Ein weiterer Abend in Lüdinghausen

Weil Manni morgen Geburtstag feiert, möchte er am Abend zu Hause bleiben. Da Loerz den Abend mit fünf Frauen verbringt, steht auch er nicht zur Verfügung. Und weil wir sonst niemanden kennen, der mit uns ausgeht, fahren Petra und ich ohne weitere Begleiter nach Lüdinghausen. Lüdinghausen entwickelt sich mehr und mehr zum Ort für unsere Ausflüge, wenn sonst niemand für uns Zeit hat. Auch an diesem schönen Ort bekommt das Thema Krankheiten seinen Platz, was ich irgendwie bedauerlich finde. Es gibt schon lange keinen einzigen Ausflug mehr, ohne das Thema Krankheiten. Und nie sind Krankheiten nur eine Randerscheinung, sondern ein abendfüllendes und stets wiederkehrendes Thema, welches viel Raum einnimmt. Da wir nicht jünger werden, ist davon auszugehen, dass irgendwann Krankheiten das einzige Thema sein werden. So wie bei alten Leuten, die mir früher mit ihren labbrigen Geschichten über eigene und Krankheiten anderer auf die Nerven gingen und die ich dann, wann immer es ging, gemieden habe. Ich verkörpere mehr und mehr all das, was ich früher bei alten Menschen nicht mochte. Und durch diese Krankheitsgeschichten wird man irgendwann selbst zu einem alten Menschen, selbst an einem so schönen Ort, bei perfekten Temperaturen, wie Lüdinghausen. Es ist verständlich, dass ich mir auch immer mehr auf die Nerven gehe, weil das einfach nicht alles sein darf, was vom Leben übrig bleibt, wenn es sich dem Ende entgegen neigt.
Die Nahrungsaufnahme findet im Piccolas Altes Backhaus statt. Ich bekomme Pizzabrötchen mit Knoblauchsoße und einen kleinen Salat. Petra darf Spaghetti zu sich nehmen. Es ist ein lauer Sommerabend den man durchaus genießen kann. Nach dem Essen machen wir noch einen Spaziergang um die Renaissanceburg. Plötzlich will mein Körper loslaufen und ich gebe dem Gefühl kurz nach und laufe los. Ein gutes Gefühl, auch wenn es nur wenige Meter sind, die ich laufe. Zwei ältere Frauen, die mit ihren Hunden unterwegs sind und auf die ich zulaufe, schauen etwas irritiert. Noch bevor ich sie erreiche habe ich aber schon wieder gestoppt und gehe zurück zu Petra, die nie den Impuls verspürt einfach loszulaufen, was ich nicht verstehe. Ich entscheide, dass genau in diesem Moment meine perfekte Lebenstemperatur herrscht. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich bewusst spüre, dass meine perfekte Lebenstemperatur herrscht. Ich weiß nicht einmal, ob ich den Begriff Lebenstemperatur vorher schon einmal gehört habe. Kurz vor Ende der Runde rennt mein Körper nochmal los. Dieses Mal kann ich mich aber stoppen bevor ich wirklich in Fahrt komme. Irgendwann muss ich meinen Körper einfach mal zwei bis fünf Minuten laufen lassen, weil er schon seit Monaten danach schreit endlich losgelassen zu werden. Vermutlich habe ich einen Laufkörper, der, je mehr er von Krankheuten hört, beweisen will, dass er eine Rennmaschine ist. Oder ich habe einfach nur einen an der Waffel. Das kann auch gut möglich sein. Den Rest des Abends unterdrücke ich den Drang loszulaufen und gehe ordnungsgemäß durch den Ort, der sich sicher auch für einen Kurzurlaub eigenen würde, wenn man weiter weg wohnt und Kurzurlaube in angenehmen Gegenden mag. Während wir später auf einer Bank sitzen und Leute beobachten, wünsche ich mir, dass ich eine ordentliche Frisur hätte und mein Körper nicht aussehen würde als hätte ich Magersucht. Dann wünsche ich mir gar nichts mehr und sitze einfach nur noch da.

3 Kommentare

  1. Die perfekte Lebenstemperatur habe ich für mich bereits definiert. Ich finde es erstaunlich, dass es in der Fülle der möglichen Temperaturen (zwischen -50 und +50 Grad) auf der Erde tatsächlich DIE Temperatur gibt, die mich weder frieren noch schwitzen lässt, und dass diese sogar ziemlich häufig herrscht. Wenn man die Lebensbedingungen auf anderen Planeten noch dazunimmt (viele tausend Grad minus bis viele tausend Grad über Null) ist das noch viel erstaunlicher und eigentlich ziemlich toll.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert