 2015
Ich übergebe meinem Vater den Vitalkomplex und sage ihm, dass er den von nun an nehmen soll. Er will nicht. Ich sage, dass er davon nur einmal täglich zwanzig Milliliter nehmen muss und er das braucht, weil er ja alles andere abgesetzt hat. Er fragt nach dem Preis, gibt mir das Geld, welches ich gar nicht will und probiert. Und kaum hat er es genommen, sagt er, dass ich beim nächsten Mal sofort zwei Flaschen bestellen soll. Anfangs ist er immer so. Später ändert sich das leider meist.

31. März 2015
Bevor die Chemotherapie losgeht, teilt mein Vater einem Mitarbeiter mit, dass er vom Pangrol nur noch morgens eine Tablette nimmt, weil er davon Durchfall bekommt. Ihm wird erklärt, dass der Durchfall von der Chemotherapie kommt und er das Pangrol unbedingt nehmen muss, weil seine Bauchspeicheldrüse nicht richtig funktioniert. Zum Pangrol gibt es keine Alternativen. Er soll zunächst dreimal täglich eine nehmen und dann wieder, wie vorgesehen, dreimal täglich zwei. Als ich ihm sagte, dass das Pangrol wichtig ist und er es weiter nehmen soll, war er nicht überzeugt. Nun ist er es. Zumindest fürs Erste. Er bekommt Novalminsulfon und Loperamid aufgeschrieben, dann beginnt die nächste Chemotherapie.

Später versuche ich ihm zu erklären, dass es sinnvoll wäre, wenn er wenigstens wieder das Selen nehmen würde. Ich glaube, dass meine Worte ungehört verhallen.

04. April 2015
Auch wenn es mir so vorkommt, dass es meinem Vater schon schlimmer nach der Chemotherapie ging, ist sein Zustand als schlecht zu bezeichnen. Er ist kraftlos, appetitlos, versucht aber immer zu essen, und friert ständig. Die letzten Tage hat er größtenteils im Bett verbracht. Donnerstag waren wir kurz raus, aber das hat ihn sehr angestrengt, weshalb er anschließend fast nur noch im Bett war.

Heute fahren wir wieder einkaufen als er mir sagt, dass er nicht mehr auf die Waage gehen mag. Ich frage ihn, wieviel er wiegt. 75kg. Er sagt, dass er die Therapie nicht mehr will, weil es ihm gar nicht mehr gut geht und es ihm auch nicht gelingt in der Woche ohne Chemotherapie zuzunehmen. Ich kann es sehr gut verstehen, bin aber von seiner Aussage so geschockt, dass ich gar nichts mehr sage. Erst will ich ihm gut zureden, aber das halte ich für falsch. Es ist sein Leben und wenn es ihm so schlecht geht, dann ist sein Vorhaben absolut nachvollziehbar. Ich war nie ein Freund der Chemotherapie. Weil mein Vater mein Schweigen bemerkt, wechselt er das Thema und versucht mich so wieder aus meiner Starre zu holen. Nach einer Weile gelingt es ihm und ich verdränge, was er zur Therapie gesagt hat.

Nach dem Einkaufen kommt das Thema aber zu uns zurück. Mein Vater sagt, dass er sich einfach nur schlecht fühle, sein Magen total schmerzt und er beim nächsten Termin sagen wird, dass er ein paar Wochen Chemopause braucht. Ich verstehe ihn. Leider will er aber auch keine anderen Mittel mehr einnehmen. Ob er den Vitalkomplex noch nimmt, frage ich ihn morgen. Heute ist das unwichtig.

05. April 2015
Wie ich es erwartet habe, hat mein Vater die Einnahme des Vitalkomplexes schon wieder eingestellt, weil er ihm nicht schmeckt. Ich verstehe ihn einfach nicht, kann ihn aber auch nicht zwingen. Obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist, frage ich erneut nach, ob er nicht doch die Misteltherapie machen will, weil er ja sonst nichts mehr einnimmt und er es auf einen Versuch ankommen lassen kann, weil möglicherweise seine Müdigkeit und seine Übelkeit etwas gemindert werden. Er sagt, dass das sowieso nichts bringt. Ich erwidere, dass es auf einen Versuch ankommt und dass er gestern die Chemotherapie abbrechen wollte, weil es ihm so schlecht ging. Heute, so sagt er, geht es ihm ja schon besser, weshalb alles so bleibt wie es ist. Vom Pangrol nimmt er täglich vier statt sechs Tabletten, weil er spürt, dass es ihm mit der Dosierung am besten geht. Da ich das nicht beurteilen kann, sage ich nichts dazu. Er wirkt zwar resigniert, aber eine weitere Diskussion führt zu nichts, weshalb ich das Thema beende.

Zu Ostern schenkt er mir 50 Euro, einen Lottoschein für fünf Wochen und ein Los der Glücksspirale für ebenfalls fünf Wochen. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Das ist viel zu viel und ich habe nichts für ihn. Das finde ich irgendwie peinlich.

10. April 2015
Mein Vater hat seit der letzten Nacht starken Magendruck, der nicht weichen will. Er sagt, er ist voller Luft. Weil scheinbar nichts hilft, sage ich ihm, dass es nicht schaden könnte, wenn er auf kohlensäurehaltiges Mineralwasser verzichtet. Doch davon will er nichts hören. Ebenso wenig will er seinen Vitalkomplex trinken oder irgendwelche Mittel nehmen. Er beschränkt sich weiter konsequent auf Schmerztabletten und seine Lachsöl-Kapseln. Ich weiß nicht, woher er diese tiefe Abneigung gegen andere Mittel hat, aber es sieht nicht so aus als würde er sie je ablegen.

Wir gehen zusammen einkaufen und Pizza essen. Später gehen wir noch zum Friedhof und fahren Wasser kaufen. Ich trage einen kleinen Kasten Bier, will den Wasserkasten gerade nehmen, als er ihn lässig mit links schnappt, dann irgendwie zusammenknickt und vor Schmerzen innehält. Er sagt, dass er sich verhoben hat. Das kommt davon, dass er nicht hört und den Kasten mit einer Hand nehmen wollte. Das geht einfach nicht mehr. Zum Geburtstag bekommt er einen Sodastream von mir. Will er zwar nicht, aber vielleicht probiert er es ja aus, denn dieses Wasserkästenschleppen ist einfach zu schwer. Und selbst Wasser aus dem Keller holen wird manchmal zur echten Qual für ihn. Je nach Tagesform. Und ich bin nicht immer da und er will ja auch möglichst viel selber machen.
Wir fahren zu ihm. Er muss dringend auf die Toilette, so dass ich die Kästen in aller Ruhe in den Keller bringen kann und anschließend Flaschen mit zu ihm rauf nehmen kann. Später machen wir einen Spaziergang, den wir aber nach wenigen Metern abbrechen müssen, weil mein Vater starke Schmerzen hat und sich kaum bewegen kann. Verdammter Wasserkasten.

Oft frage ich mich, wie meine Mutter mit all dem umgehen würde, wenn sie noch lebte. Würde sie ihn unterstützen oder ihn eher dazu anhalten, sich nicht so anzustellen. Letzteres klingt zwar hart, aber es ist nicht auszuschließen, weil meine Mutter manchmal sehr hart war im Umgang mit ihm. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass sie gut damit umgehen könnte. Irgendwie waren die Rollen nie so, dass er krank war und sie sich kümmern musste. Sicher, dass gab es auch, aber meist kümmerte sich mein Vater um meine Mutter. Ich weiß nicht, warum mir das durch den Kopf geht. Vielleicht, weil ich manchmal auf irgendeine Weise überfordert, oder wenigstens ratlos bin, mir alleine vorkomme und es irgendwann ja auch sein werde. Fragen, meine Mutter betreffend bleiben für immer unbeantwortet, was mir manches Mal zu surreal vorkommt, um wahr zu sein.

14. April 2015
Die nächste Chemotherapie. Vorher die übliche Blutabnahme und die Frage, ob mein Vater schon einmal Blutkonserven erhalten hat. Er verneint und ihm wird mehr Blut abgenommen, um seine Blutgruppe zu bestimmen. Weitere Erklärungen bleiben aus.
Später fragt mein Vater, was er tun kann, um endlich wieder etwas zuzunehmen. Die Antwort ist phänomenal. Er soll Kalorienbomben essen und ganz viel Cola trinken. Und wieder frage ich mich, ob in Deutschland alle bekloppt geworden sind. Gestern riet mein Arzt mir, dass ich Naturjoghurt esse, weil ich damit meine Darmflora wieder in Ordnung bringe. Das fand ich zwar einerseits etwas erbärmlich, aber es hatte auch irgendwas bemitleidenswert Unterhaltsames. Doch die Empfehlung, dass mein Vater Kalorienbomben essen und viel Cola trinken soll erscheint mir schon irgendwie fahrlässig. Ich dachte so Vorschläge machen nur dumme Leute. Anderseits, wer sagt denn, dass dumme Leute nicht beim Onkologen arbeiten?

Als ich meinen Vater später besuche, sagt er, dass er auf keinen Fall Blutkonserven akzeptieren wird. Wenn sein Blut nicht okay ist, soll man ihm Tabletten geben. Fremdes Blut nimmt er auf keinen Fall. Und da soll noch mal jemand sagen, dass ich stur bin. Zumindest ist der Ursprung meiner Sturheit klar.
Weil meinem Vater kalt ist, liegt er im Bett und ruht sich aus. Meinen Impuls, ihm erneut zur Misteltherapie zu raten, verkneife ich. Stattdessen drehe ich die Heizung an, bevor ich mich für heute verabschiede.

17. April 2015
Mein Vater wiegt mittlerweile unter 74kg. Die letzten Tage waren sehr schlecht. Er ist völlig kraftlos, kann kaum essen und ist ziemlich fertig. Er sieht sehr abgemagert aus, was bei dem Gewichtsverlust kaum verwunderlich ist. Dennoch will er unbedingt zum Friedhof mit mir. Vorher Rosen kaufen. Er hat kaum die Kraft zu gehen, seine Lederjacke rutscht immer wieder über seine Schultern. Seine Sachen sind mittlerweile alle zu groß. Mit größter Mühe schleppt er sich zum Friedhof. Anschließend will er noch einkaufen. Ich sage mehrfach, dass ich das alles für ihn erledigen will, doch das möchte er nicht. Weil er zu schlapp ist, kann er nicht mehr selber fahren. Also fahre ich weiter.

Im Geschäft muss er mehrfach Pause machen. Ihm fehlt die Kraft und ihm ist völlig übel. Nach dem einkaufen trage ich, gegen seinen Willen, die Taschen nach oben. Die Treppen zur letzten Etage schafft er kaum und muss mehrfach kurz pausieren. Dann muss er sich hinlegen. Verdammter Krebs, beschissene Chemotherapie.

25. April 2015
Mittlerweile hat mein Vater sich wieder etwas erholt. Er kann essen, ihm ist nicht mehr so übel. Leider kann er aber wohl nicht zunehmen, denn sobald er etwas gegessen hat, dauert es nicht lange und er muss zur Toilette. Das ist mehr als schlecht. Dennoch fühlt er sich heute so gut, dass er zu Helmut in den Garten geht, um Karten zu spielen. Zu meiner Überraschung bleibt er gute fünf Stunden dort. Das hätte ich nicht für möglich gehalten nach den letzten Wochen. Ich freue mich für ihn, dass er endlich mal wieder etwas unternehmen konnte und hoffe, dass es noch öfter möglich sein wird.

27. April 2015
Die morgige Chemotherapie will mein Vater absagen. Ich frage beim Heilpraktiker, was mein Vater tun kann, um wieder zuzunehmen. Dieser empfiehlt Fresubin und Colibiogen. Als ich meinem Vater erzähle, dass das Fresubin normalerweise vom Arzt aufgeschrieben wird, scheint das Thema erledigt. Ich sage ihm, dass er wenigstens das Colibiogen, welches gut für seinen Darm ist und bei regelmäßiger Einnahme vielleicht seinen Durchfall, der nach jeder Mahlzeit auftritt, verhindern kann, nehmen soll. Zunächst soll ich es bestellen, dann ist es zu teuer. Später soll ich es doch bestellen und er will es zehn Tage testen. Wenn es dann nicht wirkt, dann taugt es nichts. So wie alle anderen Mittel, die er eingenommen hat, nichts taugen. Ich verstehe seine Theorien zwar nicht, äußere mich auch nicht weiter dazu. Es würde mich nur wütend machen. Dann testet er halt zehn Tage Colibiogen und nimmt es dann nicht mehr. Schaden kann es ihm sicher nicht und länger wird er es sicher nicht nehmen, weil ich ihn kenne. Vermutlich wird er es sogar noch kürzer nehmen, weil es ihm nicht schmecken wird. Da ich es nicht ändern kann, bestelle ich Colibiogen und warte einfach ab, wie lange er es tatsächlich nehmen wird.

28. April 2015
Wie angekündigt ruft mein Vater in der Onkologie an, um die Chemotherapie abzusagen. Er gibt vor starken Durchfall zu haben, deshalb soll er vorbeikommen, weil man sein Blut untersuchen will. Er sagt, dass ihm das nicht möglich ist. Dann soll er auf jeden Fall morgen anrufen, um mitzuteilen, wie es ihm geht und nächste Woche Dienstag vorbeikommen, um sich Blut abnehmen zu lassen.

Später erzählt er mir, dass er morgen nicht anrufen wird, sondern erst am Donnerstag. Außerdem hat er, das erste Mal seit Wochen, gute Laune und wirkt vergnügt. Als wäre es der Mann, der er vor der Chemotherapie mal war. Ich finde das sehr gut.

04. Mai 2015
Nach dem Mittagessen fahren wir spontan los, um nach einem anderen Auto für meinen Vater zu sehen. Ein Hyndai Matrix ist im Angebot. Ein Benziner, so dass ich im Winter, wenn mein Benz abgemeldet ist, bei Bedarf nach Dortmund kann. Der Matrix meines Vaters hat nämlich nur eine gelbe Plakette und ist somit nicht geeignet für alle Städte.
Leider kommen wir etwas zu spät nach Hamm und das Fahrzeug ist bereits verkauft. Wir schauen uns daher noch bei anderen Händlern um, finden aber nichts Passendes. Der Nachmittag ist recht entspannt und erst auf der Rückfahrt wird deutlich, dass es meinem Vater nicht gut geht. Er hat wieder Schmerzen im ganzen Bauchbereich und vor allem an der Seite. Er bringt mich nach Hause und fährt zurück, um ein Bad zu nehmen. Weil das nicht wirklich hilft, legt er sich ins Bett. Später ruft er mich an. An seiner Stimme ist deutlich zu erkennen, dass es ihm nicht gut geht. Er klagt über starke Schmerzen, deren Ursache er an den Nieren vermutet. Er sagt, dass er das schon mal so stark hatte und ihm da ein Tee aus der Apotheke geholfen hat. Leider weiß er nicht mehr, wie der Tee heißt. Er erinnert sich nur daran, dass es ein braunes Pulver war. Meinen Vorschlag, ihm diesen sofort in einer Notfallapotheke zu besorgen, lehnt er ab, so dass wir uns darauf einigen, dass ich morgen, bevor ich ins Büro fahre, zur Apotheke gehe, um ihm den Tee zu besorgen. Mein Vater bleibt vorerst im Bett, weil es ihm zu schlecht geht, um aufzustehen. Und so endet ein anfangs guter und völlig angenehmer Tag alles andere als gut.

05. Mai 2015
Am Morgen rufe ich meinen Vater an, um ihm zu sagen, dass die Apotheken erst ab 08.30 Uhr öffnen und ich deshalb bevor ich ins Büro muss, keinen Tee mehr besorgen kann. Seine Stimme klingt im Gegensatz zu gestern viel besser und es geht ihm, so wie er sagt, auch besser. Den Tee kann ich auch am Nachmittag mitbringen. Er muss gleich zum Blutabnehmen und sagt dort hoffentlich auch, dass er seit Tagen vor Schmerzen nachts nicht schlafe kann uns jede Nacht baden muss, was aber nicht wirklich hilft.

Auf der Onkologie werden Blut und Urin untersucht. Es wird nichts entdeckt. In Zwei Wochen folgt die nächste CT-Untersuchung, am 26. Mai die Besprechung. Bis dahin soll er weiter seine Tabletten nehmen. Mehr, so teilt er mir am Telefon mit, wurde ihm nicht gesagt. Entweder sind die alle doof oder mein Vater schildert seine Probleme nicht ausreichend.

10. Mai 2015
Die letzten Tage waren sehr voll. Mein Vater hat sich spontan einen anderen Hyundai Matrix gekauft. Einen Benziner mit grüner Plakette, so dass es keine Beschränkungen mehr gibt, wo wir mit seinem Auto hinfahren können und wohin nicht. Seinen alten Hyundai haben wir verkauft. So waren wir ein paar Tage gut beschäftigt. Auto ansehen, kaufen, verkaufen, abmelden, anmelden. Den Samstag hat er damit verbracht seinen neuen Wagen zu putzen.

Abgesehen von den Pausen, die er zwischendurch brauchte, waren die Tage ziemlich normal. Wir waren beschäftigt, der Krebs war zwar immer dabei, aber doch etwas in den Hintergrund geschoben. Unbeschwert waren die Tage fast. Eine willkommene Ablenkung.
Nachdem der Wagen angemeldet war und wir damit eine Runde gedreht haben, stellte ich mir die Frage, ob meine Mutter, wenn sie nun wiederkommen würde, sofort erkennen würde, dass es ein anderes Fahrzeug ist. Ich frage mich, was sie wohl sagen würde und wie sie all das finden würde. Ich glaube, ich wüsste diese Dinge einfach gerne. Das sind dann Phasen, wo mir stärker bewusst wird, dass meine Mutter nicht mehr da ist und nie mehr da sein wird. Aber weil das ja eigentlich nicht sein kann und keinen Sinn macht, denke ich ab und zu, solche Sachen.

11. Mai 2015
Es ist wirklich erschreckend, wie viele Leute man kennt, die mindestens jemanden kennen, der auch an Krebs erkrankt ist. Blöd ist es, wenn mein Vater auf diese Leute trifft und sich dann anhören muss, wie schlecht es deren Angehörigen geht, wie sehr sie leiden, dass es keine Hoffnung gibt, usw. Es ist wenig überraschend, dass mein Vater nach solchen Gesprächen immer ganz mies drauf ist und irgendwie verloren klingt. Und so verläuft unser abendliches Gespräch. Mein Vater erzählt, dass er vorhin eine Bekannte getroffen hat, deren Schwager seit zwei Jahren Krebs hat und nur noch liegen und nichts mehr unternehmen kann. Wenn ich es richtig deute, liegt er quasi im Sterben. Er ist 76 Jahre und das Gespräch, welches sich scheinbar nur um Krebs und den Tod drehte, hat meinen Vater hörbar mitgenommen. Es ist eines dieser Gespräche bei dem ich nicht weiß, was ich sagen soll. Am liebsten würde ich alles verdrängen, weil ich zwar weiß, was uns, vor allem meinem Vater, noch für üble Zeiten bevorstehen können, es aber, so lange es machbar ist, verdrängen will. Irgendwie finde ich verdrängen besser als solche Gespräche. Aber vermutlich ist verdrängen auch keine Lösung.

14. Mai 2015
Um 10.30 Uhr fahren wir zu Kaufland und anschließend essen wir etwas bei McDonalds. Danach muss mein Vater sich hinlegen.
Später fahren wir noch Wasser holen. Jeder trägt einen Kasten Wasser und als mein Vater ihn ins Auto hebt, kann er sich kaum halten und muss schwer atmen. Dennoch will er nicht, dass ich das alleine mache. Im Auto hält er sich plötzlich an die Brust. Ich frage ihn, ob er sich verhoben hat. Er verneint. Ich erkenne, dass er keine weiteren Fragen hören will und schweige. Nach einer Weile setzt er an, um etwas zu sagen, stoppt aber, bevor auch nur ein Ton aus ihm heraus kommt. Ich frage, was er sagen wollte. Er schweigt.
Als wir die Wasserkästen in den Keller bringen, hat er wieder Probleme mit seinem Kasten. Er muss schwer atmen und sich festhalten. Als ich ihm sage, dass ich das in Zukunft auch alleine machen kann, winkt er genervt ab.

Wir müssen noch kurz zu Aldi. Zwischendurch muss mein Vater arg kämpfen, um weiter zu gehen. An der Kasse steht er ziemlich K.O., atmet schwer und fasst sich irgendwann an den Kopf. Ich frage nicht. Ich weiß nicht, ob es meinem Vater heute schlechter geht als an den anderen Tagen. Vielleicht ist es mir in den letzten Tagen nur nicht so aufgefallen. Oder er konnte es besser verbergen. Jedenfalls ist heute kein guter Tag und es ist erschreckend ihn so zu sehen. Dass alles Scheiße ist, sagt er heute auffallend oft. Es muss ihm sehr schlecht gehen. In der letzten Nacht hat er, wie er sagt, noch weniger geschlafen als in den anderen Nächten. Und es lag nicht nur an den Schmerzen. Wenn ich mich richtig erinnere, dann hat mein Vater, seit meine Mutter vor fast zwei Jahren umgefallen ist, kaum eine Nacht mehr wirklich geschlafen. Da bekommt man immer mehr Angst vor der letzten Phase des Lebens, die ja jedem früher oder später bevorsteht.

16. Mai 2015
Vor ein paar Tagen hat mein Vater eine Bekannte getroffen, die früher im Krankenhaus gearbeitet hat. Diese sagte ihm, dass man früher Patienten, die Probleme hatten zuzunehmen, täglich ein Glas Rotwein mit Ei und Traubenzucker zu trinken gab und manche davon zunahmen. Weil mein Vater auch zunehmen will, probierte er es am nächsten Tag aus. Wie zu erwarten, fand er es widerlich, weshalb er auch diesen Versuch direkt wieder abgebrochen hat. Wenn mein Vater nicht immer alles, was ihm nicht schmeckt, oder nicht sofort hilft, sofort abbrechen würde, dann würde es ihm, davon gehe ich jedenfalls aus, etwas besser gehen. So bleibt es dabei, dass er täglich Novalminsulfon und Loperamid nimmt. Dazu Pangrol und die Lachsölkapseln, die er schon seit Jahren nimmt. Und immerhin sollte ich ihm erneut Colibiogen bestellen. Der Versuch läuft erst mal weiter. Seit gestern nimmt er es, zumindest sagte er es, zweimal täglich. Vermutlich nur so lange bis er es wieder hinwirft, weil es nicht hilft und er genervt ist.

20. Mai 2015
Mein Vater wiegt nur noch 70kg. Um sein Gewicht zu steigern, will er ganz viel Red Bull trinken. Und Säfte. Ich sage ihm, dass ihm das wohl kaum helfen wird und all dieses süße Zeug nur Nahrung für den Tumor ist. Außerdem will er nächste Woche in der Onkologie fragen, was die ihm anbieten. Astronautenkost haben die noch im Angebot, aber da ein Bekannter von ihm, der ebenfalls Bauchspeicheldrüsenkrebs hat und die Nahrung bekommt, sie nicht zu sich nimmt, weil es furchtbar schmeckt, wird mein Vater sie auch nicht nehmen. Meinen Hinweis, dass die Misteltherapie da helfen könnte, lehnt er ab, weil das eh nicht hilft. Hat ja bisher nichts von dem, was ich vorgeschlagen habe, geholfen. Ich sage ihm, dass er, als er noch alles eingenommen hat, noch deutlich mehr gewogen hat. Da hat er kein Argument, also sagt er, dass er keine Lust hat täglich bis zu zehn Präparate zu nehmen. Ich sage ihm, dass er dann auch nicht zunehmen wird. Ich verstehe nicht, wie er sich das vorstellt. Alle Möglichkeiten, die es gibt, lehnt er aus den unterschiedlichsten Gründen ab, aber Red Bull will er trinken. Wobei ich sicher bin, dass er das Zeug, wenn er es probiert hat, nie wieder trinken wird.

22. Mai 2015
Meinem Vater geht es weiterhin nach dem Essen so schlecht, dass er sich hinlegen muss und erneut führen wir eine Diskussion darüber, dass seinem Körper durch den ständigen Durchfall wichtige Nährstoffe fehlen. Ich sage ihm, er soll sofort, und anschließend täglich, Vitamin D, Selen und Magnesium nehmen. Ich gebe ihm die Tabletten und er beschwert sich, dass es so viele sind. Ich sage ihm, dass es völlig egal sein, ob er nun eine oder sechs Tabletten schluckt, es aber für ihn gut ist, wenn er die Sachen nimmt. Es muss ihm wirklich mies gehen, weil er die Tabletten tatsächlich nimmt und auch sagt, dass er sie in Zukunft täglich nehmen wird. Ich habe da zwar meine Zweifel, aber mehr kann ich im Moment eh nicht tun.

23. Mai 2015
Da mein Vater das Colibiogen tatsächlich, wenn auch in niedrigerer Dosis als vorgesehen, genommen hat, ist nun die erste Flasche leer und ich sage ihm, dass er ab sofort Rephalysin stattdessen nehmen soll, weil er davon noch genug Vorrat und es die gleiche Wirkung hat, wie das Colibiogen. Nur halt in Tablettenform. Vor einigen Wochen oder Monaten hat er das ja mal eine kurze Zeit genommen und dann, wie üblich, spontan wieder abgesetzt, weil es nicht sofort und spürbar geholfen hat. Vielleicht hält er es dieses Mal länger aus und nimmt es regelmäßig, zweimal am Tag, ein.

26. Mai 2015
Die Ergebnisse der CT-Untersuchung sind zum ersten Mal alles andere als erbaulich. Der Tumor an der Bauchspeicheldrüse hat sich zwar nicht verändert, dafür wächst aber nun etwas an der Leber. Paps sagt, dass die nicht wissen, was es ist, weil es dafür noch zu klein ist. Aber immerhin wissen sie, dass es wie ein Herz aussieht. Vielleicht wissen sie es wirklich nicht, vielleicht sagt er es nur, um mich zu beruhigen. Seine Chemotherapie findet von nun an wöchentlich statt. Aber es gibt eine andere Chemotherapie als bisher. Wenn ich das richtig verstehe, dann mit viel stärkeren Nebenwirkungen. Ab nächsten Dienstag besteht die Chemotherapie aus Abraxane plus Gemcitabin. Diese Kombination wurde erst 2013 zugelassen und wird an Patienten mit metastasierendem Bauchspeicheldrüsenkrebs angewendet. Somit dürfte die Frage, was da an der Leber wächst, beantwortet sein. Angeblich reduziert diese Kombination das Sterberisiko um 28%. Was auch immer das für meinen Vater bedeuten mag. Pneumonitis, durchaus auch mit tödlichem Ausgang, tritt bei 4% der Patienten auf. Insgesamt ist die Liste der Nebenwirkungen viel länger als die Überlebensrate, wenn ich das richtig interpretiere. So wie es aussieht steigen dadurch die Chancen der Patienten, nicht an Krebs zu sterben tatsächlich, weil sie vorher an den Nebenwirkungen dieses hochwirksamen Gifts sterben. Dummerweise hat mein Vater nicht wirklich eine Wahl. Außer natürlich der Wahl, keine Chemotherapie zu bekommen. Und da weiß man ja auch nicht, ob das gut oder schlecht ist. Denn wer kann schon sagen, ob der Krebs ohne die verfickte Chemotherapie nicht auch sein Wachstum eingestellt hätte? Und vielleicht wäre die Leber auch heute noch ohne dieses wachsende Etwas an ihr. Ich denke, dass ich keine weiteren Dinge zu dem Gift lesen werde, welches meinem Vater ab nächster Woche verabreicht wird. Es ändert ja eh nichts und macht mich nur wütend und lässt mich verzweifeln.

Um die Nebenwirkungen und/oder die Schmerzen besser zu ertragen bekommt mein Vater zum Novalminsulfon nun auch noch Tramal und Dexamethason. Sollte das nicht ausreichen, bekommt er als nächstes Morphium. Auch das klingt alles andere als gut. Ich weiß echt nicht, wie ein einziger Mensch das nur ertragen soll.

01. Juni 2015
Einen Tag vor Beginn der neuen Chemotherapie erfährt mein Vater, dass ein Bekannter von ihm an Krebs gestorben ist und am 03. Juni beerdigt wird. Der Bekannte hat zwei oder drei Jahre gegen den Krebs gekämpft und am Ende wohl sehr gelitten. Diese Informationen hinterlassen natürlich ihre Spuren und mein Vater klingt noch ein wenig besorgter und auch resignierter als er es eh schon war. Obendrein macht er sich Sorgen, weil sein schwarzer Anzug ja längst viel zu groß ist, er also nicht wirklich ordentlich aussehen würde bei der Beerdigung. Er sagt, er will ja nicht rumlaufen wie ein „Lüffländer“. Ich weiß zwar nicht wirklich, was ein Lüffländer ist, verstehe aber, was mein Vater meint. Wobei ich denke, dass niemand wirklich etwas dazu sagen würde, weil jeder vom Gesundheitszustand meines Vaters weiß. Allerdings fürchte ich, dass diese Beerdigung nicht förderlich sein wird, weil er dort sicher auch sehr viel vom Leidensweg des Bekannten zu hören bekommt.

03. Juni 2015
Ich bin mehr als überrascht, dass ich heute zusammen mit meinem Vater einkaufen gehen kann. Einen Tag nach einer Chemotherapie war das bisher nicht möglich. Mein Vater scheint sich okay zu fühlen. Gestern war ihm zwar den ganzen Tag kalt und er musste viel Zeit im Bett verbringen, aber von der gewohnten Übelkeit nach der Chemotherapie hat er nichts gesagt. Ist das neue Gift, weniger giftig als das alte, oder braucht das Gift nur noch ein paar Chemotherapien, um die Nebenwirkungen voll zu entfalten?
Als wir am späten Nachmittag noch einen Spaziergang machen, sieht mein Vater irgendwie frischer aus als in den letzten Tagen. Das ist so unglaublich, dass ich geneigt bin zu hoffen, dass es von nun an besser wird und mit der neuen Chemotherapie noch gute Zeiten kommen können. Meine Naivität ist mitunter wirklich erschreckend. Aber nur so lässt es sich vermutlich damit leben. Was anderes hat man ja auch nicht.

05. Juni 2015
Nachdem am Mittwoch mein Vater frisch wirkte und er auch insgesamt ganz gut drauf war, kippt es nun wieder. Er hat starken Durchfall, muss ständig zur Toilette und sein Appetit hat wieder nachgelassen. Es ist der bisher wärmste Tag des Jahres, was sicher auch dazu beiträgt, dass mein Vater sehr schlapp ist. Dennoch gehen wir am Nachmittag in Waltrop ein Eis essen. Doch kaum ist das Eis verspeist, müssen wir uns beeilen, um schnell zurück zu kommen. Während der Rückfahrt hält mein Vater es kaum aus, so dringend muss er. Es wird nicht der Krebs sein, der ihn umbringt. Dafür sorgt ganz alleine die Chemotherapie. Und es gibt niemanden, der mir je das Gegenteil beweisen kann. Niemanden. Weltweit.

16. Juni 2015
Die dritte Chemotherapie der neuen Staffel fällt aus. Die Blutwerte sind zu schlecht. Welche Blutwerte, fragt mein Vater nicht. Oder er will es nicht sagen. Nächste Woche erneuter Test der Blutwerte. Nächste Chemotherapie in zwei Wochen. Mein Vater sagt, dass er die Zeit nutzen will, um zuzunehmen. Ich denke, er ist zufrieden damit, dass er mal zwei Wochen Ruhe hat. Ich bin es auch, mache mir aber Sorgen wegen der Blutwerte.

18.Juni 2015
Mein Vater sagt, dass er ständig Durst hat. Er kann einen ganzen Liter trinken und hat danach sofort wieder Durst. Vermutlich eine Nebenwirkung der aktuellen Chemotherapie. Das Gift ist ja in seinem Körper und geht nicht sofort weg, wenn die Chemotherapie mal ausgesetzt wird. Sein Gewicht liegt derzeit bei 69 Kilogramm und er sieht wirklich nicht mehr aus, wie ich ihn immer kannte. Und er nimmt einfach nicht zu. Gut ist nur, dass er immer wieder Appetit hat und viel isst.
Obwohl er am Tag viel im Bett liegen muss, weil ihm kalt ist, scheint er gute Laune zu haben. Ich erkenne das meist an seiner Stimme. Wenn er gute Laune hat, dann ist es gut.

07. Juli 2015
Mein Vater bekommt hochkalorische Drinks, um damit vielleicht zuzunehmen. Er nimmt sie zwar an, denkt aber nicht daran, diese auch zu trinken. Erst recht nicht, nachdem er mit einem Mann spricht, der ebenfalls Chemotherapien bekommt und dem diese Drinks auch regelmäßig aufgeschrieben werden. Auch dieser holt die Drinks immer, trinkt sie aber nicht mehr, weil sie weder schmecken noch geholfen haben. Somit ist für meinen Vater absolut klar, dass er die Drinks nicht einmal probieren wird. Meine Versuche ihn umzustimmen scheitern wie immer kläglich. Und so einigen wir uns darauf, dass er sich die Drinks aufschreiben lässt und ich sie trinke. Vielleicht nehme ich davon ja zu.

12. Juli 2015
Seit Tagen hat mein Vater Schmerzen in der Leiste. Manchmal kann er nicht mehr richtig gehen. Sachen tragen erst recht nicht. Nun ruft er an und sagt, dass er eine dicke Beule oberhalb der Leiste hat. Sofort vermute ich einen Leistenbruch und sage meinem Vater, dass er zum Arzt muss. Da sein Hausarzt im Urlaub ist, muss er morgen zum Vertretungsarzt. Alles andere macht keinen Sinn.

13. Juli 2015
Der Termin beim Vertretungsarzt bringt nicht die erwartete Diagnose. Die Leiste ist in Ordnung. Es ist der Tumor, der diese Beule und die Schmerzen verursacht hat. Machen kann oder will der Arzt da nichts. Er rät meinem Vater, in Zukunft einfach mehr Schmerztabletten zu nehmen. Außerdem stellt er bei der Ultraschalluntersuchung fest, dass mein Vater Wasser im Bauchraum hat. Dagegen möchte er ihm aber nichts verschrieben. Zumindest ist es das, was mein Vater mir später erzählt. Ich frage mich, ob mein Vater vielleicht wichtige Details ausgelassen hat. Auch was die CT-Untersuchungen der Bauchspeicheldrüse angeht. Wenn der Tumor dort angeblich vorher nie gewachsen ist, wieso hat mein Vater dann jetzt diese Beule vom Tumor? Erscheint mir merkwürdig. Außerdem frage ich mich, warum bei meinem Vater die Chemotherapie geändert wurde. Vielleicht doch, weil die andere nicht mehr gewirkt hat? Werde ich vielleicht nie erfahren und ändert eh nichts.
Nachdem die letzten Wochen scheinbar eine Art stillstand herrschte, es keine neuen miesen Meldungen gab, ich nun mit einem Schlag alles wieder dramatisch und die eingebildete Zeit, die noch bleibt, bis es wirklich schlimm wird und zu Ende geht, ist auf ein Mindestmaß geschrumpft. Was das Wasser in Bauchraum angeht, so gehe ich von einer Nebenwirkung der Chemotherapie aus. Diese wird meinen Vater letztlich auch umbringen, davon bin ich schon lange überzeugt. Weiterhin glaube ich daran, dass es ihm besser gehen würde, wenn er die alternativen Mittel auch weiter genommen hätte.

Mein Vater scheint es einfach so wegzustecken. Am Nachmittag will er mit mir nach Lünen, um sich neue Sachen zu kaufen. Alles eine Nummer kleiner, weil die alten Sachen nicht mehr passen. Mir kommt das alles völlig sinnlos vor und ich an seiner Stelle würde nichts mehr tun und hätte längst aufgegeben.

14. Juli 2015
Nach der Chemotherapie ruft mein Vater an. Er sollte eine Blutkonserve bekommen, was er abgelehnt hat, da er kein Blut von fremden Menschen nimmt. Was genau mit seinem Blut nicht stimmt, sagt er nicht. Er soll Rote Bete zu sich nehmen und will sich Rote Bete aus der Dose kaufen und essen. Ich sage ihm, dass das nicht reichen wird und er Rote Bete Saft kaufen soll. Schmeckt nicht, will er nicht. Vielleicht wird es ja so auch wieder besser, sagt er. Ich erwidere, dass es unwahrscheinlich ist, weil er ja nichts für seine Werte tut. Dazu vergiftet ihn die Chemotherapie immer weiter. So kann das nicht gehen. Er sagt, abwarten. Sagt er immer, wenn er nichts mehr hören will.

Wegen des Wassers im Bauchraum wird er am Donnerstag untersucht. Zur Beule wurde angeblich nichts gesagt. Wenn er Wasser im Bauch hat, wird es am Donnerstag abgesaugt, was er ganz entspannt sieht. Ich wäre da panisch und resigniert, er bleibt da, zumindest nach außen, irgendwie ganz entspannt. Seine Sturheit werde ich dennoch nie verstehen.

16. Juli 2015
Als ich meinen Vater am späten Nachmittag besuche, liegt er im Bett und schläft. Ihm war so kalt, dass er sich hinlegen musste. Bei Temperaruten von über 26° Grad ist das schon bedenklich. Durch meinen Besuch, wird er wach. Obwohl ich mich davor fürchte, frage ich nach seinem Arzttermin. Das Wasser in seinem Bauchraum ist noch zu wenig, um abgesaugt zu werden. Tabletten bekommt er keine. Die Beule vom Tumor kommt angeblich davon, dass er so schnell abgenommen hat. Diesen Teil seiner Aussage glaube ich ihm nicht. Er sieht insgesamt völlig getroffen und niedergeschlagen aus. Ich mag nicht fragen und denke, für ihn ist es auch besser so. Ich gehe in den Keller und hole Wasser. Zum ersten Mal hat er nichts mehr zu trinken oben. Ich vermute, dass es ihm einfach zu mühselig ist, noch Wasser aus dem Keller zu holen. Als ich wieder oben bin, sitzt er im Bett und schüttelt seinen Kopf. So habe ich ihn länger nicht gesehen. Vermutlich haben die heute viele unschöne Dinge gesagt als sie ihn untersucht haben. Die Chemotherapie am nächsten Dienstag fällt aus. Er muss nur zum Blut abnehmen. Bewegen kann er sich nur unter großen Schmerzen, dennoch reißt er sich zusammen und steht auf. Er redet anders, er wirkt anders. Verzweifelt? Resigniert? Leidend? Ich weiß es nicht. Vermutlich von allem ein bisschen. Das Spiel scheint aus. Wie befinden uns in der Nachspielzeit. Ich hoffe, sie geht noch lange. Aber nur, wenn es für ihn erträglich ist.
Wir sitzen in der Küche, reden ein wenig über Fußball und meinen gestrigen Ausflug nach Bielefeld. Mein Vater sieht so gequält aus wie lange nicht mehr. Er sagt, dass er nur noch Wasser und Tee trinken will, weil sein Durchfall immer schlimmer wird. Irgendwann geht gar nichts mehr. Und wenn ich ihn heute so sehe, wie seine Lippen zittern, wie er vielleicht etwas sagen will, es dann aber nicht tut, so ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass wir im nächsten Sommer wieder zusammen in dieser Küche sitzen. Nach wenigen Minuten friert er wieder und ich gehe. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten, was ich sagen, soll. Ich fürchte nun geht es ihm nie mehr besser. Krebs ist ein Arschloch. So wie das Leben auch.

17. Juli 2015
Heute wirkt mein Vater wieder, wie in den Tagen vor gestern. Er wäscht Wäsche, kocht und putzt. Er sagt, dass seine Tumormarker bei der letzten Untersuchung besser waren, was laut Ärztin ein gutes Zeichen ist. Ich habe meinen Glauben an gute Zeichen und so verloren. Erscheint mir alles wie einfach so dahin gesagt Sätze, die den Patienten aufmuntern sollen weiter zu machen. Aber wenn es tatsächlich hilft, dann soll es ruhig so sein.

20. Juli 2015
Die letzten Tage schienen wieder normal zu verlaufen. Schnell wieder alles so weit verdrängt, dass man glaubt, es könnte ewig so weiter gehen. Der Alltag verdeckt die üblen Dinge oft. Vielleicht rede ich mir das auch nur ein, denn eigentlich sind die üblen Dinge stets da. Als ich meinen Vater am Nachmittag besuche, räumen wir ein wenig auf. Alte Sachen, die meiner Mutter wichtig waren, werden entsorgt. Tischdecken in Hülle und Fülle, Weihnachtssachen, Ostersachen und Porzellan. Es ist unglaublich, wie viele Sachen meine Mutter hatte. Zwei Kartons und ein Müllsack voll mit Sachen, die wir der AWO bringen wollen. Bevor wir losfahren, sagt mein Vater, dass er nicht nur Wasser im Bauch hat. Auch sein linker Fuß ist nun stark geschwollen. Das Wasser wird mehr und mehr zu einem Problem. Ist das Wasser im Bauch wohl Folge des Tumors, frage ich mich, ob es beim Fuß auch so ist. Gut kann es jedenfalls nicht sein. Erneut wird bewusst, wie schlecht es um meinen Vater steht. Zum Glück hat er morgen keine Chemotherapie. Oder ist das am Ende gar kein Glück?

21. Juli 2015
Erneut lehnt mein Vater eine Bluttransfusion ab. Wie immer kann er mir später nicht sagen, welche Werte eine solche Bluttransfusion notwendig machen. Trotz der Blutwerte soll die Chemotherapie nächste Woche fortgesetzt werden, was mir merkwürdig erscheint. Das er Wasser im Bein hat, hat er auch nicht gesagt. Er will demnächst, wenn es nötig wird, den Vertretungsarzt seines Hausarztes aufsuchen. Er ist wohl sehr zufrieden mit ihm gewesen als er letzte Woche dort war. Ich sage ihm, dass er dann diese Woche hingehen muss, weil der Hausarzt ab nächste Woche wieder da ist. Vielleicht sollte er auch einfach den Arzt wechseln, wenn er sich da wohler fühlt. Von seinem Hausarzt hält er eh nichts. Seinen vorherigen Hausarzt findet er auch nicht gut, also warum nicht den Vertretungsarzt zum Hausarzt machen?

24. Juli 2015
Weil der Gürtel zu sehr drückt und Schmerzen verursacht, der Bauch wächst und die Hose rutscht, will mein Vater sich Poloshirts kaufen, die er über der Hose tragen kann, um darunter die Hosenträger zu verbergen. So würde mein Vater zum ersten Mal seit ich mich erinnern kann, kein Hemd mehr tragen. Zunächst will er ein kurzes Poloshirt kaufen, entscheidet sich dann trotz des Sommers für ein langärmeliges, weil er nicht will, dass seine schlaffen, dünnen Arme gesehen werden. Ich hoffe, dass ihm die Poloshirts einigermaßen zusagen und er in Zukunft durch den Hosenträger weniger Probleme haben wird.
Nach dem Einkauf gehen wir ein Eis essen. Kaum sind wir danach zurück im Auto muss mein Vater zur Toilette. Doch leider dauert es von Lünen bis nach Hause eine Weile, so dass er auf der Fahrt tierische Krämpfe bekommt und es nur ganz knapp bis nach Hause schafft. In Zukunft, so sagt er, wird er unterwegs nichts mehr essen oder trinken, weil es einfach nicht geht. So geht mehr und mehr Lebensqualität verloren. Vermutlich so lange bis man keine Lust mehr hat weiterzuleben, wenn man denn so lange lebt.

25. Juli 2015
Man kann fast dabei zusehen, wie der Bauch meines Vaters größer und größer wird. Das Wasser scheint sich schnell zu bilden. Ich denke, dass am Dienstag Wasser abgesaugt werden muss.

11. August 2015
Die Frage, ob mein Vater heute auf die Chemotherapie verzichten möchte, bejaht er. Stattdessen werden ihm 1,6 Liter Wasser abgelassen und er fühlt sich anschließend besser. Der Arzt sagt ihm, dass vermutlich neues Wasser nachlaufen wird und bald wieder Wasser abgelassen wird. Es scheint nicht so, dass mein Vater davon ausgeht, dass sich das nie mehr ändern wird.

Am frühen Abend liegt mein im Bett, weil er ziemlich k.o. ist und weil er wieder gefroren hat. Er friert eigentlich immer. Wenn wir im Auto unterwegs sind, macht er oft die Klimaanlage aus. Während ich schwitze, friert er. Das ist nicht schön. Er hat so furchtbar dünne Arme und sieht unfassbar dünn aus. Selbst am Hals hängt die Haut schlaff runter. Er ist so verändert im Vergleich zu früher. Ich glaube, er sieht älter aus als er in Wirklichkeit ist. So eine erbärmliche Krankheit.

Sein Bauch ist irgendwie nicht wirklich dünner und mein Vater meint, dass er spürt, wie der Bauch wieder voll läuft. War er gegen Mittag noch weich, so fühlt sich sein Bauch wieder hart und gespannt an. Ich hatte gedacht, dass es wenigstens für ein paar Tage besser wäre.
Am 27. August folgt die nächste Ultraschalluntersuchung. Bis dahin hat er keine Chemotherapie mehr. Ich denke und hoffe es noch mehr, dass die Pause ihm gut tut und der Krebs dennoch nicht wächst. Es reicht langsam.

14. August 2015
Am Abend bin ich bei meinem Vater, um zusammen mit ihm den Bundesligaauftakt zu sehen. Mitte der ersten Halbzeit sehe ich, dass es ihm nicht gut geht und er müde ist. Zur Halbzeit nimmt er eine Tablette und legt sich hin. Ich gehe nach Hause, verdränge was es zu verdrängen gibt und weiß doch, dass die Katastrophe ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat.

16. August 2015
Als ich am Nachmittag meinen Vater besuchen will, ist er gerade im Keller. Ich nehme ihm die Wasserflaschen ab und gehe vor. Kaum hat er die erste Etage erreicht, ist er dermaßen außer Atem, dass er schwer durchatmen muss. Vor der zweiten Etage muss er kurz pausieren. Er atmet schwer und es hört sich so an als würde Wasser auf der Lunge seine Atmung behindern. Die Wassereinlagerungen werden langsam bedrohlich, wie ich finde. Und es ist wenig förderlich, dass der nächste Untersuchungstermin erst am 27. ist. Andererseits helfen die ihm auch nicht wirklich. Wir müssen also davon ausgehen, dass sein Zustand nicht mehr besser wird.

Als am Nachmittag das Telefon klingelt und ich sehe, dass es mein Vater ist, ahne ich nichts Gutes. Er sagt, dass ich kommen soll, weil er aus der Wanne gefallen ist. Sofort ziehe ich mich an und renne durch den strömenden Regen. Diese Ungewissheit ist grausam. Diese Sorgen unkontrolliert. Ich renne und renne. Als ich ankomme, nass und durchgeschwitzt, sitzt mein Vater in Unterhose auf seinem Bett, schüttelt den Kopf und beschimpft sich selber. Er ist auf die linke Schulter gefallen und kann den linken Arm nicht bewegen. Ich beschließe, dass er ins Krankenhaus muss und fürchte, dass etwas gebrochen ist. Morgen wollte ich mit Agnes nach Holland. Endlich mal raus hier. Auftanken. Das Hotel ist gebucht. Ich fürchte, dass hat sich nun erledigt.
Mein Vater kann sich nicht alleine anziehen, Ich ziehe ihm seine Socken an, lege ihm sein Hemd um und knöpfe es zu. Bei der Hose muss ich ihm ebenso helfen. Das sieht alles gar nicht gut aus. Dazu kommt, dass mein Vater sehr wackelig auf den Beinen ist. Alles ist scheiße.

Im Krankenhaus in Brambauer wird meist gebrochen deutsch gesprochen und ich bereue, dass wir nicht nach Lünen gefahren sind. Die Schulter wird geröntgt. Nach jeder Aufnahme geht die Frau mit einer Art Steintafel in ein anderes Zimmer, liest das Bild ein und schaut es sich dann auf einem Bildschirm an. Als wären wir in der Zeit zurück gereist.

Zurück in der Ambulanz erfahren wir, dass die Schulter gebrochen ist. Ob operiert werden muss, kann noch nicht abschließend entschieden werden. Das macht morgen der Chefarzt. Somit ist klar, wie wir den Vormittag verbringen werden. Morgen um 09.00 Uhr sollen wir wieder hier sein. Alle Notfälle vom Wochenende finden sich morgen hier ein, was auf einen langen Aufenthalt schließen lässt. Wenn es beschissen läuft, dann lässt es sich einfach steigern. Mein Vater bekommt etwas umgebunden, damit der Arm und die Schulter sich nicht bewegen können. Falls er nicht operiert wird, muss er dieses Ding viele Wochen tragen. Und wieder geht ein Stück Lebensqualität verloren. Ich kann nicht mehr.

Ich bringe meinen Vater nach Hause und sage ihm, dass der Urlaub ausfällt, weil er mit dem Arm fast nichts mehr machen kann. Wie soll er sich anziehen und wie festhalten, wenn er doch mal weggeht? Wie soll er essen machen oder gar spülen? Ich merke, wie ich innerlich mehr und mehr zusammenbreche. Der Urlaub sollte mich einfach mal von allem entfernen, mich quasi kurz befreien. Und nun das. Ein Teil von mir ist wütend, weil er so leichtsinnig war, sich aus der Wanne zu beugen, um an ein Handtuch zu kommen und dabei weggerutscht ist. Ich weiß aber, dass es unfair ist. Ich kann ihn ja verstehen. Es ist sicher schwer, wenn man nicht mehr tun kann, was man früher konnte. Wenn der Körper so schwach ist. Der Anblick meines abgemagerten Vaters ist schwer zu verkraften. Er ist dünn, gebrechlich, schwach und tut mir unendlich leid. Das Leben ist so unfair. Ich frage mich, wie das gehen soll in den nächsten Wochen. Frage mich, ob ich bei ihm einziehen soll. Ich will helfen und gleichzeitig davonlaufen. Verantwortung. Ich habe sie nie gewollt. Niemals für mich und auch nicht für andere. Ich kann keine Grenzen ziehen. Will weg und ihm gleichzeitig sein Leben organisieren, ihm alles abnehmen. Ich finde kein gesundes Maß. Nie. Entweder bin ich knallhart, kalt und abweisend oder ich lasse alles mit mir machen, habe keine Meinung und finde mein Mitte. Mein Vater macht sich selbst Vorwürfe, lacht sich aus und will natürlich nicht, dass ich den Urlaub absage. Aber könnte ich mich überhaupt entspannen? Kann ich, der seine Anspannung kaum mal loswird, wirklich wegfahren und Spaß haben? Ich will Zeit mit Agnes verbringen. Ich habe das Gefühl unsere Momente sind nie mehr unbeschwert. Meine Mutter fiel kurz nach meinem Geburtstag 2013 um. Seitdem gab es keine wirkliche Entspannung. Immer war irgendwas. Der Geburtstag 2014 war auch total stressig, weil ich immer mit Paps zum Krankenhaus musste, wegen der Blutung. Ich bin ständig unter Strom. Doch was soll mein Vater sagen. Alles das trifft ihn tausendmal schlimmer. Er ist betroffen. Er ist tapfer. Er tut mir Leid.
Ich spüle, mache ihm einen Tee und gehe dann zu mir. Es regnet. Alles passt zusammen. Zu Hause angekommen muss ich unter die Dusche und dann bricht es aus mir raus. Ich weine, schreie, brülle, weine, bin verzweifelt, bin außer mir. Sehe meinen Vater vor mir, weine stärker, schluchze. Es ist so viel, was raus muss. Ich verlasse die Dusche, weine wieder, liege auf dem Boden. Ich bin so angespannt. Und immer wieder höre ich mich „Ich kann nicht mehr“ sagen. Ich bin fertig. Ich will meinen Vater nicht alleine lassen, will ihm helfen. Aber wie auch immer ich mich entscheide, es wird falsch sein. Da ist es wieder, mein sonniges Gemüt. Im Wohnzimmer, halb angezogen, weine ich weiter. Liege auf dem Boden. Schluchze, brülle, schreie meine Verzweiflung raus. Doch immer versuche ich es auch zu kontrollieren. Das ist krank. Ich bin krank. Und das denke ich wirklich. Ich denke, dass ich bald nach meinem Vater sterben werde, weil ich selbst schon lange Darmkrebs habe. Das kommt davon, weil ich nie entspanne, seit Jahren nicht entspanne, mich belüge, mir etwas vormache. Und seitdem mein Kartenhaus, sprich Elternhaus, mehr und mehr zusammenbricht, zerbreche ich einfach mit. Weil ich am Ende bin, schon lange am Ende bin. Weil mein Leben ein Witz ist, weil ich ein Witz bin. Und was ich vor allem auch bin … einsam. Aber das ist eine andere Geschichte und dafür bin nur ich verantwortlich. Ich kann nicht mehr. Ich bin fertig.

Ich nehme Bach Rescue Tropfen. Ich dachte, dass ich das hinter mir hätte. Ich habe mich geirrt. Mein Magen rebelliert und ich bin überfordert. Drehe mich im Kreis, wie in schlechten Zeiten. Ich bin außer Kontrolle.

17. August 2015
Es ist längst nach Mitternacht als ich mit Agnes telefoniere. Sie versucht mich wieder in die Realität, raus aus meinen psychotischen Kreislauf zu holen, was ihr nicht wirklich gelingt. Sie sagt, dass es hätte schlimmer kommen können und ich habe das Gefühl, dass ich sie mit meiner negativen Einstellung total nerve. Ich bin eine Zumutung und drehe mich nur um mich. Sie hat ja Recht, die Schulter heilt, den Urlaub kann man nachholen, aber ich denke immer wieder, dass es meine letzte Chance auf Urlaub war und ich gefangen bin. Dann wiederum tut mir mein Vater unendlich leid und ich finde das Leben wieder total ungerecht. Er hat doch schon genug erleiden müssen in den letzten beiden Jahren. Dagegen ist es für mich wirklich nicht so schlimm gewesen. Was bin ich nur für ein egoistisches Weichei? Meine echte Leidenszeit wird später kommen, da bin ich sicher.
Nach dem Gespräch lese ich noch ein wenig, nehme erneut Rescue Tropfen und schlafe rasch ein. Gegen 02.30 Uhr bin ich wieder wach, weil es sich so anfühlt als boxe mir jemand in den Magen. Wieder drehe ich mich nur um m ich und wie schrecklich mein Leben doch ist. Ratlos, hilflos, hoffnungslos. Ich denke darüber nach, dass ich meinem Vater eine Wohnung im Erdgeschoss besorgen muss. Er kann da nicht mehr hoch, er braucht eine Wohnung, die für ihn leichter zu betreten ist. Dann trauere ich um meinen Urlaub und bemitleide mich vermutlich selbst. Zeit für weitere Rescue Tropfen. Ich bin wieder voll in meiner Psychose, schlafe aber dennoch wieder ein.

Ich wache auf, schlafe ein, habe Magenschmerzen, wälze mich im Bett hin und her. Ich dachte, das alles hätte ich längst hinter mir. Ich dachte, ich wäre längst weiter. Wie soll mein Leben weitergehen, wenn Paps nicht mehr ist? Was bleibt mir dann noch? Ein Leben ist Isolation. Einsamkeit. Es dämmert und es regnet. Das Wetter ein Spiegelbild meiner Seele. Dabei hat Agnes doch recht, ein Bruch verheilt. Paps hätte viel schlimmer stürzen können. Die Tatsache, dass es schlimmer hätte sein können als Trost für die aktuelle Situation. So wahr und doch scheinbar so grotesk.

Vor sieben stehe ich auf. Ich muss essen, meine Energiereserven sind aufgebraucht, meine Essstörung macht sich bemerkbar. Der Himmel ist bedeckt. Vielleicht weint der Himmel auch wegen des Elends dieser Welt. Warum stelle ich mich nur so an?

Nach langem hin und her beschließe ich, dass ich doch in den Urlaub fahre. Vorher kaufe ich für meinen Vater ein, damit er alles da hat, was er braucht. Bin ich kaltherzig?

20. August 2015
Direkt nach der Rückkehr aus meinem Kurzurlaub besuche ich Paps. Es scheint alles soweit okay zu sein. Ich bin beruhigt.

23. August 2015
Heute ist kein guter Tag. Paps geht es nicht gut, er kann aber nicht genau benennen, was er hat. Seine linke Hand ist unglaublich geschwollen. Ebenso seine Füße. In seine Schuhe passt er nicht mehr rein, weshalb wir morgen neue kaufen gehen müssen. Gegessen hat er bisher nur eine Scheibe Brot. Auch trinken mag er nichts. Vielleicht liegt es am Wetter und ist morgen besser. Morgen früh sollte er eigentlich zum Krankenhaus wegen der Schulter, doch er will lieber erst am Mittwoch gehen. Ich denke, es wird nicht schaden. Er sagt, dass er fünf Kilo zugenommen hat. Ich fürchte, dass es vom Wasser kommt. Es ist schon erschreckend, wie manche Menschen leiden müssen. Sinn macht das auch weiterhin keinen.

Normalerweise wollte mein Vater mich um 20.00 Uhr anrufen. Wenn er das nicht macht, rufe ich ihn normalerweise an. Heute hat er mich nicht angerufen und ich habe ihn nicht angerufen. Jetzt ist es 23.00 Uhr und ich überlege kurz, ihn jetzt noch anzurufen, weil es ihm heute ja schlecht ging und ich mir Sorgen mache. Letztlich entscheide ich mich aber, ihn nicht anzurufen. Ich bin überfordert.

24. August 2015
Kaum hat der Tag begonnen, frage ich mich, warum mein Vater gestern nicht angerufen hat. Ich kann einfach nicht loslassen. Das ist mitunter echt anstrengend.

Am Vormittag bin ich bei meinem Vater. Er klingt besser als gestern, aber sein Bauch ist so unglaublich angeschwollen. Das Wasser scheint sich sehr schnell zu bilden und ich hoffe, dass man ihm da noch helfen kann. Um seinen Bauch herum ist alles blau, teilweise schwarz verfärbt von seinem Sturz. Das sieht alles schon übel aus. Aber am schlimmsten finde ich, wie dünn mein Vater ist. Es ist immer wieder erschreckend. Sein Gewicht beträgt nun 77kg. Das wird am Wasser liegen.
Wir kaufen ihm neue Schuhe, weil er mit seinen geschwollenen Füßen nicht mehr in seine alten Schuhe passt. Die neuen Schuhe haben drei Klettverschlüsse und sind obendrein eine Nummer größer als üblich. Daran erkennt man, wie sehr seine Füße angeschwollen sind. Anschließend kaufen wir ihm noch Hosenträger. Unterwegs müssen wir ab und zu eine Pause machen, weil er außer Atem ist.

Als wir später zurück sind und die Treppen in die dritte Etage zu seiner Wohnung rauf müssen, schafft er keine zehn Treppen, bevor er außer Atem ist und eine Pause braucht. Ich vermute, dass das Wasser dafür verantwortlich ist. Wasser auf der Lunge und am Herz. Das wirkt alles nicht so, als würde es irgendwann besser werden. Mein Vater ist da optimistischer. Meinen Vorschlag eine Wohnung in einem Erdgeschoss zu beziehen lehnt er ab, weil er glaubt, dass es ihm, wenn das Wasser am Donnerstag abgelassen wird, besser geht. Das glaube ich auch. Nur fürchte ich, dass dieser Effekt von kurzer Dauer sein wird. Nach einer Wohnung, so sagt er, gucken wir dann im nächsten Jahr. Bleibt zu hoffen, dass er es bis dahin schafft.

25. August 2015
Erneut kein guter Tag für meinen Vater. Ihm ist übel, er isst kaum und fühlt sich im Kopf komisch. Dazu ist er schlapp und antrieblos. Er sagt, dass er die Schnauze voll hat und will aufhören, weil es nichts mehr bringt. Ich sage nichts dazu, kann ihn aber gut verstehen. Er hat kaum etwas gegessen und nur wenig getrunken, weshalb ich ihm erneut die Notwendigkeit ausreichend zu trinken erkläre. Er sieht es ein, schafft es aber nicht wirklich viel zu trinken. Als wir später einen Nachbarn im Flur treffen, scheint mein Vater etwas aufzuleben. Ich denke, es wäre gut, wenn er öfter jemanden zum reden hätte.
Nach dem Einkaufen treffen wir einen Bekannten. Auch hier macht es den Eindruck als würde es meinem Vater gut tun, endlich mal wieder mit jemandem zu reden. Kaum zu Hause angekommen ist er aber wieder hoffnungslos und wirkt resigniert. Trotzdem trinkt er was, isst einen Pfirsich aus der Dose und legt sich dann hin. Ich hoffe, diese negative Phase geht bald vorbei.

27. August 2015
Als ich meinen Vater besuche, sitzt er in eine Decke eingehüllt im beheizten Zimmer. Er sieht niedergeschlagen, demotiviert, verfallen aus. Klein und gebrechlich. Ich frage ihn, wie es ihm geht. Er winkt ab und gibt dann zu verstehen, dass es zu Ende geht. Chemotherapie gibt es keine mehr, der Krebs hat sich ausgebreitet. Ihm wurden sechs Liter Wasser abgelassen, weitere drei hätten noch abgelassen werden können, aber das wäre zu gefährlich gewesen und hätte ihn zu sehr geschwächt. Eine Eiweißinfusion hat er auch bekommen. Als er vor der Behandlung aus dem Taxi stieg, fiel er hin. Auf die rechte Seite. Ein Wunde am Kopf und eine Prellung am Arm hat er davon bekommen. Es ist entsetzlich, wie ein Mensch so abbauen kann. Es ist schrecklich, dass man nichts mehr für ihn tun kann. Er hat eine Überweisung zur Palliativmedizin bekommen. Er sagt nicht, wie viel Zeit der Arzt ihm noch gibt, aber es klingt nach Tagen, maximal wenigen Wochen. Der Tod ist unaufhaltsam, der Krebs ebenso. Ich weiß wie immer nicht, was ich sagen soll, sitze da, schüttle den Kopf und weiß nicht, wie das jetzt in den nächsten Tagen weiter gehen soll. Morgen bekommt mein Vater eine Bluttransfusion. Wenn er dem schon zustimmt, dann heißt das was. Wir reden über den Nachbarn, der ebenfalls Bauchspeicheldrüsenkrebs hat und den wir lange nicht mehr gesehen haben. Auch der Taxifahrer hat ihn lange nicht gesehen. Vermutlich hat auch er den Kampf verloren in der Zwischenzeit. Oder er liegt sterbend im Krankenhaus. Gnadenlos schlägt der Krebs zu. Niemand ist sicher. Wir reden kurz über die Wohnung, die Möbel und Geld. Die Monatsmieten für drei Monate hat mein Vater zurückgelegt. Das ist vernünftig und klingt doch gruselig. Der sachliche Teil von mir geht das alles vernünftig an und versucht einen Plan zu machen. Der emotionale Teil hat für Pläne gar nichts übrig. Absolut gar nichts.

Ich frage mich, ob ich in den nächsten Tagen bei meinem Vater bleiben soll. Kann ich ihn alleine lassen in seinem Zustand. Was hilft ihm? Und hilft überhaupt noch was? Und da ist sie wieder die Tatsache, dass jeder für sich alleine stirbt und leidet. Andere können zwar anwesend sein, aber am Ende muss man mit all dem doch alleine leben. So geht es jedem, so ist das Leben. Sinnlose Erkenntnis.

28. August 2015
Optisch sieht mein Vater heute irgendwie besser aus. Fast schon erholter. Auch wirkt er insgesamt frischer als gestern. Er fragt sich, wie der Arzt ohne Untersuchung sagen konnte, dass der Tumor wächst bzw. Metastasen gebildet hat. Ich sage, dass es möglicherweise wegen dem vielen Wasser in seinem Körper so ist. Heute wirkt wieder alles vertraut und nicht so als wäre es bald vorbei. Dennoch reden wir über seine Wohnung. Er sagt, dass er Geld zurückgelegt hat, damit ich die Wohnung räumen lassen kann. Er rechnet damit, dass es etwa 800 Euro kostet. Ich sage ihm, dass ich die Möbel entweder verkaufen oder verschenken werde, aber sicher kein Geld ausgeben werde. Das Geld wächst schließlich nicht auf Bäumen. Er findet es okay und sagt, dass es meine Entscheidung ist.
Während er zur Bluttransfusion ist, räume ich ein wenig seine Wohnung auf. Nur ein kleines bisschen. Vielleicht bekommt er eine Haushaltshilfe. Man weiß es nicht.

Nach der Blutübertragung wirkt mein Vater weiter frischer und kräftiger als am Vortag. Er sagt, dass er die Treppen besser als zuletzt hochkam. Das ist alles erfreulich und hoffentlich nicht nur von kurzer Dauer. Wir gehen essen. Er schafft eine Currywurst mit Kroketten und Salat. Irgendwie sieht es nicht so aus, als würde es bald zu Ende sein. Doch darauf sollte man sich auf keinen Fall verlassen. Wie üblich gehen wir später zum Friedhof. Anschließend müssen wir kurz zurück, weil mein Vater, wie meist nach dem Essen, zur Toilette muss. Danach gehen wir noch einkaufen. So viele Tätigkeiten an einem Tag und in dieser Länge, wären noch vor zwei Tagen undenkbar gewesen.

29. August 2015
Am Vormittag putzt mein Vater ein Fenster. Mittags mache ich uns Fisch und anschließend sortieren wir einige Papiere. All das hätten wir schon längst tun sollen, doch weil es keine angenehme Aufgabe ist, haben wir es immer wieder verschoben. Nachdem seine Papiere geordnet sind, räumen wir noch ein paar Schubladen auf und entsorgen viele Dinge, die meine Mutter aufgehoben hat. Unter anderem alle Todesanzeigen von Bekannten und nahen Verwandten. Die Trauerkarten dazu ebenso. Dummerweise schaue ich immer kurz auf die Karten und werde davon deprimiert. So etwas aufzuheben würde mir nie in den Sinn kommen, denn das zieht einen noch mehr runter und weist nur auf die Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins hin.

Wir fahren einkaufen. Am Ende unseres Einkaufs ist Paps ziemlich erledigt und die Treppen zur Wohnung bereiten ihm wieder deutlich mehr Schwierigkeiten als am Vortag. Das Wasser in seinem Bein scheint auch zu steigen und ist nicht mehr nur im Fuß. All das lässt befürchten, dass es wirklich nicht mehr so lange dauert bis es zu Ende geht.

30. August 2015
Jeden Morgen wache ich mit einem komischen Gefühl auf, weil ich nicht weiß, ob Paps noch lebt. Irgendwann werde ich zum letzten Mal mit diesem Gefühl aufwachen, weil sein Leben zu Ende ist. Verfluchter Kreislauf des Lebens.

War er gestern noch überraschend fit, so ist sein Zustand heute wieder schlechter. Er ist schlapp und ihm ist irgendwie übel. Essen mag er nicht wirklich. Ob es am Wetter liegt? Temperaturen um 30° Grad sind nicht immer förderlich, wenn man so geschwächt ist.

31. August 2015
Auch heute geht es ihm nicht gut. Ein halbes Brötchen zum Frühstück, mehr ist nicht möglich. Es ist wieder ziemlich schwül und er ist ziemlich kraftlos. Sein Bauch ist prall gefüllt vom Wasser. Dennoch möchte er mit mir in den Baumarkt und anschließend essen gehen.
Er bestellt sich eine Currywurst mit Salat. Die Hälfte schafft er nur. Völlige Appetitlosigkeit. Ich bringe ihn nach Hause, wo er den Rest des Tages verbringt. Er liegt viel ihm Bett und schaut später TV. Ich frage mich, wie lange das noch gut geht und wo es passieren wird. Finde ich ihn tot in der Wohnung? Fällt er um, während wir unterwegs sind? Stirbt er im Krankenhaus? Immer die gleichen bedrohlichen Fragen. Die Zeit all das zu verdrängen wird immer knapper.

01. September 2015
Auch heute geht es meinem Vater bescheiden. Er hat keinen Appetit, isst kaum und trinkt zu wenig. Er ist schlapp und fühlt sich unwohl. Er überlegt, ob er morgen in der Onkologie anruft, um sich Wasser absaugen zu lassen. Außerdem möchte er einen Termin bei der Schmerztherapie, Palliativmedizin, machen. Es ist nicht schön, dass es ihm so schlecht geht.
Ich bringe ihn zur Bank. Zum ersten Mal möchte er, dass ich mitkomme und nicht im Auto auf ihn warte. Anschließend gehen wir einkaufen und dann zu ihm, um etwas zu essen. Es gibt Pfannengemüse, wovon er nur eine kleine Portion isst. Anschließend muss er sich hinlegen und ich spüle und bügle. Er steht wieder auf, fühlt sich weiter schlapp und ich muss ihn überreden, dass er was trinkt. Ich mache ihm einen Tee. Dazu versucht er einen kleinen Riegel Marzipan, der ihm aber nicht schmeckt. Er klagt über schlechten Geschmack im Mund und darüber, dass er sich so unwohl fühlt. Er möchte eine Birne essen. Als wir vorhin einkaufen waren, hat er keine Birnen kaufen wollen. Ich lasse ihn kurz alleine, um Birnen zu kaufen. Wenn er Lust auf Birnen hat, dann soll er sie auch bekommen.

Später fahren wir zur Reha wegen seiner Schulter. Es wird nur besprochen, aber noch nichts gemacht. Wäre die Situation nicht so beschissen, könnte ich ihn fast beneiden, weil nur attraktive Frauen in der Praxis tätig sind und sich um ihn kümmern. Unter diesen Umständen bringt das aber nichts.

Anschließend sitze ich noch eine Weile bei ihm. Wir reden selten über das Leben und persönliche Dinge. Wir reden über eine Ablage, die ich in meiner Wohnung bauen will und darüber, dass wir morgen die Betten beziehen und dann wieder ein wenig aufräumen und weitere Sachen (Taschentücher, Tischdecken, usw.) entsorgen. Das ist unser Plan für morgen. Ich mache ihm eine Schnitte Brot, dann lasse ich ihn alleine. Oft wird das so sicher nicht mehr vorkommen.

Ich hätte niemals geglaubt, dass ich meinem Vater mal ein Brot mache. Nie gedacht, dass mein Vater mal so schwach sein würde. Ich helfe ihm beim anziehen, mache die Knöpfe an seinem Hemd zu, helfe ihm in seine Schuhe. Alles so selbstverständlich und doch auch so absurd.

02. September 2015
Mittags mache ich meinem Vater zwei Kottelets und Kartoffeln. Das wird seine erste Mahlzeit des Tages, was mir nicht gefällt. Getrunken hat er auch nur wenig und er ist wieder sehr schlapp. Umso erfreulicher, dass er ein Kottelet und zwei Kartoffeln isst. Nach dem Essen legt er sich hin und schläft kurz. Später räumen wir, wie geplant, zwei Schränke auf, was bedeutet, dass wir fast den kompletten Inhalt entsorgen. Eine große Tasche mit Stofftaschentüchern und Tischdecken, fünf weitere Taschen voll mit Kerzenhaltern, Kuchenplatten, Kerzen, Serviettenhaltern und Dekoartikeln. Wieder stellt sich mir die Frage, wieso meine Mutter immer von allen Sachen so viel haben musste. Mein Vater sagt, dass sie immer Kuchenplatten kaufen wollte, weil sie keine hatte. Ich glaube, wir haben sechs oder sieben Kuchenplatten in einer der Tüten verstaut. Es macht mir keine Probleme, die alten und ungenutzten Sachen zu entsorgen. Problematisch wird es erst als mein Vater mir Dinge von ihm zeigt, die mir nach seinem Ableben gehören sollen. Damit kann ich nicht umgehen. Das ist frustrierend.

Ich rufe im Krankenhaus an, um für ihn einen Termin bei der Palliativmedizin zu machen. Es führt ja kein Weg daran vorbei und ich hoffe, dass man ihm seine letzten Tage angenehmer machen kann. Es bedeutet aber auch, dass dieses Ende nah ist.

Wir bringen all die Sachen in ein Second-Hand-Kaufhaus, wie wir es schon mit anderen aussortierten Sachen gemacht haben. Besser als die zum Teil noch neuen Sachen wegzuwerfen. Anschließend gehen wir ein wenig einkaufen. Paps tut es gut, wie mir scheint. Erschöpft aber hungrig kommen wir zurück. Er möchte sein Kottelet essen, dazu eine Schnitte Brot. Das gefällt mir. Ich nötige ihn dazu etwas zu trinken, denn trinken ist einfach wichtig. Sechs Stunden waren wir heute zusammen und ich hoffe, dass ihm das irgendwie geholfen hat.

03. September 2015
Über fünf Liter Wasser werden meinem Vater heute abgesaugt. Anschließend kommt er an den Eiweiß-Tropf. Sein Blutwert ist von 9,6 auf 10,8 gestiegen. Ich weiß nicht, welcher Wert damit gemeint ist, aber es bedeutet, dass er keine weitere Bluttransfusion benötigt.

Am Nachmittag geht es ihm etwas besser, aber er friert sehr. Da ist es wenig förderlich, dass wir heute zur Reha müssen. Während wir warten klagt er über starke Kreuzschmerzen. Ich gebe ihm eine Ibuprofen.
Nach der Reha, die etwa zwanzig Minuten dauert, fahren wir noch eine Runde durch Waltrop. Paps findet es so schön warm im Auto. Da kann ich ihm den Wunsch nach einer extra runde nicht abschlagen. Kaum zu Hause angekommen mache ich ihm eine Wärmflasche und er legt sich hin. Ich spüle und er sagt: „Wenn ich Dich nicht hätte…“ Ich kann nichts dazu sagen und antworte, dass er dann selber spülen müsste. Eine ziemlich unsinnige Antwort. Manchmal ist Schweigen einfach besser.

04. September 2015
Als wir von der Reha, die ausgefallen ist, weil wir zur faschen Uhrzeit da waren, zurückkommen, sagt mein Vater, dass er gerne ein Stück Bienenstich möchte. Glücklicherweise gibt es in der Bäckerei am Krankenhaus Bienenstich und mein Vater lässt sich ein großes Stück einpacke. Ich freue mich, wenn mein Vater Appetit auf etwas hat.
Bevor wir einkaufen fahren, muss ich noch etwas aus meiner Wohnung holen. Paps wartet im Auto und trifft ein Ehepaar, welches er schon seit Jahren kennt. Die beiden bieten an, dass sie zusammen mit einem anderen Ehepaar meinen Vater Besucher, was er aber ablehnt, weil er lieber alleine sein möchte. Die Frage, wie es ihm denn sonst so geht, beantwortet er so, dass er sagt, dass er nicht mehr viel Zeit hat. Wie lange, so sagt er mir später, wollte er nicht verraten. Sein Arzt hat ihm wohl einen Zeitpunkt genannt und mein Vater scheint sicher zu sein, dass der Zeitpunkt richtig ist. Bei seiner Schwester stimmte die Prognose auf den Tag genau. Furchtbar. Ich möchte es nicht wissen, gehe aber davon aus, dass der Zeitpunkt in diesem Monat ist. Natürlich versuche ich das zu ignorieren und zu verdrängen. Diese verdammte Sterblichkeit ist ab dem Moment ein Problem, wenn sie einem bewusst wird. Wenn man aber krank ist und den Tod so deutlich vor sich und auf sich zukommen sieht, dann stelle ich mir das noch schrecklicher vor als nötig. Die Menschen sind angeblich so klug und bringen es doch nicht fertig, diese Begebenheit zu ändern. Da ist das mit der Klugheit wohl doch nicht so weit, wie die Menschen es oft glauben.

07. September 2015
10.00 Uhr. Termin in der Schmerz- und Palliativmedizin. Im Wartezimmer fragt Paps mich, was er hier überhaupt soll. Das gefällt mir irgendwie. Noch schöner wäre es, wenn es wirklich keinen Grund gäbe hier zu sein. Außerdem findet er die Musik im Wartezimmer zum einschlafen. Vermutlich soll die Musik entspannen, wobei sie allerdings wirklich einschläfernd ist.

Das Gespräch nimmt einen für mich unerwarteten Verlauf, weil mein Vater in ein Hospiz ziehen will. Zum einen, weil dann keine Pflegedienste ins Haus kommen müssen, aber sicher auch, damit ich genügend Zeit habe, die Wohnung zu kündigen und leer zu räumen. Insgesamt scheint es oft so als würde er immer noch darauf bedacht sein, niemandem zu sehr zur Last zu fallen. Andererseits ist es sehr vernünftig und rational, wie er entscheidet. Ich würde es wohl auch so tun. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ich so gefasst dabei wäre. Die Fragen, ob er depressiv ist oder Angst habe, verneint er. Es ist halt so, sagt er. Recht hat er natürlich, schrecklich bleibt es allemal. Laut Arzt hat er noch zwei- bis drei Monate zu Leben. Vielleicht schafft er auch noch das Jahr zu beenden. Nüchterne Zahlen, nun endlich ausgesprochen. Sachliche Abwicklung einer emotionalen Angelegenheit. Leben heißt sterben. Ist halt so.

Später im Auto fragt er mich, ob ich sein Auto noch behalten will. Bis Februar. Soweit hatte ich noch gar nicht gedacht, aber eigentlich macht das Sinn. Mein Auto ist ja über den Winter immer abgemeldet. Klären der Dinge, die geklärt werden müssen. Alternativlos. Die Wohnung, so sagt er, kann ich dann in Ruhe ausräumen, während er schon im Hospiz wohnt. Zwei Leute, so sagte die Frau zu uns, gab es bisher, die das Hospiz lebend wieder verlassen haben. Warum sollte mein Vater nicht der dritte sein? Wunschdenken? Unvorstellbares gegen fast Unmögliches ersetzen. Wenn es doch nur so einfach wäre.

Drei Hospize sind, wegen der Entfernung, in die engere Auswahl gekommen. Favorisiert wird ganz klar das Hospiz in Datteln. Alternativ dazu gibt es zwei in Dortmund. Ich schaue im Internet nach Informationen und genauer Entfernung.

10. September 2015
Erneut werden meinem Vater sechs Liter Wasser entfernt. Innerhalb einer Woche solche Mengen zu produzieren, klingt alles andere als gesund. Ansonsten sind seine Blutwerte, so sagt er später, okay. Ein Wert könnte besser sein, aber er weiß nicht mehr welcher. Nach dem Entwässern bekommt mein Vater wie üblich eine Infusion mit Eiweiß. Zu Hause trinkt er tatsächlich einen dieser hochkalorischen Drinks. Ich bin erstaunt und finde es gut. Er hat sich sogar neue Drinks aufschrieben lassen. Gestern hat ihm der Hausarzt ein neues Mittel zum schlafen aufgeschrieben. Bromazepam. Es bleibt zu hoffen, dass es ihm hilft. Ansonsten hat der Hausarzt ihm gestern empfohlen einen Urlaub zu machen und die letzten Tage zu genießen. Mein Vater hat daran kein Interesse, und es auch so mitgeteilt.

11. September 2015
Ein halbe Tablette Bromazepam brachte noch keinen Schlaf, weshalb mein Vater die zweite Hälfte auch noch nahm, um zu schlafen. So ist es vermutlich wenig verwunderlich, dass er, als ich ihn gegen Mittag anrufe noch im Bett liegt und irgendwie weggetreten ist. Er spricht leise, versteht mich kaum und möchte noch etwas schlafen. Zwei Stunden später besuche ich ihn. Er ist auch weiter irgendwie vernebelt und sagt, dass er liegen bleiben möchte und wir morgen einkaufen gehen. Auch zum Friedhof kann er heute nicht, weshalb ich mich wenig später aufmache, um Blumen zu kaufen und eine Kerze aufzustellen.
Zwei Stunden später sitzt Paps vor dem Fernseher. Wirklich wach sieht er immer noch nicht aus. Er sitzt irgendwie total schief in seinem Sessel. Schmerzen, so sagt er, sind für seine Sitzposition nicht verantwortlich. Also wird es das Bromazepam sein. Ich rate ihm dazu, am Abend maximal eine halbe Bromazepam zu nehmen. Er sagt, dass er in der letzten Nacht das erste Mal seit langer Zeit wirklich geschlafen hat. Ich denke, dass ihm Schlaf gut tut und hoffe dennoch, dass er bei der Dosierung in Zukunft etwas vorsichtiger ist.

12. September 2015
Als ich meinen Vater gegen Mittag besuche liegt er ziemlich erledigt im Bett, was ich besorgniserregend finde. Es stellt sich bald raus, dass er auch in der letzten Nacht eine Bromazepam genommen hat. Allerdings ist er fest davon überzeugt, dass er davon auch nicht wirklich schlafen kann. Immer nur kurz. Da frage ich mich, warum er die Tabletten dann weiter nimmt, wenn er nicht wirklich schläft, aber völlig erledigt davon ist.

Nachdem wir eine Kleinigkeit gegessen haben, fahren wir nach Datteln, um das Hospiz zu besichtigen. Von außen und auch von innen macht es einen guten Eindruck. Schwester Birgit, die uns alles zeigt und erklärt, macht auch einen anständigen Eindruck. Ich denke, hier kann man sich wohl fühlen und unter anderen Bedingungen wäre es ganz cool hier eine Weile zu wohnen. Derzeit sind alle acht Zimmer belegt. In Zimmer 7, welches uns gezeigt wird und in dem wir alles weitere besprechen, wohnt derzeit jemand, der noch in der Lage ist, sein Zimmer zu verlassen. Vier oder fünf der acht Patienten sind derzeit noch ganz gut drauf, erzählt uns Schwester Birgit. Mein Vater scheint es hier auch gut zu finden, weshalb er sagt, dass er sofort, wenn ein Platz frei wird, da sein wird, um einzuziehen. Er geht mit der Situation erstaunlich sachlich um. Ob es in ihm auch so sachlich zugeht, kann ich nicht beurteilen. Wenn die Zeit nicht so begrenzt wäre, wenn es nicht diese Umstände wären, dann fände ich den Umzug hierher sehr angenehm. Jetzt bin ich hin und hergerissen. Letztendlich ist es aber die vernünftigste Lösung, denke ich. Ich habe schon einiges über das Ableben im Hospiz gelesen, hätte aber nie daran gedacht, dass es mal so ein persönliches Thema werden könnte.
Die Warteliste ist etwa 25 bis 30 Sterbende lang. Schwester Gabi sagt aber, dass das nicht so viel zu bedeuten hat, da viele, die sie anruft, wenn ein Zimmer zur Verfügung steht, nicht mehr erreichbar sind oder nicht mehr einziehen wollen. Manche sind zwischenzeitlich vielleicht verstorben, woanders untergekommen oder wollen nicht ins Hospiz. In zwei bis drei Wochen will sie meinen Vater anrufen. Er sagt, dass er sofort da ist, wenn sie anruft. Sie scheint meinen Vater zu mögen und ihm scheint es auch gut zu tun, mal mit jemand anderem, als immer nur mit mir, zu reden. Schwester Birgit sagt, dass sie es schön fände, wenn mein Vater hierher käme, wenn er noch so fit ist, dass er hier noch außerhalb seines Zimmers aktiv sein kann. Ich wünsche es ihm auch. In dem Zimmer gibt es einen Fernseher, eine Dusche, ein Bett, einen Schrank und einen Kühlschrank. Die wichtigsten Dinge, die man für seine letzten Tage braucht. Ich denke, dass mein Vater hier gut aufgehoben sein wird und er sieht es wohl ähnlich, weil er sich kein weiteres Hospiz ansehen will. Sein letzter Umzug soll in diesem Hospiz enden. Hoffentlich kann er hier einziehen, bevor sein Zustand sich weiter verschlechtert. Zum Abschied sagt er Schwester Birgit, dass er nur keine Schmerzen haben will. Das ist ihm wichtig. Schwester Birgit sagt, dass man heute keine Schmerzen mehr haben muss. Möge sie damit Recht behalten.

Später gehen wir noch einkaufen. Als wir zurück sind, braucht man Vater länger als je zuvor, um die Treppen zur Wohnung hoch zu kommen. Obwohl erst vor zwei Tagen sechs Liter Wasser abgezogen wurden, scheint das Wasser schon wieder alles zu behindern. Das geht mir zu schnell und ich fürchte, dass wir das Hospiz gar nicht mehr erreichen werden.

13. September 2015
Auf mich wirkt mein Vater irgendwie kraftloser in den letzten Tagen. Ich kann nur nicht sagen, ob es nur am Bromazepam liegt oder daran, dass er viel zu wenig isst und trinkt. Dass es am Bromazepam liegt, würde schon passen, weil mein Vater gestern, bzw. heute Nacht, gleich 1,5 Tabletten genommen hat. Er dosiert so, wie es ihm in den Sinn kommt und freut sich, dass er endlich schlafen kann. Ich weiß nicht, ob das zum jetzigen Zeitpunkt schon angebracht ist. Er badet und ist danach so müde, dass er sich hinlegen muss. Zeit für mich zu gehen.

Weil er am Abend nicht anruft, rufe ich ihn an. Er klingt verschlafen, oder besser gesagt benommen. Ich frage ihn, ob er gegessen hat. Er verneint, weil er davon sofort Durchfall bekommt, wenn er etwas isst. Ich sage ihm, dass er aber essen und trinken muss. Er erwidert, dass das nicht geht, weil der Durchfall heute besonders schlimm ist. Ich soll ihm morgen in der Apotheke Myrrhinil Intest besorgen. Er hofft, dass davon der Durchfall weniger wird. Ich weise ihn darauf hin, dass eine der möglichen Nebenwirkungen vom Bromazepam Durchfall ist. Das gefällt ihm nicht und er will es mit Myrrhinil Intest versuchen. Ich glaube nicht, dass er auf das Bromazepam verzichten will und wird. Überhaupt wirkt er in den letzten Tagen, seit wir im Hospiz waren, verändert. Vermutlich schließt er endgültig mit allem ab. Und er scheint schneller abzubauen als zuletzt, weshalb ich davon ausgehe, dass das mit dem Hospiz nichts mehr wird. Die Warteliste erscheint mir zu lang und die Krankheit die Zeit zu schnell zu fressen. Morgen schlage ich ihm vor, dass wir uns noch mindestens ein weiteres Hospiz ansehen, glaube aber nicht, dass er dazu bereit ist. Er ist sich sicher, dass in zwei bis spätestens drei Wochen ein Platz in Datteln für ihn frei wird. Mich überfordert die Situation so langsam.

15. September 2015
Nachdem mein Vater gestern Abend auf das Bromazepam verzichtet hat, lallt er heute weniger und redet wieder normal. An seiner Müdigkeit hat sich allerdings nichts geändert. Und so legt er sich hin, während ich Mittagessen mache. Als es fertig ist, wecke ich ihn und er kommt essen. Ein halbes Schnitzel und eine Kartoffel isst er, dann mag er nicht mehr. Ich spüle, hänge die Wäsche auf, dann muss er sich wieder hinlegen. Er sagt, dass er in den nächsten Tagen versuchen will alleine vor die Tür zu gehen, um sich eine Zeitung zu kaufen. Ich weiß nicht, ob er in den nächsten Tagen wieder auf die Beine kommt, finde seine Idee aber grundsätzlich gut.

16. September 2015
Den Plan, dass mein Vater die Wohnung nochmal alleine verlässt, sei es auch nur, um eine Zeitung zu kaufen, können wir wohl beerdigen. Mein Vater liegt auch heute fast nur völlig erledigt im Bett. Gegen Mittag hat er sich vier Pellkartoffeln gekocht, von denen er nur zwei gegessen hat. Nachdem auch schon das Frühstück ausgefallen ist, ist es wenig verwunderlich, dass er täglich kraftloser wird. Ihm schmeckt nichts mehr und deshalb will er nicht essen. Er schafft er kaum aus dem Bett aufzustehen. Und nach ein paar Minuten, die er mit mir in der Küche sitzt, legt er sich wieder hin. Er sagt, dass er sich fühlt als hätte er getrunken. Sofort vermute ich, dass er wieder Broamzepam eingenommen hat, was er verneint. Sollte es wirklich so sein, dann ist sein Abbau erschreckend. Selbst zum reden ist er heute zu schwach. Ich kann mir nun absolut nicht mehr vorstellen, dass er noch genug Zeit hat, um eine Weile ihm Hospiz zu leben. Es wird hier oder im Krankenhaus enden. Und ich fühle mich damit schon jetzt vollkommen überfordert.

Während er im Bett liegt, spüle ich. Dann zähle ich nach, wie viele Bromazepam er inzwischen genommen hat. Auf diese Idee bin ich natürlich nicht selbst gekommen, Agnes brachte mich auf die Idee. Es fehlen 4,5 Tabletten. Nach meiner Berechnung dürften nur 3,5 Tabletten fehlen. Maximal 4. Ich vermute daher, dass er letzte Nacht wieder zugeschlagen hat. Auch wenn ich es nicht gut finde, würde es mir besser gefallen, wenn er deshalb den ganzen Tag über so müde ist und nicht, weil er so stark abgebaut hat.

17. September 2015
Wieder über sechs Liter Wasser, die abgelassen werden. Doch diese Erleichterung, der Verbesserung seines Zustands, ist nicht zu spüren. Mein Vater liegt kraftlos im Bett, scheitert daran einen Apfel zu essen und möchte nur schlafen. Er leidet nur noch. Da ist keine Zuversicht mehr zu erkennen. Es ist die letzte Phase vor der Phase in der er nur noch vor sich hinvegetieren wird, bevor es zu Ende geht.
Zum schlafen hat er Rohypnol verschrieben bekommen. Das wird ihn sicher in einen Dämmerzustand versetzen, den er nicht mehr verlassen wird. Vielleicht macht es alles für ihn einfacher. Zumindest hoffe ich das.

18. September 2015
Eigentlich müssten wir jetzt zur Reha, doch mein Vater sitzt völlig erschöpft in der Küche, hat gerade eine Kleinigkeit gesessen und sagt, dass er die Reha abgesagt hat. Er will nicht mehr und es fehlt ihm offensichtlich auch die Kraft. Er sagt, dass ich in zwei Stunden wiederkommen soll, um mit ihm einzukaufen. Jetzt möchte er sich hinlegen. Er steht eh nur noch selten auf und klagt über Schmerzen, die ihn die ganze Nacht belastet haben und meint, diese kommen von der Einstichstelle, dort, wo das Wasser abgelassen wurde. Er vermutet, dass er falsch gestochen wurde. Ich fürchte, dass sich da irgendwas entwickelt und er nicht mehr punktiert werden kann. Was das bedeutet, mag ich mir nicht vorstellen. Das Hospiz ist nur noch eine Illusion.

Als ich später wieder komme, liegt er noch im Bett und deutet an, dass er mich nicht zum einkaufen und zum Friedhof begleiten kann. Ich hatte mir das schon gedacht.
Nachdem ich alles erledigt habe, besuche ich ihn erneut. Noch immer liegt er im Bett und klagt über Unwohlsein. Es nimmt kein Ende.

19. September 2015
Zum Mittagessen schafft mein Vater nicht einmal eine halbe 5-Minuten-Terrine. Von den hochkalorischen Drinks muss er sich übergeben, weshalb er davon keine mehr trinken wird. Das Rohypnol wirkt nicht, wie er sagt. Ihm ist übel und er ist total schlapp. Nichts deutet auf eine mögliche Verbessrung hin. Ich sage ihm, dass er mehr trinken muss, worauf er erwidert, dass es sofort alles wieder raus kommt, weshalb er nicht mag.

Am Nachmittag mache ich ihm eine Tasse Suppe, die er wenigstens austrinkt. Er nimmt keine Wassertabletten mehr, weil seine Füße nicht mehr geschwollen sind. Unter anderen Umständen würde ich das als positives Zeichen sehen. Nun nehme ich es lediglich zu Kenntnis. Nach ein paar Minuten muss er zurück ins Bett. Ich ermahne ihn, mehr zu trinken. Er nimmt es zur Kenntnis.

20. September 2015
Als ich meinen Vater gegen 15.00 Uhr besuche, hat er ein hartgekochtes Ei gegessen. Das zweite hat er nicht mehr geschafft, will es aber gleich nochmal versuchen. Wir gucken Formel 1. Gegen 15.30 Uhr isst er das zweite Ei, setzt sich noch kurz in den Sessel und klagt dann über Übelkeit. Essen fällt von Tag zu Tag schwerer. Nach ein paar Minuten muss er sich hinlegen. Eine halbe Stunde später möchte er baden. Ich helfe ihm, seine Schulterstütze abzunehmen. Er ist unfassbar dünn. Die Knochen schauen spitz hervor, seine Körperhaltung ist die eines gebrochenen Mannes. Es ist unfassbar, wie er immer weiter abbaut. Langsam geht er ins Bad.
Nach einer Weile ruft er mir zu, dass er keine 64kg mehr wiegt. Wenn man jetzt noch bedenkt, dass er sicher wieder einige Liter Wasser im Bauchraum hat, dann muss man davon ausgehen, dass er keine 60kg mehr wiegt. Er wird qualvoll sterben, daran kann es keinen Zweifel mehr geben. Ich sage ihm, dass er versuchen muss, mehr zu essen. Er antwortet, dass es nicht mehr geht. Resignation klingt aus seiner Stimme. Er kann nicht mehr. Er fragt, ob er sich beeilen soll, damit ich nicht mehr so lange warten muss. Ich antworte, dass er sich schön Zeit lassen und das Bad genießen soll. Ich spüle in Ruhe und räume ein paar Sachen weg.
Als er aus der Wanne ist, fühlt er sich völlig erschöpft und will sich hinlegen. Seine Schulterstütze will er nicht mehr tragen. Mühsam zieht er sich ein Unterhemd und ein Hemd an, dann liegt er auch schon im Bett. Er sagt, dass das schön ist. Liegen ist alles, was noch schön ist. Das Rohypnol, so sagt er, hat keine Wirkung und er kann weiter erst am frühen Morgen schlafen. Ich verlasse die Wohnung.

Wie lange er noch alleine leben kann, weiß ich nicht. Lange wird es kaum noch möglich sein. Entweder muss ich dann zu ihm ziehen oder wir müssen eine andere Lösung finden. Vermutlich rächt es sich, dass wir weder eine Pflegestufe beantragt, noch ein anderes Hospiz besichtigt haben. Bis zum Ende werde ich hautnah sein Sterben erleben müssen. Und ich kann nichts tun, als dabei zuzusehen wie er leidet und verendet. Was für ein beschissenes Leben. Grausam.

22. September 2015
Der Palliativarzt besucht meinen Vater. Er hatte Urlaub und kommt daher erst jetzt. Den Anfang des Gespräches bekomme ich nicht mit, weil ich erst etwas später ankomme. Der Arzt sagt, dass mein Vater zu wenig von den Schmerzmitteln nimmt. Die doppelte Menge ist durchaus möglich. Die Kombination Novalminsulfon und Tramadol bezeichnet er als erste Stufe der Schmerztherapie. In der zweiten Stufe wird das schwächere der beiden Mittel gegen ein stärkeres getauscht. In der dritten und letzten Stufe wird dann das davon schwächere gegen Morphin getauscht. Jetzt geht es erst einmal darum, die richtige Dosierung herauszufinden. Gegen die Übelkeit verschreibt er MCP-Tabletten. Und mein Vater soll auf jeden Fall wieder die Entwässerungstabletten nehmen. Dieses eigenmächtige Absetzen ist nicht so angesagt. Die neue Dosierung sieht so aus. Drei- bis viermal täglich je zwei Novalminsulfon. Dreimal täglich eine Tramadol 100. Dreimal täglich die MCP-Tabletten und einmal am Tag eine Entwässerungstablette. Das wird ein paar Tage beobachtet und wenn es meinem Vater dann nicht besser geht, wird nochmal umgestellt. Hoffentlich bringt das eine Verbesserung. Außerdem soll er ruhig anderthalb Rohypnol nehmen.

Nachdem der Arzt gegangen ist, muss mein Vater sich hinlegen. Es ist etwa 14.30 Uhr und er hat noch nichts gegessen. Erst gegen 16.00 Uhr isst er die Hälfte einer kleinen Suppe, dann legt er sich wieder hin. Gegen 18.00 Uhr isst er noch ein Knäckebrot, bevor er sich wieder hinlegen muss. Es ist schrecklich, wie schwach er mittlerweile ist.

23. September 2015
Fünf Liter Wasser werden heute abgelassen. Es ist erschreckend, wie schnell sich das Wasser neu bildet. Da mein Vater völlig schlapp ist und über Schmerzen klagt, ruft der Pfleger beim Palliativarzt an. Kaum ist mein Vater wieder zu Hause ist auch schon der Palliativarzt da. Er ändert die Medikation. Statt Tramadol bekommt mein Vater nun Morphin 10mg. Diese soll er morgen und abends nehmen. Die höhere Dosis Rohypnol brachte in der letzten Nacht keinen Schlaf, weshalb mein Vater in Zukunft darauf verzichten wird. Das Morphin soll ja auch müde machen. Abwarten, ob es was bringt. Ich fahre zur Apotheke, um das Morphin zu besorgen. Als ich zurück bin, nimmt mein Vater eine Tablette und ich hoffe, dass es ihm hilft und er bald keine Schmerzen mehr hat.

24. September 2015
Durch die Einnahme des Morphins sind die Schmerzen weniger geworden. Dennoch kann mein Vater nicht richtig essen. Und so hat er bis zum später Nachmittag nicht mehr als ein gekochtes Ei gegessen. Immerhin möchte er, dass ich ihm Nüsse kaufe, die er dann zwischendurch essen will. Es ist ja nicht so, dass er es nicht versucht. Es ist ihm nur kaum möglich. Als ich die Nüsse geholt habe, isst er ein paar Walnüsse. Seine Stimme klingt weniger geschwächt als in den letzten Tagen, dennoch liegt mein Vater überwiegend im Bett. Woher soll er auch die Kraft haben aufzustehen? Da er sich ausruhen will, alleine sein will, oder nur nicht will, dass ich seinetwegen bleibe, schickt er mich quasi nach ein paar Minuten nach Hause. Helfen kann ich ihm eh nicht. Das ist alles sehr deprimierend.

25. September 2015
Weil mich eine Erkältung heimsucht, will ich nur kurz bei meinem Vater nach dem Rechtens sehen, um ihn nicht anzustecken. Als ich gegen 14.00 Uhr bei ihm ankomme, sitzt er erschöpft auf dem Bett. Er hat das Bad geputzt und gewischt und ist nun ziemlich K.O. Weil er auch noch die Küche wischen will, mache ich das schnell, bevor er sich zu viel zumutet. Anschließend spüle ich. Da er nur noch wenige Flaschen Wasser da hat, beschließe ich, noch einen Kasten Wasser zu holen, weil das Wochenende ansteht. Bei der Gelegenheit kann ich auch gleich zum Friedhof gehen, wie es Freitag üblich ist. Wir reden noch kurz, bevor ich mich auf den Weg machen will. Wir reden kurz darüber, dass es morgen zwei Wochen her ist, als wir uns das Hospiz angesehen haben. Ich frage, ob ich mal nachfragen soll, wie es denn aussieht mit einem Platz. Er erwidert, dass man sich in zwei bis drei Wochen melden wollte und noch eine Woche Zeit ist. Dann sagt er noch, dass er vorhin den Palliativarzt angerufen hat, um ihm mitzuteilen, dass es ihm mit den Tabletten besser geht. Dieser sagte, dass es sicher nur vorübergehend so sein wird und mein Vater schon bald die doppelte Dosis des Morphins brauchen wird. Jetzt mag ich den Palliativarzt nicht mehr.

Nachdem ich Wasser gekauft und im Blumenladen die üblichen zwei Rosen besorgt habe, gehe ich zum Friedhof. Es ist bereits der dritte Freitag an dem mein Vater nicht dabei ist. Abgesehen von Arztbesuchen war er seit der Zeit auch nicht mehr wirklich raus aus der Wohnung.

Kaum habe ich den Kasten Wasser hoch in die Wohnung getragen, sagt mein Vater, dass er nicht mehr so viel Wasser braucht. Ich verstehe nicht, worauf er hinaus will und denke, dass er davon ausgeht, bald zu sterben. Dann sagt er, dass gerade jemand vom Hospiz angerufen hat, um zu fragen, ob er am Sonntag oder Montag einziehen möchte. Er möchte und meldet sich noch, ob er lieber Sonntag oder Montag umzieht. Der vermutlich letzte Umzug seines Lebens. Auf der einen Seite ist es das, was ich ihm gewünscht habe, weil er so in einem einigermaßen erträglichen Zustand umzieht. Andererseits ist das dennoch ein weiterer deutlicher Schritt Richtung Lebensende, der durch den Umzug quasi untermauert wird. Mein Vater sitzt auf dem Bett und wirkt nachdenklich. Mein Plan ihn mit meinem Schnupfen möglichst wenig zu belästigen, ist längst nicht mehr umsetzbar. Paps möchte, dass ich sein Geld von der Bank abhole. Danach möchte er einige Dinge klären. Also fahre ich zur Bank, hole sein Geld und als ich zurück bin, reden wir über einige Dinge, die zu machen sind. Ich muss Versicherungen und die Wohnung kündigen. Seine Kleidung, die er nicht mitnimmt, kann ich vernichten oder entsorgen. Ich weiß gar nicht, was genau er dazu sagt. Was mit der Wohnungseinrichtung geschieht ist im egal. Er rät zu einem Entrümpelungsunternehmen, ich tendiere dazu die Sachen zu verkaufen und Teile zu verschenken. So hat vielleicht jemand was davon und ich spare mir Arbeit und Geld. Er ist einverstanden. Solche Tage reißen mich immer aus meiner Traumwelt heraus. Gerne würde ich es aussitzen und warten bis alles wieder gut ist, aber das wird es nicht. Paps wird sterben, das ist Fakt. Wie gewohnt, gehen wir sachlich mit der nun eingetretenen Situation um. So war es immer unsere Art. Die Dinge nehmen, wie sie sind. Tapfer sein. Realistisch sein. Zumindest, wenn wir zusammen sind. Wie er später, wenn er ganz alleine in der Wohnung ist, damit umgeht, weiß ich nicht. Ich frage ihn, ob er seine Orchidee mitnehmen will. Er sagt, dass es keinen Sinn macht, weil die erst im Februar wieder blüht. Ich sage ihm, dass er dann so lange warten muss. Das findet er witzig und ich wiederhole, dass er das tun muss. Ist er der Blume schuldig. Sie war ein Geschenk von Agnes an meine Mutter und hat einen Wert, der sich nicht erklären lässt. Es ist die einzige Blume in der Wohnung.

Mein Vater möchte schlafen und sagt, dass ich gehen soll. Ich antworte, dass er mich jetzt noch wegschicken kann, ich aber, wenn er im Hospiz ist, von 09.20 Uhr bis 19.10 Uhr da sein werde und ihn nerve. Ein Anflug von Humor in einer humorlosen Situation. Ich ziehe die Tür hinter mir zu. Paps ruht sich aus.

26. September 2015
Gegen 15.00 Uhr bin ich bei Paps. Wir sortieren Papiere aus. Selbst das strengt ihn sehr an. Essen und trinken, so sagt er, fühlt sich so an als würde er ersticken. Nur kleine Schlückchen Wasser sind möglich. Essen ist eine Qual. Dazu kommt, dass es ihm, sobald er etwas gegessen hat, schlecht geht und er nicht weiß, was er tun soll. Ich frage ihn, ob er künstlich ernährt werden möchte. Er lehnt ab. So steht es auch in der Patientenverfügung. Er wird vermutlich verhungern. Was für eine grausame Zukunft.
Mir fällt es schwer mir vorzustellen, wie es sein muss zu wissen, dass man in zwei Tagen auszieht und fast alles, was man besitzt, zurücklassen zu müssen. So erscheint alles, was man sich im Laufe des Lebens angeschafft oder erschaffen hat, einmal mehr wie ein schlechter Witz. Man nimmt nichts mit, weil man nichts mehr gebrauchen kann. Ich weiß auch nicht, was ich meinem Vater sagen soll, so stehe ich meistens, wenn nichts mehr zu tun ist und er im Bett liegt, einfach so da und gucke mal ihn an, mal die Wohnung und manchmal starre ich nur so vor mich hin. Müsste ich nicht irgendwas sagen? Irgendwas aufbauendes? Dass er ein guter Vater war. Dass ich viel von ihm gelernt habe? Ich weiß es nicht. Natürlich macht es mich traurig und er tut mir leid, aber ich weiß einfach nichts zu sagen. Es ist unbegreiflich und ergreifend auf der einen Seite, auf der anderen gehen mein Vater und ich mit der Situation sachlich und nüchtern um. Wie immer sagt er irgendwann, dass ich abhauen soll. Sätze, die immer wieder fallen: „Geh nach Hause.“ „Hau ab. Du hast zu Hause noch zu tun.“ Ich habe nichts zu tun, was irgendwie wichtig wäre. Ich könnte meine Medizin gegen die Erkältung nehmen. Ich kann aber auch einfach hier bleiben. Viele Treffen dieser Art wird es nicht geben. Und wie lange er noch durchhält ist auch fraglich. Und doch bleibt irgendwie alles abgeklärt. Wahrscheinlich gehen wir beide sehr vernünftig mit der Situation um. Wir haben es eh nicht in der Hand. Paps Spiel endet bald, ich habe möglicherweise noch ein paar Jahre vor mir. Resignation auf beiden Seiten. Der Tag des Umzugs rückt näher.

27. September 2015
Der letzte Tag, den mein Vater in seiner Wohnung verbringen wird. Am Nachmittag legen wir die Sachen, die er morgen mitnehmen muss, raus. Am Ende passt alles in eine Sporttasche. Das bleibt einem, wenn man seinem Lebensende entgegen geht.
Noch einmal möchte mein Vater baden. Vor dem Baden stellt er sich auf die Waage und ist entsetzt. Er wiegt nun unter 60 Kilo. Der Gewichtsverlust geht rasend schnell. Aber wie soll es auch anders sein, wenn mein Vater kaum in der Lage ist zu essen oder zu trinken, weil er immer das Gefühl hat, dabei zu ersticken? Er sagt, dass er versuchen will nun täglich drei dieser hochkalorischen Drinks zu trinken.

Nachdem er gebadet hat, setzt er sich in seinen Sessel und trinkt die zweite Flasche der hochkalorischen Drinks. Somit hat er heute 600 Kilokalorien zu sich genommen. Plus einen halben Apfel. Am Abend will er die dritte Flasche probieren. Ich hoffe, es schafft es. Es ist irgendwie surreal, dass wir hier zum letzten Mal zusammen sitzen. Ab morgen steht diese Wohnung leer und ich werde nach und nach versuchen, alle Möbel loszuwerden. Ich wünsche natürlich, dass mein Vater noch lange im Hospiz leben kann, bevor es ihm noch schlechter geht. Aber darauf nimmt der Krebs sicher keine Rücksicht. Das Leben ist eine komische Sache und vermutlich wäre es vernünftiger, wenn man aufhören würde, es so ernst zu nehmen. Denn am Ende endet es sowieso. Und wenn es richtig mies läuft, dann endet es auf so eine Art und Weise wie bei meinem Vater oder meiner Mutter. Kein schöner Gedanke.

28. September 2015
Heute also ist es soweit. Paps zieht um. Als ich bei ihm ankomme, sitzt er im Bett und wirkt nachdenklich. Heute endet ein bedeutender Teil seines Lebens. Stattdessen zieht er in ein Zimmer, welches seine letzte Station sein wird. Seit er gestern eine Banane gegessen hat, ist ihm übel und er konnte nichts weiter zu sich nehmen. Das ist doch alles Mist. Insgesamt wirkt mein Vater angespannt, vielleicht unzufrieden. Und so meckert er mich irgendwann an, weil ich angeblich auf eine seiner Sätze, falsch reagiert habe. „Ach!!!“ Immer nur, Ach!“ – „Ich habe nicht, Ach, gesagt.“ Das mag er nicht glauben, dabei sagte ich nur ja zu ihm. Er ist gereizt, was vermutlich an der Situation liegt. Ich werde mich heute sicher nicht streiten und er beruhigt sich bald wieder. Wir packen seine Sachen zusammen und machen uns auf den Weg. Er ist so schwach, dass er kaum stehen kann und sagt, dass er sicher bald hinfallen wird. Das fürchte ich auch. Als er im Auto sitzt, geht es ihm besser und ich sage ihm, dass ich ihn jederzeit für eine kleine Spritztour abholen kann.

Im Hospiz empfängt uns Schwester irgendwer. Namen merken kann ich mir so gar nicht. Paps bekommt Zimmer 9, was ich nicht verstehe, weil es ja nur acht Plätze gibt. Der Sache muss ich irgendwann mal auf den Grund gehen. Es folgt eine Menge Papierkram. Paps Tabletten werden eingesammelt und er bekommt sie fortan zu festen Zeiten. Statt des Novalminsulfon, was er, wie er sagt, nicht mehr verträgt, gibt es nun morgens und abends je zwei Morphin. Vielleicht ist es gut für ihn, wenn er die Tabletten zu festen Zeiten bekommt. Essen, so sagt er, kann er seit zehn Tagen nicht, weshalb er es nur noch mit den hochkalorischen Drinks versucht. Aber nur Vanille und Schoko. Alle anderen mag er nicht. Schoko und Vanille sind aber fast alle. Zum Glück gibt es im Hospiz noch eine Menge dieser Drinks mit Schokogeschmack. Die Schwester sagt, dass mein Vater zum Mittag mal Püree versuchen soll. Man kann ihm alles ganz klein machen, wenn es hilft. Er erklärt sich einverstanden, es zu probieren, weil er, dass merkt man deutlich, gerne wieder essen möchte. Vielleicht bietet sich ihm diese Möglichkeit hier ja. Wäre toll. Eine zweite Schwester stellt sich vor. Der Name entfällt mir unverzüglich wieder.

Gegen 11.00 Uhr machen wir beide einen kleinen Rundgang durchs Hospiz. Im Flur nähen drei Frauen irgendwas. Sie sagen, dass sie sich freuen, wenn demnächst mein Vater mit ihnen näht. Ich wette, er freut sich auch. Nach dem Rundgang legt sich Paps ins Bett, dreht sich zur Seite und will sich ausruhen. Ich muss noch ein paar Sachen holen und komme später wieder.

Am Nachmittag liest mein Vater die Bild. Mittags hat er tatsächlich etwas Püree mit Soße essen können. Er wirkt gut gelaunt und sagt, dass ihm das Zimmer gefällt. Es hat alles, was man braucht. Bett, Fernseher, Kühlschrank, Bad. Vermutlich braucht man auch nicht mehr zum Leben. Dieser ganze Konsum, immer mehr besitzen zu wollen, ist vermutlich die schlimmste Krankheit der Menschheit.

02. Oktober 2015
Mein Vater möchte, dass ich ihn nur jeden zweiten Tag besuche. Am Telefon klingt er immer so gut, dass es einfach nicht zu dem passt, was ich sehe, wenn ich ihn besuche. Vorgestern saß er völlig geschwächt in seinem Stuhl, klein, irgendwie geschrumpft. Und seine Erfolge beim Essen, die mich natürlich freuen, bekommen einen faden Beigeschmack, weil er stattdessen auf die hochkalorischen Drinks verzichtet.

Heute erzählt er stolz, dass er gestern ein Stück Torte gegessen hat und wirkt besser als vor zwei Tagen. Allerdings hört er immer schlechter, wie es scheint. Außerdem hat er ein neues Problem. Nachdem er einige Tage gar nicht zur Toilette konnte, hat es heute geklappt. Allerdings hat er dabei so stark geblutet und es wollte einfach nicht aufhören. Er hat dem Arzt, der heute Mittag da war, davon erzählt. Mein Vater vermutete, dass es sich um aufgeplatzte Hämorrhoiden handelte. Während der Untersuchung stellte der Arzt fest, dass es keine Hämorrhoiden sind, die da geblutet haben, sondern der Darm irgendwie rausgedrückt wurde und da etwas geplatzt ist. Er will sich überlegen, was man da tun kann. Wichtig ist, dass der Stuhl weder zu hart, noch zu weich ist. Als ob man das so einfach beeinflussen kann. Und wieder eine neue Komplikation, die meinem Vater das Leben schwerer macht. Dazu kommt, dass ich die Augen meines Vaters irgendwie auffällig finde. Glänzend, mit einem Hauch gelb. Das spricht für ein Problem mit der Leber. Es kommt mir so vor als würde der Tumor mit einer Mordsgeschwindigkeit alle Organe zerstören, die er zerstören kann. Dazu kommen die Schluckbeschwerden. Mein Vater bekommt kaum einen Schluck Wasser getrunken. Die hochkalorischen Drinks, die er nun doch wieder trinken wollte, sind überhaupt nicht möglich, weshalb der Arzt überlegt, meinem Vater einen Zugang zu legen, damit er wenigstens genug Flüssigkeit bekommt. Zeitweise wirkt mein Vater sehr fahrig. Selbst seinen CD-Player, den ich ihm mitgebracht habe, kann er nicht mehr wirklich einstellen. Dies schiebe ich auf den Wassermangel. Es ist auch erschreckend, wie klein und gebrechlich mein Vater wirkt. Das ist alles unglaublich und wenn ich daran denke, wie kräftig er noch vor einem Jahr war, dann ich das eigentlich nicht möglich.

Ich glaube nicht, dass mein Vater diesen Monat schafft. Der körperliche Verfall, der Abbau, scheint dermaßen Fahrt aufgenommen zu haben, dass ein längeres Überleben fast unmöglich erscheint. Morgen möchte mein Vater zum Kaffee runter zu den anderen gehen. Ich wünsche es ihm, glaube aber nicht daran. Hatten wir, als wir uns das Hospiz angesehen haben, noch gedacht, dass wir, wenn er aufgenommen ist, ab und zu in die Stadt gehen oder wir ein wenig mit dem Auto rumfahren, so ist daran jetzt nicht mehr zu denken. Zumindest sind die Schmerzen, wie er sagt, nicht schlimm. Hier bekommt er seine Tabletten zu festen Zeiten. Zu Hause hat er völlig unkontrolliert die Tabletten genommen, wie er sagt. Fast zwei Stunden bin ich heute bei ihm. Länger als erwartet. Am Ende legt er sich hin, fordert mich quasi auf zu gehen, um etwas ausruhen zu können. Bis Sonntag.

03. Oktober 2015
Gegen 09.00 Uhr ruft mein Vater mich an und fragt, was ich heute vorhabe. Das fragt er öfter, doch dieses Mal klingt er so, als hätte er etwas vor, weshalb ich ihm sage, dass ich nichts vorhabe und frage, ob er Spazieren gehen will. Er antwortet, dass wir eine Runde Spazierenfahren können und so einigen wir uns darauf, dass ich ihn um 14.00 Uhr abhole.
Um 14.00 Uhr sitzt er auf seinem Bett. Auf dem Tisch steht das Mittagessen. Es ist unschwer zu erkennen, dass er kaum etwas davon angerührt hat. Nach einer Weile zieht mein Vater sich an und wir verlassen das Zimmer. Bis zum Fahrstuhl schaffen wir es nicht, weil mein Vater sich setzen muss. Dennoch hält er an seine Plan fest, dass wir eine Ausfahrt machen. Nach kurzer Pause geht es weiter zum Fahrstuhl und zum Auto. Die wenigen Meter kosten ihn viel Kraft. Ich hatte nach den letzten Tagen nicht mehr damit gerechnet, dass er je wieder sein Zimmer verlassen wird. Mittlerweile sind nicht nur die Augen meines Vaters gelb. Irgendwie ist er komplett gelb. Der Arzt sagte ihm, dass es von der Leber kommt. Was genau der Arzt sagte und wie schlimm es ist, sagt Paps nicht. Vielleicht machen wir deshalb diesen Ausflug.
Wir fahren nach Brambauer zu einem Bekannten. Paps steigt aus, kommt aber nur wenige Meter weit, dann muss ich ihn zurück ins Auto bringen. Paps will nur noch sitzen. Der Bekannte, leider wenig intelligent, kommt zum Auto und sagt meinem Vater, dass er frische Luft braucht und doch in den Garten kommen soll. Der Typ kapiert absolut nicht, dass mein Vater krank ist. Mein Vater wird wütend und lauter und sagt, dass er schwer krank ist und nicht gehen kann. Ich glaube nicht, dass es klug war ausgerechnet diesen Bekannten zu besuchen. Nach ein paar Minuten fahren wir wieder.
Ich hole etwas aus Paps Wohnung. Als wir wieder fahren, sehen wir einen Nachbarn und Paps bittet mich, kurz anzuhalten. Es ist fast so als würde er sich verabschieden wollen von dem Nachbarn, den er sehr mag und später als besten Nachbarn des Hauses bezeichnet. Dem Nachbarn fehlen die Worte und er ist fassungslos wegen des Zustands meines Vaters. Wir fahren tanken, drehen eine Runde durch Brambauer, dann sagt mein Vater, dass er zurück möchte. Vom Parkplatz bis ins Zimmer schafft er es nicht, ist unfassbar wackelig, will sich aber nicht von mir helfen lassen. Erst als er sich an einem Schild festhalten muss, soll ich ihm einen Rollstuhl holen. Meinem Vater ist das unglaublich unangenehm, dass er im Rollstuhl gefahren werden muss. Für mich scheint es irgendwie normal zu sein. Auch später im Zimmer, schüttelt mein Vater noch den Kopf darüber, dass er im Rollstuhl geschoben werden musste. Ich sage ihm, dass es völlig normal ist, weil er kaum isst und trinkt und das natürlich unglaublich schwächt. Er sagt, dass es vermutlich gereicht hätte, wenn wir uns unten auf die Terrasse gesetzt hätten und dass er sich morgen dahin setzen will. Ich glaube nicht, dass er es machen wird, wenn ich nicht dabei bin. Ich soll ihn morgen nicht besuchen.

05. Oktober 2015
Als mein Vater morgens anruft, sagt er mir, dass er zu schwach ist aufzustehen. Wie schwach er wirklich ist, kann ich zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnen.

Am Nachmittag rufe ich ihn an, um ihm das Ergebnis meiner Hautprobe mitzuteilen. Vorstufe zum Hautkrebs. Erleichterung, dass es noch kein weißer Hautkrebs ist. In einer Stunde werde ich ihn besuchen.

Es geht ihm schlecht. Er baut jeden Tag ein wenig mehr ab. Er hält mir seine Hand hin, damit ich ihn aus dem Bett hochziehen kann. Das hat er noch nie getan. Gestern ist er wieder gefallen. Aufs Steißbein. Einfach so. Ich will immer noch daran glauben, dass er noch einmal die Kurve kriegt. Ein letztes Hoch. Doch damit ist nicht wirklich zu rechnen. Er ist weniger gelb als am Samstag. Doch hat das noch irgendeine Aussagekraft? Nachher kommt der Arzt. Ob er ihm helfen kann?
Mein Vater glaubt, sich übergeben zu müssen. Er will den Rollstuhl und zum Waschbecken. Kaum kommen wir am Bad an, bremst er den Stuhl ab. Ich weiß nicht, ob er es bewusst macht, oder ob seine Füße einfach von den Halterungen fallen. Er will zurück. Die Schwester ist mittlerweile auch im Zimmer. Ich fahre rückwärts durch den Flur, seine Beine hängen auf dem Boden und bremsen die Fahrt. Als wir neben dem Bett stehen, bekommt er plötzlich Atemprobleme. Oder eine Panikattacke. So etwas passt gar nicht zu ihm. Ich stehe hinter seinem Rollstuhl, versuche seine Schultern zu massieren, seine Arme zu streicheln und ihn zu beruhigen. Nach einer Weile ist er wieder ruhig, will ins Bett und wirkt von dem Schreck erholt. Er kann sich wirklich gut präsentieren. Die Schwester geht, wir reden über dies und das.

Wenige Minuten später wird ihm schlecht und ich reiche ihm eine Plastiktüte, die ich zufällig in den Händen halte. Er würgt, ich gehe vor die Tür. Ich muss mich sonst auch übergeben. Er ruft nach mir, ich gehe halb ins Zimmer, sehe, dass etwas auf dem Boden gelandet ist, sage ihm, dass ich die Schwester hole und bin weg. Ich kann das nicht. Die Schwester ist gerade am Essen. Es tut mir Leid, dass ich sie holen muss. Sie macht alles sauber und fragt, wann mein Vater zuletzt gegessen hat. Vorgestern. Und das, was da rauskam, war das essen von vorgestern. Später wird sie mir sagen, dass sie nicht glaubt, dass es noch lange dauert. Zu stark war der Verfall in den letzten drei Tagen. Und dieses Erbrechen ist ein Zeichen. Er wird sich noch sehr oft übergeben. Das ist schrecklich und ich darf das nicht an mich ran lassen. Außerdem sagt sie mir, dass mein Vater am Vormittag darum gebeten hat, eine Spritze zu bekommen, damit es endlich aufhört. Es muss ihm unfassbar schlecht gehen. In Deutschland ist das verboten, sagt die Schwester.

Paps geht es nun etwas besser. Wir warten auf den Arzt und Paps ruft ein bekanntes Ehepaar an. Der letzte Abschied, der noch gefehlt hat. Mit anderen Menschen möchte er nicht reden. Die Schwester schaut nach ihm. Am Vormittag, so sagt sie, wurde eine Vereinbarung getroffen. Mein Vater möchte nachts endlich schlafen und wird deshalb am Abend an einen Tropf angeschlossen. So wird er zehn bis zwölf Stunden schlafen. Endlich schlafen. Leider ist es dazu notwendig, dass man ihm einen Blasenkatheter legt. Sogar damit ist er einverstanden. Ich bin mit allem einverstanden, was ihm Erleichterung verschaffen soll.
Paps erzählt, dass er sich nicht mehr alleine waschen kann. So wie als Kind. Man kommt zur Welt und kann nichts alleine machen, und wenn es schlecht läuft, endet es genauso. Die Schwester sagt, dass nur das ältere Personal ihn waschen wird. Ich denke, dass es dennoch eine absolut schreckliche Situation für meinen Vater ist. Ich kann verstehen, dass er einfach nicht mehr mag.

Nachdem die Schwester gegangen ist, gehen wir noch einmal die Dinge durch, die geregelt werden müssen. Auto, Versicherungen, Wohnung. Die Versicherungen sind gekündigt. Die Wohnung ebenso. Es scheint als wäre alles geklärt, was ihm auf der Seele lag. Ich habe keinen Krebs und seine Beerdigung soll ohne Gäste, ohne Rede und völlig anonym stattfinden.

Der Arzt kommt, hört den Bauch ab, sagt, dass er die Schmerzmittel erhöht und mein Vater in der Nacht schlafen wird. Er wirkt ganz entspannt, fast beiläufig. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Morgen will er wiederkommen.

Paps wird müde und irgendwann muss ich gehen. Es ist komisch, aber zum ersten Mal habe ich das Bedürfnis ihn zum Abschied zu berühren. Schulter klopfen. Haare anfassen. Irgendwas. Ich entscheide mich spontan, ihn am Fuß zu kitzeln. Er lacht, kichert, irgendwie ausgelassen. Noch kann ich nicht ahnen, dass dies unser letzer Moment sein wird. Diese Albernheit beendet die Beziehung zwischen Vater und Sohn. So werde ich meinen Vater in Erinnerung behalten. Irgendwie für einen kleinen Moment vergnügt, überrascht wegen meiner kleinen Geste. Ein schöner Moment.

06. Oktober 2015
04.18 Uhr. Als ich vom Klingeln des Mobiltelefons aufwache, weiß ich, was es zu bedeuten hat. Paps ist für immer eingeschlafen. Tot. Erlöst. Ich hätte es wissen müssen. Vielleicht fühlte ich es auch, wollte es aber doch nicht wahr haben, nicht akzeptieren. Loslassen ist schwer. Zumindest für mich. Nun bin ich total aufgewühlt, mir ist schlecht. Dabei sollte das nicht so sein. Es ist nur passiert, was unausweichlich war. Ich frage mich, wie schon vor dem Einschlafen, ob ich meinen Vater zum Abschied gestern hätte umarmen sollen. Dabei haben wir das nie getan. Ich habe ihn zum Abschied am Fuß gekitzelt. Er wirkte vergnügt. Fast wie ein kleiner Junge. Einer der wenigen ausgelassen, verspielten, unverkrampften Momente zwischen uns. Losgelöst von der Vater-Sohn Beziehung, oder eine andere Vater-Sohn Beziehung, wie sie uns bekannt war.
Eigentlich fing der Abschied, dieser konkrete Abschied am Samstag an. Der letzte Ausflug. Als wollte mein Vater sich auf seine Art verabschieden. Dann gestern der letzte Anruf bei Bekannten. Ich denke, er wollte nicht mehr. Und ich sollte dankbar sein, dass sein Leiden, so nicht weiter geht. Und doch bleibt da dieses Lücke, waren wir doch seit dem Tag als meine Mutter umfiel, seit dem 07. Juni 2013 eine Einheit geworden, wie ich es nie für möglich gehalten hatte. Zwei unfassbar verschiedene Menschen, so dachte ich jedenfalls, die sich doch, wie ich feststellen musste, auch sehr ähnlich sind. Viele Eigenarten, die wir teilten. Ja, ich habe ihn oft auch gehasst, aber zuletzt hat sich das alles relativiert. Die Wut war weg, wir lernten uns kennen und blieben uns vermutlich in manchen Teilen fremd. Dennoch möchte ich ihn so in Erinnerung behalten, diesen gutmütigen und vor allem tapferen Menschen, als der er sich zuletzt präsentierte. Sein Leben war nach dem 07. Juli 2013 leider nicht mehr so, wie ich es uns, und vor allem ihm, gewünscht habe. Er war bis dahin zum Glück von Krankheiten verschont geblieben. Durch diese Zeit habe ich vielleicht einiges gelernt, aber ich habe auch, was wenig verwunderlich ist, bestätigt bekommen, dass das Leben unfassbar grausam sein kann. Gerne würde ich dennoch lernen, die schönen Momente in Zukunft mehr zu genießen. Loszulassen. Frei zu sein. Das Leben spüren und fühlen in dieser schönen Art, die es auch gibt.

Oft hat mein Vater mir aus seiner Jugend erzählt, oft wiederholten sich die Geschichten und dennoch habe ich viel zu oft nicht wirklich zugehört. Und immer war da das Gefühl, wir haben noch viel Zeit. Immer schien es unmöglich, dass es nicht mehr lange so weiter geht. Mit dem Schulterbruch begann der letzte Abschnitt, die letzte Phase. Nun ist er, so hoffe ich es zumindest, erlöst. Ich hoffe, dass es nicht so ist, wie in meiner Vorstellung, dass die Qualen mit dem Tod erst beginnen. Warum mir so viele Gedanken durch den Kopf gehen? Um das Unbegreifliche begreiflich zu machen? Um mich abzulenken? Um nicht zu weinen? Weil ich mich gerade schrecklich alleine fühle? Auch beginne ich zu bereuen, dieses alleine sein, sich nur bedingt zu binden. Ich wollte nie sein, wie meine Eltern. Jetzt, wo das letzte Familienmitglied, zu dem ich immer Kontakt hatte, gestorben ist, erscheint mir meine Lebenseinstellung fraglich. Zusammen ist man vermutlich weniger allein. War ich meinem Vater zuletzt eine gute Hilfe? Konnte ich sein Leiden wenigstens manchmal erträglicher machen? Wie hat er sich gestern über seine erste Fußmassage gefreut. Mit 74 zum ersten Mal eine Fußmassage. Auch so eine Sache. Manchmal, so kommt es mir vor, verweigert man sich die einfachsten, kleinen Freuden. Ich bin so und denke, meine Eltern waren es in großen Teilen auch. Die einfachen Dinge des Lebens. Er hat sich über dieses Fußmassage gefreut. Es sollte heute eine weitere Folgen. Das wird nichts mehr. Schön, dass er das am letzten Tag noch erleben durfte. Und ich habe ihn gekitzelt.

Es hat sich eigentlich nicht geändert. Und doch scheint alles verändert. Ein Leben ist vorbei. Ein weiterer Mensch, der mich vom ersten Moment meines Lebens begleitet hat, ist gegangen. Warum starben die Menschen, die mir am nächsten standen, alle in der Nacht? Gibt es einen Todeszeitpunkt, den alle Seiten als angenehm empfinden? Die Verstorben wie auch die Überlebenden? Vermutlich nicht.

04.58 Uhr. Plötzlich geht das Licht im Schlafzimmer aus. Das ist gruselig. Der Laptop, an dem ich sitze und schreibe, bleibt an. Ich denke sofort an ein Zeichen meines Vaters. Mich gruselt es, ein Schauer läuft mir über den Rücken. Ich gehe rasch ins Wohnzimmer, dort funktioniert das Licht. Wie gerne wäre ich jetzt nicht alleine hier. Zurück im Schlafzimmer schalte ich die beiden kleinen Lampen an. Ich friere, gehe zurück ins Wohnzimmer und sage „Mach nicht sowas, Paps. Mach das nicht mit mir.“ Irrational, aber ich bilde mir ein, dass Paps einen Scherz gemacht hat. Oder er möchte, dass ich nicht weiter am Laptop sitze, sondern schlafe. Ist schließlich Schlafenszeit. So, wie er gestern vergnügt erschien, als ich mich zum letzten Mal von ihm verabschiedet habe. Es bleibt ihm erspart, sich ein weiteres Mal waschen zu lassen. Seine Eigenständigkeit, die er zuletzt immer mehr aufgeben musste, hat er nun zurück. Zumindest wünsche ich es ihm. Ich hoffe, dass er wieder mit Mutter vereint ist. In ihren glücklichen Tagen. So wie er es sich sicher immer gewünscht hat. Der Mann, der seit dem 07. Juni 2013 nicht eine Nacht wirklich schlafen konnte und sich den Schlaf so sehr gewünscht hat. In der ersten Nacht, in der er ihn bekommen hat, ist er für immer eingeschlafen. Ich wollte nie, dass er stirbt, aber noch weniger wollte ich, dass es leidet. Niemand sollte leiden müssen.
Es gibt so viel zu regeln in den nächsten Tagen. Viel zu tun. Ein Leben abwickeln. Und zum ersten Mal, bin ich derjenige, der es alleine tun muss. Keine Familienmitglieder an meiner Seite. Das sind Momente in denen ich mich einfach einsam fühle. Ist mein Lebensentwurf doch falsch? Brauche ich jemanden, der immer für mich da ist? Die nächste Zeit wird es zeigen.

Es ist 05.08 Uhr. Ich werde mich noch eine Weile hinlegen, versuchen vielleicht einen Moment zu schlafen. Paps danken für vieles, was ich in den letzten Monaten sehen durfte. Danken dafür, dass ich ihn auf eine Art kennenlernen durfte, die früher undenkbar schien. Wir hatten mehr Gemeinsamkeiten als ich je für möglich hielt. Und doch weiß ich kaum etwas über ihn. Und er wusste vermutlich auch nur wenig über mich. Wir konnten ohne viele Worte zusammen sein. Vielleicht haben wir auch nie gelernt, wie man anders kommuniziert. Oder es lag an mir und er konnte es sehr wohl. Es werden unfassbar viele Fragen, die im Leben nie gestellt wurden, offen bleiben. Aber es werden auch Momente in Erinnerung bleiben, die schön waren. Eine Verbindung, die leider von Krankheit geprägt war. Gerne hätte ich meinen Vater ohne Krankheit kennengelernt. Man kann nicht alles haben. Ich wünsche mir, dass ich den Leuten, die mir etwas bedeuten dies auch ab und zu zeigen kann. Sie haben es jedenfalls verdient. Und ich irgendwie auch. Mir ist kalt. Ich lege mich kurz hin.

07.39 Uhr. Ich schalte das Licht im Schlafzimmer an. Es funktioniert wieder. Ich stelle mir vor, dass mein Vater nochmal hier war, um zu sehen, ob alles okay ist. Als er der Meinung war, dass es so ist, funktionierte das Licht wieder. Das würde zu ihm passen, hat er doch in den letzten Tagen so viele Dinge geregelt und auf den Weg gebracht, dass es für mich so leicht wie möglich ist. Vielleicht brauchte er diese Ordnung, die Gewissheit, alles geregelt zu haben, um gehen zu können.

Petra fährt mich zum Hospiz. Dort fragt man mich, ob ich mit ins Zimmer will. Ich möchte Paps nicht tot sehen. Der letzte Moment gestern soll mir in Erinnerung bleiben. Nicht mein toter Vater. Solche Bilder bekomme ich niemals aus dem Kopf. Ich sage, dass alle seine Sachen da bleiben und entsorgt werden können. Abgesehen von dem Bild meiner Mutter und dem Mobiltelefon. Mein Vater hätte es sicher so gewollt.

Beerdigungsinstitut. Es ist wie damals bei meiner Mutter. Nur sitze ich nun als letzter Familienangehöriger hier, um meinen Vater bestatten zu lassen. Und wie damals bei meiner Mutter, wird es erst dann zu emotional, als es um die Texte für die Anzeige geht. Das sind Momente, in denen ich mich nur schwer beherrschen kann. Paps möchte eine anonyme Beerdigung. Ohne Kapelle, ohne Gäste, ohne Reden. Ich weiß nicht, vielleicht wollte er auch eine Bestattung ohne mich. Was das angeht, muss ich ihn enttäuschen. Den letzten Weg, den seine sterblichen Überreste machen, werde ich mitgehen. Auch wenn es ihm missfällt, denke ich, dass er es akzeptieren würde. Nachdem das erledigt ist, bleibt mir nicht mehr viel zu tun. Nur noch abwarten bis man sich bei mir wegen der Beerdigung meldet.

Die nächsten Stunden sind sehr unwirklich. Ich telefoniere lange mit Agnes, fahre mit Petra einkaufen und sehe meinen Vater immer irgendwo sitzen oder liegen. Unsere Einkäufe, unsere Spaziergänge, alles wurde zuletzt weniger, bevor es gar nicht mehr ging. Und immer wieder der Gedanke, dass er sterben wollte. Er war mehr als bereit. Nicht, weil er wollte, sondern weil der Krebs ihm keine Wahl ließ. Wir haben in den letzten zwei Jahren viel Zeit miteinander verbracht, weshalb die Lücke vermutlich größer sein wird, als ich es noch vor einigen Jahren erwartet hätte. Der ganze Tagesrhythmus, alle Abläufe, alles ist von nun an anders. Und es ist unvorstellbar, dass er nie mehr da sein wird. Unwirkliches Leben. Es ist traurig, dass ein Leben so endet, dass man sagen muss, dass der Tod eine Erlösung ist. Aber ist er wirklich erlöst, oder einfach nur tot? Zurück bleiben seine Hülle und Erinnerungen, die irgendwann verblassen werden. Ihn werde ich als tapferen Mann in Erinnerung behalten. Kontaktfreudig. Offen. Fröhlich. Das wäre vor Jahren noch völlig undenkbar gewesen.

08. Oktober 2015
Die vergangenen 28 Monate waren schlimm. Doch jetzt, wo ich alleine bin, stelle ich fest, dass sie mich dennoch am Leben hielten. Denn jetzt, wo meine Eltern tot sind, habe ich keine Aufgabe mehr. Mein Lebensinhalt scheint verloren und es geht mir schlecht. So schlecht, wie damals, als ich mich entschloss, eine Therapie zu machen. Mir ist ständig übel, meine Essstörungen sind wieder zurück und ich habe keine Lust morgens aufzustehen. Ich habe mein Leben so gegen die Wand gefahren, es aber in den letzten Monaten nicht so gespürt, weil ich eine Aufgabe hatte. Diese Aufgabe ist nun nicht mehr. Dazu steht der Herbst vor der Tür. Dunkle Monate, die zu meinem dunklen Inneren passen. Es kommt mir vor, als würde nun mein Sterben beginnen. Mein Sterben, was nur durch die Krankheiten meiner Eltern unterbrochen war. Doch das ist eine andere Geschichte, die hier nicht hergehört. Vielleicht wäre es anders, könnte ich mich auf andere Menschen richtig, uneingeschränkt einlassen, würde ich nicht immer eine Art Schutzwall um mich haben, könnte ich eine Beziehung zu einer Frau aufbauen, ohne Angst und Misstrauen. Mich fallen lassen. Aber mit jedem neuen Menschen, den man an sich ranlässt, besteht die Gefahr verletzt zu werden. Und vor allem die Gefahr, dass man verlassen wird. Verlassen weil entweder die Liebe geht oder eine Krankheit alles zerstört. Könnte ich aus meiner Haut, könnte ich mit Agnes leben, wie es Menschen ohne Mauern tun, dann hätte mein Leben sicher anders verlaufen können. Besser. Doch während der Krankheit habe ich mich auch immer mehr nur um mich und meinen Vater gedreht, der Tod war präsent und ich habe die Beziehung nicht gefüttert. Ich habe resigniert, mich gefürchtet, mich in mir verkrochen. Nicht absichtlich, nicht einmaß wirklich bewusst, aber doch habe ich mein Leben um die Krankheit gebaut. Vielleicht habe ich Agnes einfach nicht angemessen involviert. Selbstschutz, um nie mehr so leiden zu müssen. Vergangenheit und Zukunft nicht verschmelzen lassen. Wirre Gedanken, die zu nichts führen.

Es ist weiter unfassbar, dass mein Vater nicht mehr lebt. Ich sehe ihn immer wieder vor mir und kann nicht glauben, dass ich ihn nie wieder sehe. Von seinem Körper bleibt nur Asche. Ich mag das Leben nicht.

Am Nachmittag fahre ich zum Hospiz, um die letzten Sachen von ihm zu holen. Die Schwester, die am Abend noch Dienst hatte, übergibt mir einen kleinen Karton. Portemonnaie, Uhr, Mobiltelefon, CDs, Schlüssel, ein Bild meiner Mutter, Wecker. Die CDs schenke ich dem Hospiz. Dazu ein wenig Geld für die Kaffeekasse. Die Schwester sagt, dass mein Vater abends noch bei mir anrufen wollte, dass ich ihm Trainingsanzüge kaufe, weil er ja in Zukunft nur noch im Bett liegen wird. Die Schwester sagte ihm, dass er erst mal schlafen soll und dann alles weitere entscheidet. Vielleicht wusste sie da schon mehr. Der Todeszeitpunkt meines Vaters ist 03.25 Uhr. Als ich später auf den Wecker sehe, steht dieser auf 03.25 Uhr. Das finde ich merkwürdig. Später stelle ich fest, dass in dem Wecker keine Batterie mehr ist. Irgendjemand hat um 03.25 Uhr die Batterie entfernt. Warum? Um den Todeszeitpunkt festzuhalten? Hat eine Schwester den Tod meines Vaters festgestellt und sofort die Batterie entfernt, um die genaue Uhrzeit nicht zu vergessen? Ich werde nicht nachfragen. Es ändert doch nichts.

15. Oktober 2015
Die letzten Tagen vergingen schnell und doch manchmal quälend langsam. Schwer das zu beschreiben. Ich räume fast täglich irgendwas in Paps Wohnung aus. Solange ich beschäftigt bin, geht es. Bin ich es nicht, erscheint mir das Leben wie ein riesiger Haufen Scheiße. Und viel mehr ist es letztlich auch nicht. Eine gewisse Zeitspanne in der man Dinge tut von denen man nichts hat, wenn man irgendwann stirbt. Aber zum Glück denkt nicht jeder so.

Heute ist die Beerdigung. Nur die Frau vom Beerdigungsinstitut, Agnes und ich werden dabei sein. Agnes, die wichtigste Person in meinem Leben. Diese wundervolle Frau, der ich nie sagte, wie wundervoll und wichtig sie für mich ist. Ohne sie hätte ich das alles nie so überstanden. Sie hat mich immer wieder aufgefangen, wenn ich am Boden zerstört war und vor Verzweiflung nicht weiter wusste. Sie hätte eine bessere Version von mir verdient. Mich, wie ich gerne wäre, aber nie war.
Eine Beerdigung bringt die ganze Sache mit dem Tod noch einmal stärker ins Bewusstsein. Hatte ich in den letzten Tagen Zeit etwas, wenn auch nur wenig, Distanz entstehen zu lassen, so zwingt einen eine Beerdigung wieder sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Ich brauche das Wahrlich nicht. So eine Beerdigung zerstört den Abstand, den man zu dem Ereignis gewinnen konnte und bringt all die Gefühle wieder hoch. Distanz wird verkürzt, Leid verlängert. Ich weiß, dass viele das nicht verstehen werden und sagen werden, dass es meine Idee war, eine anonyme Beerdigung zu machen, aber dem ist nicht so. Ich mache nur, was mein Vater wollte. Der letzte Wunsch, den ich ihm erfüllen kann, obwohl er da ja nun nichts mehr von hat.

Zusammen mit Agnes gehe ich zur Beerdigung. Die Frau vom Beerdigungsinstitut hat einen kleinen Raum hergerichtet. Fünf Stühle stehen dort und die Urne. Die Frau fragt, ob ich mich noch von meinem Vater verabschieden möchte. Ich möchte, dass wir diesen Schritt überspringen. Der Anblick der Urne ist einfach grausig und versetzt mir einen erneuten Tritt. Beerdigungen sind grausame Rituale.
Die Frau nimmt die Urne, trägt sie andächtig vor sich her. Agnes und ich folgen ihr. Alles ist surreal. Es regnet. Alles passt zusammen. Am Grab sagt die Frau ein paar Worte, lässt die Urne ins Grab, geht an die Seite und ich kann nur noch weinen. Da ist nun dieses Grab, die Asche meines Vaters darin. Kein Stein, nichts, was von ihm üblich bleibt. Ich frage mich, ob das richtig ist. So anonym. Das erscheint mir plötzlich gemein. Als hätte er nie existiert. Kein Weg zurück. Keine Gespräche mehr, aber auch kein Leid. Ist er erlöst? Ich hoffe es. Sinn macht das alles nicht. Ich werde vermutlich nicht oft auf den Friedhof gehen. Es ändert doch nichts mehr.

30. Oktober 2015
Zum ersten Mal seit der Beerdigung gehe ich zum Friedhof. Das alte Ritual. Zwei Rosen und eine Kerze stelle ich aufs Grab meiner Mutter. Dann gehe ich zu Paps Grab. Zumindest in die Nähe, denn ich weiß tatsächlich nicht mehr, welches Grab seines ist. Es ist schon dunkel und es sind mehrere Gräber ohne Stein an dem Ort, wo Paps Grab ist. Orientierungslos stehe ich da, finde alles völlig unwirklich und frage mich, ob das alles so richtig ist ohne Grabstein und anonym. Eine Antwort finde ich nicht. Meine Eltern sollten zusammen liegen. So wie es jetzt ist, fühlt es sich falsch an. Ich verlasse den Friedhof.

05. Juni 2016
Dies ist der erste Geburtstag ohne einen Elternteil. Ich verbringe den Tag größtenteils alleine und denke viel nach. Das Leben ist merkwürdig.

11. Juni 2016
Wir feiern meinen Geburtstag nach. Zum ersten Mal seit 2013, ohne dass jemand aus der Familie im Krankenhaus oder im Sterben liegt. Das erste Mal, ohne den Tod als Gast zu haben. Wobei der Tod ja auf irgendeine Art und Weise immer zu Gast ist. Dennoch gibt es eine neue Normalität. Alles ist anders als noch vor ein paar Monaten, doch irgendwie ist alles so, wie es immer war. Nur ohne eine konkrete Ausnahmesituation.

16. Juni 2016
Immer wieder bekomme ich Post von dem Hospitz in dem mein Vater gestorben ist. Einladungen, um an die Menschen, die im Elisabeth-Hospitz gelebt haben, zu denken. Ich kann und will da nicht hingehen. Entweder würde ich da alles abblocken und total distanziert sein oder ich wäre ergriffen und würde weinen. Dazu bin ich nicht bereit. In diesem Brief steht, dass sie für jeden Bewohner des Jahres 2015 einen Ballon steigen lassen wollen. Allein der Gedanke daran rührt mich sehr. Wenn ich dem beiwohnen würde, käme ich aus dem weinen nicht mehr raus. Umgeben von anderen Trauernden. Das könnte ich nicht. Gefühle sind nichts für die Öffentlichkeit. Und doch habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht hingehen werde. Daran wird sich wohl nie etwas ändern. Irgendwann werden diese Einladungen ausbleiben. Die Erde dreht sich indes immer weiter und was passiert passiert. Ausnahmesituationen gibt es immer und überall. Jeden Tag.

Nachtrag
Selbst Jahre später denke ich noch nach, ob sich irgendwas von dem, was geschehen ist, hätte verhindert werden können. Hatten meine Eltern es in der Hand später oder anders zu sterben? Oder wäre es, egal, was auch immer sie getan hätten, so gekommen? Hätte meine Mutter länger leben können, wenn sie nicht irgendwann aufgehört hätte zur Vorsorgeuntersuchung beim Kardiologen zu gehen? Was, wenn sie nicht einfach nur ihre Tabletten genommen hätte, sondern auch auf ihre Ernährung geachtet und sich mehr bewegt hätte? Ich glaube, es hätte nicht wirklich etwas geändert. Vielleicht wäre es ihr besser gegangen, aber vermutlich wäre sie dennoch umgekippt an besagtem Tag. Und hätte man sie nicht mehrfach wiederbelebt, wäre es an dem Tag vorbei gewesen und sie hätte nicht sechs Monate so weitergelebt. Ich denke, wenn man zur Welt kommt, steht im Großen und Ganzen fest, wann man wie stirbt.
Nehmen wir meinen Vater. Es ist leicht zu sagen, dass er keinen Krebs bekommen hätte, wenn er den Alkohol gemieden hätte, wenn er die Jahre in denen er geraucht hat, darauf verzichtet hätte, wenn er weniger Fleisch gegessen und sich gesünder ernährt hätte. Wenn er nicht unter Tage gearbeitet hätte und ein glücklicherer Mensch gewesen wäre. Vielleicht macht es das Leben erträglicher, wenn man all das anführen kann, um eine Erklärung für diesen verfickten Krebs zu haben. Doch wie viele Leute haben nichts davon getan und sind trotzdem erkrankt? Und wie viele haben noch ungesünder gelebt und wurden viel älter und bekamen nie Krebs. Fakt ist doch, dass niemand wirklich etwas weiß. Selbst die ganzen Ärzte und Klugscheißer nicht. Vermutungen. Hörensagen. Viel mehr ist da nicht. Ich habe nie geraucht, nie getrunken und manchmal versucht mich gesund zu ernähren. Trotzdem werde ich irgendwann eine verfickte Krankheit bekommen. Entweder heißt es dann, dass ich schon alt bin und es deshalb so kam, oder aber es heißt, es lag ja in der Familie, da war es unausweichlich. Und all das kann ebenso wahr wie falsch sein. Daher bleibe ich dabei, dass alles schon bei der Geburt größtenteils feststeht. Natürlich beeinflussen viele Dinge vieles, aber letztlich müssen wir uns auch eigestehen, dass wir nichts mit Sicherheit wissen, sich mit diesem Nichtwissen aber verdammt viel Geld verdienen lässt. Und das ist es am Ende, um was es geht. Gibt nur keiner wirklich zu. Wäre auch blöd, könnte ja den Gewinn minimieren.

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