Der Rest der Arbeitswoche nach der Extraktion von Zahn 37

Montagabend. Am Abend geht es mir relativ gut und ich frage mich, ob es wirklich nötig ist, dass ich morgen zu Hause bleibe. Schließlich bin ich nach der Extraktion von Zahn 47 auch brav arbeiten gegangen. Und damals ging es mir eindeutig schlechter. Ich sollte echt nicht immer so viel denken.

Dienstag. Der Schlaf in der Nacht ist mittelmäßig. Ich wache mehrfach auf und weiß nicht, wie ich liegen soll. Gegen 06.30 Uhr stehe ich auf und bin der Meinung, dass es genau die richtige Entscheidung war nicht arbeiten zu gehen. Ich nehme eine Ibuprofen 200, klettere zurück ins Bett und schlafe noch fast zwei Stunden recht entspannt weiter.
Zum Mittagessen gibt es Suppe, da muss ich nicht viel kauen, denn kauen ist noch nix für mich. Mein Kollege schreibt, dass er alle Plätze in der Maßnahme nun besetzt hat. Es kann kein Zufall sein, dass so etwas nur passiert, wenn ich nicht da bin. Wenn die Mitarbeiter viel besser als der Maßnahmeleiter sind, dann sind die Rollen definitiv falsch verteilt. Wenn die Maßnahme endet, dann sollte man mich nie wieder als Maßnahmeleiter einsetzen, denn ich habe weder genügend Zähne noch einen Plan von meinem Job. Ich bin nur ein Auslaufmodell, welches mehr und mehr verfällt.
Am Nachmittag esse ich Haferkekse, weil ich das Gefühl habe, dass ich sonst verhungern würde. Vermutlich ein gutes Zeichen. Auch die Idee heute nicht zu arbeiten, scheint gut für mich zu sein. Dass mein Gesicht etwas angeschwollen ist, finde ich auch völlig okay. Obwohl ich scheinbar viel von der Zeit nach der Extraktion von Zahn 47 verdrängt habe, glaube ich, dass es diesmal weniger schlimm ist, was die Beschwerden angeht.
Am Abend liege ich mit der geschwollenen Wange in meinen Bett und es sind nicht die leichten Schmerzen, die mich am Einschlafen hindern, sondern die junge Nachbarin mit ihrer für meine Ohren mittlerweile zum absoluten Ärgernis gewordene Stimme. Was sie zum Besten gibt, weiß ich zwar nicht, aber ich will die Stimme auch gar nicht hören. Wie sehr mich diese Stimme mittlerweile quält ist nur schwer zu beschreiben. Warum nur ist sie so laut und warum redet sie nicht nur, wenn ich mich an einem anderen Ort befinde?

Mittwoch. Die Nacht ist etwas besser als die Nacht davor. Dennoch wache ich mehrfach auf, meist weil ich mich auf die linke Seite drehe, was zu Schmerzen führt. Die Wange ist weiter geschwollen und mein Frühstücksmüsli lässt sich einigermaßen durch die schmale Öffnung einführen. Mal sehen, wie lange es dauert bis der Mund wieder ordnungsgemäß funktioniert. Die Schmerzen an der Wunde sind größer als die Schmerzen, die Zahn 16 verursacht. Wenn ich daran denke, dass der auch noch behandelt werden muss, könnte ich fast richtig schlechte Laune bekommen und verzweifeln. Und dann gibt es da ja auch noch Zahn 27. Attraktiver macht mich die Schwellung in meinem Gesicht leider nicht und seit dem Aufstehen juckt meine Haut, ist total schuppig und gerötet. Weniger zwar als nach der Extraktion von Zahn 47, aber doch so, dass es stört. Möglicherweise bin ich einfach zu alt für solche Eingriffe. Vielleicht ist mein Körper aber auch völlig verseucht und muss komplett entsorgt werden.

Im Büro gibt es zum ersten Mal nach der Extraktion Brote zu essen. Abgesehen davon, dass ich den Mund nicht weit öffnen kann, gibt es ein Problem, welches die Situation ziemlich stört. Das Problem ist Zahn 16, der es nicht mag, wenn er kauen muss. Doch da ich auf der anderen Seite vorerst nicht kauen kann, muss ich die Schmerzen halt ertragen. Montag bin ich wieder beim Zahnarzt, vielleicht wird Zahn 16 dann getötet. Eine andere Möglichkeit scheint es eh nicht zu geben.

Am Abend höre ich mir Beethovens Symphony No. 5 in C Minor, Op. 67: I Allegron con brio über Kopfhörer an. Nie zuvor fand ich das Stück schöner.

Donnerstag. Die Nacht ist okay. Zwar wache ich mehrmals auf, aber schlafe recht schnell wieder ein. Das furchtbar juckende und gerötete Gesicht am Morgen ist da schon deutlich unangenehmer. Fast sehe ich aus, wie nach der Extraktion von Zahn 47. Die Haut wird täglich schlechter und schlechter.
Sollte es, wovon ich leider ausgehe, so sein, dass schon bald sowohl Zahn 16 als auch Zahn 27 entfernt werden, werde ich nur Zahn 16 und Zahn 47 durch ein Implantat ersetzen. Mehr kann ich mir nicht leisten und da Zahn 27 und Zahn 37 sich quasi gegenüberliegen, kann ich mich vielleicht leichter daran gewöhnen, dass sie fehlen.

Das Zahnfleisch um Zahn 27 blutet mittlerweile bei jedem Zähneputzen. Zahn 16, und noch mehr das Zahnfleisch, tut bei jeder Berührung weh. Daher kann ich mich gar nicht freuen, das Störenfried Zahn 37 nun auch raus ist, keine Probleme mehr bereiten wird und die Wunde langsam heilt, weil erst maximal 50% des Weges geschafft sind und ich leider keine optimistischen Züge an mir erkennen kann.

Auf dem Weg zur Arbeit versucht Zahn 16 alles, um mehr weh zu tun als die Wunde, was ihm auch fast gelingt. Montag soll der Zahnarzt ihn von mir aus ziehen, öffnen, oder in die Luft sprengen. Verloren ist er sowieso. Als wenig später Zahn 27 ohne erkennbaren Grund ebenfalls Schmerzen produziert bin ich vollends bedient. Jetzt fehlen mir zwar zwei Zähne, aber ein wirklicher Fortschritt ist nicht zu erkennen. Dazu sehe ich mit meiner geschwollenen Wange auch noch albern aus. Und das mein Körper nun, da zwei Entzündungsherde entfernt wurden, irgendwelche Vorteile hat, lässt sich auch nicht erkennen. Die beiden Entzündungen haben vermutlich nur ihren Standort gewechselt und überraschen mich schon bald mit neuen Schmerzen. Spätestens dann, wenn mich Zahn 16 und Zahn 27 verlassen haben. Und wer weiß, vielleicht faulen mir bald auch schon Finger und Zehen ab und das eine oder andere Ohr fällt einfach so von mir ab. Wundern sollte mich das jedenfalls nicht und ich sollte mich darauf vorbereiten, dass schon bald nicht mehr viel von mir übrig ist.

Die Schnittchen zum Mittag muss ich quasi weglutschen, weil Zahn 16 immer unkooperativer wird. Das ist jetzt, was die Nahrungsaufnahme angeht, ein neuer Tiefpunkt.
Nach dem Mittagessen begrüßen wir einen neuen Teilnehmer der Rubrik Vielredner. Von uns erwartet er viel, von Arbeitgebern eine anständige Bezahlung. Er sagt, dass Arbeitgeber an einer Bewerbung nicht erkennen können, ob der Bewerber zurechnungsfähig ist. Ich unterbreche den Teilnehmer kurz: “Wo wir gerade beim Thema sind. Sind Sie denn zurechnungsfähig?” Anstatt ordnungsgemäß mit ja oder nein zu antworten, verteilt er erst einige Sätze bevor er sich als vermutlich zurechnungsfähig outet. Anschließend erzählt er, dass man bei Bewerbungsgesprächen gut vorbereitet sein muss, um immer eine passende Antwort zu haben. Erneut unterbreche ich ihn: “Ja, es wäre schön komisch, wenn Sie auf die Frage, warum Sie sich auf die Stelle beworben haben, antworten, weil ihre Busse so schön sind und ich die Farbe mag. Zwar witzig, aber bringt vermutlich nichts.” Lange lässt er sich von meinen einwürfen nicht stören, und so möchte er, weil wir noch Zeit haben und uns gerade kennenlernen, dass wir ihm fragen stellen. Ich sage ihm, dass ich keine Fragen habe und ihn erst eine Weile beobachten werde, bevor ich weiteres frage oder sage. Findet er toll. Er freut sich schon auf die Zusammenarbeit und verabschiedet sich für heute. Klingt nach einer harten Nuss, die man uns da ins Körbchen gelegt hat. Immerhin konnte er mich eine Weile von meinen Zähnen ablenken.

Zahn 16 scheint sauer auf mich zu sein, so wie der sich anstellt, wenn ich ihn bitte Nahrung zu zerkleinern. Vielleicht hätte ich ihn Montag ziehen lassen sollen, so wie es der Zahnarzt erwartet hat. Da habe ich die Zeichen wohl wieder nicht richtig gedeutet. Bis Montag muss ich durchhalten, dann soll der Zahnarzt einfach irgendwas mit dem Arshlochzahn machen. Am Abend juckt mein Gesicht furchtbar und leuchtet rot. Dafür sieht die Wunde geschlossen aus. Geschwollen, aber zu. Wirklich glücklich macht mich das nun auch nicht.
Als ich später auch noch das Gefühl habe eine Erkältung zu bekommen, bin ich mir sicher, dass mein Immunsystem kaputt ist und die Entzündungen im Gesicht nur ganz entfernt mit der Zahnextraktion zusammenhängen. Die Ursache für die geballten Zahnprobleme muss etwas Größeres sein und langsam bricht das System komplett zusammen. Alles andere würde mich sehr überraschen.

Als ich gegen 22.50 Uhr einschlafe, kann ich noch nicht ahnen, dass mich das Gequatsche aus der Nachbarwohnung keine halbe Stunde später wieder wecken wird. Tut es aber und so liege ich im Bett und höre die beiden, ohne sie jedoch wirklich zu verstehen. Ich stopfe die Ohrstöpsel in meine Ohren, aber ganz ruhig ist es damit auch nicht. Ich wälze mich hin und her und bin ratlos. Gegen Mitternacht scheint es ruhig zu sein und ich nehme die Ohrstöpsel raus, was ich wenig später schon wieder bereue, da die beiden doch noch nicht schlafen. Wie kann man nur so dünne Wände in ein Haus einbauen? Eine Weile höre ich den beiden zu, dann greife ich zurück auf die Ohrstöpsel, kann aber noch eine ganze Weile nicht einschlafen. Morgen auf der Weihnachtsfeier werde ich in einem erbärmlichen Zustand sein.

Freitag. Mein Gesicht juckt wie verrückt und überall, wo im Gesicht Haare wachsen ist die Haut rot und entzündet. Fortschritt stelle ich mir anders vor. Dafür ist die Wange immerhin etwas weniger geschwollen.

Im Büro merke ich, dass ich zu wenig geschlafen habe und mein Körper durch ist. Ist kann mich kaum wachhalten und ich bin überzeugt davon, dass eine Erkältung versucht von mir Besitz zu ergreifen. Ich bin echt so müde, dass ich kaum die Augen aufhalten kann. Sollte ich es zur Weihnachtsfeier schaffen, werde ich sicher nicht lange durchhalten. Dabei haben wir dieses Mal extra eine Fotobox, da könnte ich mich mit all den jungen und attraktiven Kolleginnen fotografieren lassen und später mit den Fotos angeben und geile, vollkommen erlogene Geschichten dazu erzählen. Ich weiß nur nicht, wem ich die Geschichten erzählen könnte, denn alle, die mich kennen wissen, dass ich keine Frauengeschichten mehr erlebe. Irgendwie blöd. Dann brauche ich auch keine Fotos und kann mir die Mühe sparen.

Die Schmerzen schwanken während des Tages hin und her. Weil Black Friday ist und Agnes meint, ich hätte es verdient mir eine PlayStation 4, die es gerade günstig gibt, zu schenken, mache ich das auch. Doch kurz vor Ende des Bestellvorgangs tritt ein Fehler auf. Als ich es erneut versuche, gibt es keine PlayStation 4 mehr. Ausverkauft. Vermutlich ein Zeichen, dass ich das Geld für die Zähne sparen soll.

Für den Weg vom Büro nach Hause brauche ich fast siebzig statt dreißig Minuten. So habe ich kaum Zeit mich für die Weihnachtsfeier aufzubretzeln. Dabei wollte ich dort doch heute begehrenswert und unwiderstehlich auftreten. Das wird wohl nichts. Ob ein zahnloser Mann in meinem Alter und Zustand dennoch Beachtung finden wird?

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