Zweite 5-Tage-Woche 2021

Montag
Während ich zur Arbeit fahre, schwirren mir viele Gedanken durch den Kopf. Wer waren die Leute, von denen ich heute Nacht geträumt habe? Wieso schaffe ich es selbst in meinen Träumen nicht, Frauen ins Bett zu bekommen? Wie soll ich heute 32 Teilnehmer betreuen? Wie wird es wohl, wenn wir an dem anderen Standort arbeiten? Plötzlich erschreckt mich ein Blitz. Ich zucke zusammen und realisiere, dass ich geblitzt worden bin. Die Geschwindigkeit beträgt etwa 65 km/h. Erlaubt sind 50. Dieser Blitzer stand schon an der Stelle bevor ich überhaupt einen Führerschein hatte und ich habe es bisher immer vermieden an dieser Stelle zu schnell zu fahren. Eigentlich meide ich es grundsätzlich, weil es Geld kostet. Was mich vielmehr überrascht ist, dass ich gedanklich so weggetreten sein konnte, dass ich scheinbar nicht wusste, wo ich mich gerade befand als ich geblitzt wurde. Den Rest der Strecke bin ich weiterhin sehr verwirrt, achte aber immerhin darauf, dass ich nicht zu schnell fahre. Die zweite 5-Tage-Woche fängt wirklich gut an. Ich bin gespannt, was sie noch zu bieten haben wird.

Seit dem Lockdown hat nur eine unserer Teilnehmerinnen einen Job angefangen, alle anderen sind nicht einmal nah dran. Und seit wir die Teilnehmer des anderen Standorts betreuen, verbringen wir den größten Teil der Zeit damit, uns um sie zu kümmern. Es fühlt sich fast so an als würden wir diese Maßnahme nebenher auslaufen lassen. Als wären wir durch damit. Eine Ära endet, eine neue beginnt. Alles sehr merkwürdig, aber scheinbar nicht aufzuhalten.

Was mich am heutigen Morgen ziemlich verwirrt ist die Tatsache, dass die meisten Mitarbeiter in Schreiben nach der Grußformel ein Komma setzen. Das sieht nicht nur falsch aus, es ist auch falsch. Weil ich nicht sicher bin, ob es mittlerweile vielleicht nicht mehr fasch ist, schaue ich im Internet, ob nach der Grußformel ein Komma gesetzt werden kann. Die Antwort lautet zu meinem Glück Nein. Ich mache auch oft Fehler, aber er gibt so Sachen, die gehen einfach nicht. Sie entsprechen nicht meinen optischen Vorstellungen und wenn sie dann noch falsch sind, dann macht mich das irgendwie wahnsinnig. Und wenn Jobcoaches und Projektleiter Geschäftsmails so abschließen, dann finde ich das sogar bedenklich. Das kann man doch nicht machen. Was sollen denn die Leute von uns denken, wenn wir so etwas machen? Andererseits verbreiten sich solche Unsitten ja oftmals solange bis sie plötzlich nicht mehr falsch sind und gar im Duden aufgenommen werden. Das möchte ich aber nicht. Nicht nur aus ästhetischen Gründen. Mit so Sachen könnte ich mich stundenlang beschäftigen. Und natürlich überlege ich, wie ich das meinen ganzen Kollegen und Vorgesetzten vermitteln kann, dass das auf eine peinliche und unschöne Weise falsch ist. Ich fürchte, dass die mich dann doof finden werden und zukünftig auf alle meine Fehler hinweisen werden. Das wäre zwar einerseits hilfreich, aber ich weiß nicht, ob das dann nicht vielleicht zu einem Wahn werden würde, der uns von den wesentlichen Dingen abhält, weil wir alle nur noch nach Fehlern bei anderen suchen. Das möchte ich nicht.

Als ich am Abend gegen 22.30 Uhr das Licht lösche, um ein Schläfchen zu machen, erwacht der Nachbar plötzlich aus seiner ruhigen Phase und beginnt zu plappern. Glücklicherweise bin ich so müde, dass ich, nachdem ich die Ohrstöpsel eingesetzt habe, einschlafen kann.

Dienstag
Es ist etwa 01.20 Uhr als auch die Ohrstöpsel nicht mehr reichen und der Nachbar mich quasi aus dem Schlaf brüllt. Ich ziehe mit die Bettdecke über den Kopf, schwitze immer mehr, doch der Lärm dringt durch die Gehörgänge komplett in mich ein. Ich bin verspannt, habe Kopfschmerzen und stelle mir vor, wie ich den Schädel des Nachbarn mit einer Schaufel zertrümmere oder ihm gar den Kopf abschlage. Ich stehe auf, gehe zur Toilette, nehme eine Kopfschmerztablette und lege mich ans anschließend wieder hin. Die Zeit vergeht, es ist etwa 01.50 Uhr und ich bin sauer. Ich überlege aufzustehen, beim Nachbarn zu schellen und ihn um Ruhe zu bitten. Doch einerseits bin ich zu faul aufzustehen und andererseits könnte es sein, dass ich vom Nachbarn gefickt werde, weil Nachbarn nachts von ihm gefickt werden sollen. Das möchte ich nicht. Außerdem funktioniert seine Türklingel nicht und ich müsste klopfen. Das würde er nicht hören, dann würde ich lauter klopfen und am Ende bin ich der Ruhestörer. Freundlich könnte ich auch nicht zu ihm sein und würde ihn vermutlich beleidigen. Das ist alles höchst unerfreulich. Ich weiß mittlerweile auch, warum zwischen seinem Geschrei immer Pausen sind. Wenn er schweigt, dann schreit ihn nämlich eine Frau durchs Telefon an. Kann man ganz deutlich hören, wenn man zufällig im Hausflur ist, während die beiden telefonieren. Habe ich vor kurzem deutlich mitbekommen, macht es auch nicht besser. Wenn die schreiende Frau im Sommer tatsächlich zu ihm zieht, dann schreien die sich vermutlich hier die ganze Zeit an. Dumme, asoziale Menschen. Mittlerweile ist es nach 02.00 Uhr. Morgen werde ich der Hausverwaltung schreiben, dass der Nachbar den Keller immer noch mit seinem Müll vollgestellt hat. Ich kann da keine Rücksicht mehr nehmen. Ich will schlafen, bin aber mittlerweile zu aufgebracht, um schlafen zu können. Erneut stelle ich mir vor, wie ich den Nachbarn mit einer Schaufel enthaupte und dann seinen Kopf aus dem Fenster werfe. Zum Glück hält mich irgendwas ab, tatsächlich auszuflippen. Was für ein dummer und zurückgebliebener Drecksack. Ich muss atmen und mich beruhigen. Wenn das doch nur einfacher wäre. Gegen 02.20 Uhr schreit der Nachbar tatsächlich ein letztes Mal in den Telefonhörer. Dann ist es plötzlich still, einfach nur still. Ich nehme die Ohrstöpsel raus und komme ganz langsam runter, beruhige mich und schlafe tatsächlich ein.

Als das Licht des Weckers um 05.47 Uhr angeht, werde ich zwar sofort wach, bin aber total erledigt und fühle mich eigentlich nicht in der Lage aufzustehen. Das wird sicher ein wundervoller Tag.

Ein Teilnehmer ruft früher als erwartet an und ist ganz aus dem Häuschen. Ihm wurde der Strom abgestellt und er möchte nun ein Darlehen vom Jobcenter, da er über 600€ Stromschulden hat. Ich habe ihm seit Tagen gepredigt, dass er sich um all das kümmern muss und ihm meine Hilfe angeboten. Seine Informationen kamen spärlich und waren ungenau. Nun hat er angeblich einen Brief nicht rechtzeitig bekommen und jetzt ist es zu spät. Briefe ignorieren ist dumm, was ich auch immer allen sage. Während ich Vollmachten für ihn vorbereite, damit alles schnell geregelt wird, macht er weiter Blödsinn, wie ich später, als ich ihn anrufe, feststellen muss. Er hat sich ausgesperrt und kann daher die Vollmachten nicht sofort unterschreiben, weil in zwei Stunden erst seine Tür geöffnet wird. Ich sage ihm, dass er vorher zu uns kommen soll, was aber nicht geht, da er, wie er sagt, nur kurze Hosen anhat. Wer verlässt denn mit kurzen Hosen seine Wohnung und steckt seine Schlüssel nicht ein? Das kann Zufall sein, passt aber zum Gesamtbild. Wir vergeuden weiter Zeit anstatt vorwärts zu kommen. So etwas macht mich wahnsinnig. Vielleicht auch deshalb, weil ich auch ständig wichtige Zeit mit unnützen Dingen vergeude. Ich denke, wir werden noch sehr viele Gespräche mit dem Teilnehmer führen müssen, um ihn zurück in die Spur zu bringen.
Den größten Teil des Arbeitstages rege ich mich allerdings über die mangelnde Kommunikation mit dem anderen Standort auf. Wenn ich da ab Mai fest eingesetzt werde und dieses Chaos mich langsam durchdrehen lässt, dann werde ich mich nicht mehr beherrschen können, fürchte ich.

Mittwoch
Offensichtlich ist der Nachbar nicht zu Hause und so kann ich in der Nacht ganz prima schlafen. Der Tag im Büro ist nicht ganz so prima, denn wir sollen drei weitere Teilnehmer des anderen Standortes bekommen, weil wir so gute Arbeit leisten. Ich leiste so gute Arbeit, dass ich mich so gut wie gar nicht um die eigenen Teilnehmer kümmere. Sind eh nur noch zweieinhalb Monate. Vielleicht ist es einfach egal und ich mache mir zu viele Gedanken. Als ich später erfahre, dass man beim Jobcenter vorhat uns Kunden mit AVGS zu schicken, frage ich mich, ob das dann nicht vielleicht doch zu viel wird, vor allem, weil der ganze Verwaltungsaufwand nicht unerheblich ist. Aber vermutlich ist alles halb so schlimm und nur in meinem Kopf ein Problem. In meinem Kopf wird rasch ganz vieles zu einem Riesenproblem bis sich hinterher rausstellt, dass alles halb so wild ist.

Später unterschreibt der Teilnehmer mir die Vollmachten und ich leite sie an die Leistungsabteilung weiter. Wenn alles klappt, sollte ab morgen wieder Strom haben. Er bedankt sich für meine Hilfe, ich bedanke mich beim Mann von der Leistungsabteilung für die rasche Abwicklung und sollte mich etwas freuen, dass durch meine Hilfe ein Problem gelöst wurde. Leider gelingt es mir nicht, mich zu freuen, was ich schade finde.

Nach der Arbeit fahre ich direkt durch zur Werkstatt meines Vertrauens, um zu fragen, wann man Zeit hat, um die Zündspule des Coupés zu wechseln. Ich soll kurz warten und ein paar Minuten später geht es schon los. Bei der Gelegenheit lasse ich den defekten Öldeckel austauschen und schon ist die Sache erledigt. Irgendwie bin ich am Abend mit dem Tag zufrieden und endlich fühlt es sich mal so an als ginge es doch weiter.

Donnerstag
Obwohl mein Nachbar auch diese Nacht nicht da zu sein scheint, werde ich gegen 01.45 Uhr wach. Es ist mein Darm, der äußerst unzufrieden scheint und mich wenig später sehr deutlich auffordert zur Toilette zu gehen. Mir ist so warm, dass ich schwitze und mein Darm will entleert werden. Als ich nach 02.00 Uhr endlich die Toilette verlassen darf, nehme ich eine Eubiol, weil Eubiol bei Durchfall helfen soll. Ich friere plötzlich und klettere zurück ins Bett, merke aber, dass mein Darm noch unzufrieden ist. Ich nicke immer wieder kurz ein, wache aber rasch wieder auf. Als ich mich etwas übermütig auf die rechte Seite drehe, dauert es nicht lange bis mich üble Krämpfe auf die Toilette treiben. Schwitzend leide ich, während ich mit Durchfall und unter Krämpfen den Darm entleere. Ich frage mich, ob ich in den Zustand arbeiten kann. Dann frage ich mich, wieso ich Durchfall habe, ob ich mich irgendwo mit irgendwas angesteckt haben könnte. Eine Ansteckung erscheint mir unwahrscheinlich, aber ausschließen kann man es nie. Wenig später wird es besser und ich kann das Bad verlassen. Es fühlt sich allerdings an als wäre es noch nicht vorbei. Ich bereite mir einen Wermutkrauttee zu, um meinem Darm zu helfen. Der Tee schmeckt furchtbar und während ich im Wohnzimmer sitze, höre ich draußen einen Vogel aufgeregt zwitschern, was ich etwas früh finde, da es erst 03.10 Uhr ist. Möglicherweise geht es dem Vogel nicht gut und er teilt das den anderen Vögeln mit oder bittet um Hilfe. Kurz danach verstummt der Vogel. Vielleicht hatte er auch nur einen schlechten Traum. Weil der Tee nicht schmeckt und ich ihn auch nicht trinken mag, nehme ich nur wenige kleine Schlucke zu mir während ich weiter im Wohnzimmer sitze. Ich habe mich in eine Decke gewickelt und friere dennoch. Ganz offensichtlich ist mein System nicht in Ordnung. Jetzt glaube ich, dass es meinem Darm nicht gefallen hat, dass ich am Abend zur goldenen Milch Mr. Tom und vegane Kekse gegessen habe. Das ist eine merkwürdige Idee, denn das habe ich in den letzten Tagen fast jeden Abend so gemacht. Mal mit, mal ohne Mr. Tom. Das ist doch alle Kacke. Weil mir kalt ist und ich obendrein ratlos bin, gehe ich um 03.30 Uhr zurück ins Bett und denke nicht, dass ich in dieser Nacht noch viel schlafen werde. Um 04.25 Uhr friere ich und schließe das Badezimmerfenster, bevor ich mir eine zweite Decke aufs Bett lege. Ob ich zwischenzeitlich geschlafen habe, weiß ich nicht. Da ich immer noch friere lege ich mich auf die Heizdecke und schalte sie ein. Das immerhin hilft mir warm zu werde. Da ich mich allerdings noch nicht auf die Seite legen kann, ist es wohl noch nicht überstanden. Um 05.47 Uhr geht der Wecker an. Es fühlt sich an als hätte mir jemand mittig kurz unter den Rippen einen Schlag versetzt. Lege ich mich zum testen auf die linke Seite, wird mir sofort richtig übel und um 05.58 Uhr sitze ich wieder auf der Toilette. Viel will nicht raus aus mir. Ob das ein gutes Zeichen oder bedeutungslos ist, kann ich noch nicht sagen. Um 06.08 Uhr bekomme ich einen Schweißausbruch und mir wird so übel, dass ich fürchte mich übergeben zu müssen. Ich öffne die Balkontür, weil ich fürchte nicht mehr atmen zu können. Eine Weile hocke ich vor der geöffneten Balkontür und atme. Dann wird es besser. Was hat das nur zu bedeuten? Weil ich nicht weiß, was ich noch tun soll, nehme ich Nuxal- Tropfen. Möglicherweise habe ich auch Hunger, aber da ich keine Bananen da habe, weiß ich nicht, was ich Essen soll und ob essen wirklich sinnvoll ist. Deshalb esse ich nichts. Zeit erneut über den Grund dieses Zustandes nachzudenken. An eine Infektion glaube ich weiterhin nicht. Entweder war meine Nahrungsaufnahme gestern Abend aus unbekannten Gründen nicht gut für mich, oder ich bin innerlich komplett gestresst, obwohl ich aus meiner Sicht mit dem gestrigen Tagesverlauf nach der Arbeit sehr zufrieden war. Oder es ist, weil ich zufrieden war und das nicht sein soll? Natürlich kann es auch eine tödliche Krankheit sein, die bis auf akute Schübe nur langsam voranschreitet. Zeit mich frisch zu machen, damit ich im Büro einigermaßen anständig ausschaue.

Auf der Fahrt zum Büro geht es mir manchmal gut und dann plötzlich bekomme ich einen Schweißausbrauch, mir wird total übel und ich fürchte mich unverzüglich übergeben zu müssen. Ein paar Minuten später geht es wieder. Da ich Bananen brauche, gehe ich zu Lidl und kaufe sechs Bio-Bananen. Wenn Bananen, dann Bio. Im Büro stellt sich zunächst die Frage, ob mir schlecht ist, weil mir schlecht ist oder ob mir schlecht ist, weil ich Hunger habe. Also gönne ich mir eine Banane, dann geht es mir besser. Wenig später wird es stressig, da wir die drei neuen Teilnehmer des anderen Standorts heute erstmals betreuen dürfen, aber Rückfragen vom anderen Standort nicht wirklich beantwortet werden. Eigentlich machen mir auch den größten Teil der Verwaltungsarbeit nun mit. Warum die aus der Verwaltung dann immer noch jammern, kann ich mir nicht erklären. Das Problem ist leider, dass mich das alles stresst, was mein Darm direkt Scheiße findet. Als ein Teilnehmer mich anruft, weiß ich tatsächlich nicht zu welcher Maßnahme er gehört. Dabei gehört er zu unserer Maßnahme. Hier ist deutlich zu erkennen, dass ich an meine Grenzen gerate und nicht flexibel einsetzbar bin. Möglicherweise bin ich auch überfordert. Wenn dieser Corona-Scheiß nicht bald aufhört und wir nicht wieder unter normalen Arbeitsbedingungen arbeiten können, dann kippe ich bei Gelegenheit einfach um. Aus Protest und weil ich es für angemessen halte.
Letztlich ist all die Aufregung völlig bescheuert, denn so ist die Arbeitssituation nun mal. Und ich kann eh nichts tun und wenn ich es doch könnte, so würde ich dennoch vermutlich nichts tun und alles über mich ergehen lassen. Weil ich so bin. Ich habe früh gelernt die Dinge zu ertragen und nix tun zu können und auch wenn ich weiß, dass das falsch ist und ich doch was tun kann, so lasse ich meistens mein Leben über mich ergehen. Ich nehme es hin, weil ich leider so bin.

Später stelle ich mir vor qualvoll zu sterben. Mindestens so qualvoll wie mein Vater, was mich ziemlich runterzieht. Dann frage ich noch aus dem nichts, wann ich den Spaß verloren habe, wieso ich selten überschäumend lustig bin und wie ich nur zu einem freudlosen Stück Treibholz werden konnte. Wann habe ich komplett den Lebensmut verloren und wieso funktioniere ich nur noch? Ist das wirklich alles, was noch von mir übrig ist?

Freitag
Nachdem ich in der Nacht, soweit ich mich erinnern kann, gut geschlafen habe, gibt es ein wenig Müsli zum Frühstück. Als ich später im Bad vor dem Spiegel stehe, bemerke ich, dass ich wohl schon länger meine Achselhaare nicht entfernt habe. Meinem Impuls, dies nun unverzüglich zu tun, gebe ich nicht nach. Nicht rasierte Achselhaare sind ein eindeutiges Indiz dafür, dass meine Gleichgültigkeit eine neue Stufe erreicht hat. Die innere Verwahrlosung nach außen getragen. Natürlich gab es immer Phasen, in denen die Achselhaare nicht abrasiert waren, aber ich kann mich ehrlich gesagt nicht erinnern, wann sie zuletzt so lang waren. Kurz suche ich nach einem Grund, um sie doch noch zu entfernen, aber mir fällt nichts ein. Ich resigniere nun auch in Bereichen, die mir, warum auch immer, mal wichtig waren. Ich habe wirklich nichts mehr vom Leben zu erwarten. Nein, das ist falsch formuliert. Ich habe nichts mehr von mir zu erwarten. Stück für Stück werfe ich mein Leben immer weiter weg. Nachdem ich das Bad verlassen habe, lese ich, dass unser Gesundheitsminister, der Mann, der sich mal eben eine Villa für mehrere Millionen Euro kaufen konnte, was scheinbar niemand komisch findet, entgegen seiner tollen Regeln im Oktober zu einem Unternehmerdinner gereist sein soll. Er wird sicher plausibel erklären können warum es, sollte er tatsächlich dort gewesen sein, in Ordnung war, dass er dort war. Für die Regierenden gelten halt andere Regeln. Geld regiert, Geld entscheidet.

Im Büro unterhalten wir uns kurz über dies und das und gehen davon aus, dass wir, bis die Maßnahme hier Mitte Mai beendet wird, keinen Urlaub bekommen, weil einer alleine nicht all die Teilnehmer alleine betreuen kann. Und da es für uns keine Ersatzleute gibt, kann uns nur noch das Ende des Lockdwons helfen. Daran glaube ich aber derzeit eher nicht.
Der Teilnehmer, dem der Strom angeschaltet wurde, ruft an und hat großen Redebedarf. Er hat Ideen, Pläne, erzählt aus seinem Leben und plant die Zukunft. Ich muss nur zuhören und ihn bestätigen. Eigentlich sollte ich für ihn Ideen entwickeln, aber das macht er alles selbst. Es ist grotesk, er scheint zu glauben, ich hätte das Leben im Griff und wüsste, wie man was im Leben erreichen kann. Lächerlich komme ich mir vor, doch das merkt er nicht. Über eine Stunde telefonieren wir, was einen neuen Rekord beim Telefoncoaching für mich bedeutet. Wobei ich ihn nicht gecoacht habe, aber egal. Ich versuche mich heute über nichts aufzuregen und habe fast durchgehend zu tun. Ich vergesse sogar zu essen und zu trinken bis mein Magen mich anknurrt. Am Nachmittag folgt ein etwas längeres Telefonat mit einer neuen Teilnehmerin. Auch sie ist erstaunlich redselig und offen. Auch sie hat ausreichend eigene Ideen, so dass ich eigentlich unnütz bin. Sie erhofft sich von der Maßnahme, dass ihr jemand hilft, sie unterstützt und da ist wenn es bei ihr hakt. Normalerweise müsste ich sie an meinen Kollegen verweisen, aber der hat eh schon mehr Teilnehmer als ich. Jetzt tut mir die Frau leid, dass sie ausgerechnet mich als Coach hat. Zumindest scheint sie noch nicht zu merken, wie beschränkt ich tatsächlich bin. Mir fällt ein, dass zwei Teilnehmer mit denen ich gestern telefonierte auch ziemlich offen waren. Einer klagte mir sein Leid, weil er wegen der Corona-Seuche Angst hat und fast nichts mehr macht, ein andere erzählte mir, dass er psychisch total am Ende ist, weil er keinen Job hat und nicht weiß, was er den ganzen tag machen soll. Vielleicht liegt es an den Umständen, dass die Leute einfach das Bedürfnis haben ihre Sorgen und Ängste und Pläne mitzuteilen. Vielleicht reicht es einfach, wenn ihnen einfach nur jemand zuhört. Es sind wahrlich keine guten Zeiten in denen wir leben, ohne wirklich zu leben.

Als der letzte Arbeitstag der Woche wenig später endet, frage ich mich, wieso ich mich so leicht von äußeren Umständen stressen lasse, mir selbst immer so einen Stress mache und einfach nicht loslassen kann. Ich bin Coach, verdammt nochmal, da kann ich nicht so ein lächerliches Bild abgeben. Außerdem bin ich Maßnahmeleiter, da wäre es angebracht souverän zu bleiben und nicht so emotional und genervt auf allen möglichen Scheiß zu reagieren. Was kommt das kommt und ich muss lernen gelassener zu werden. Als nächstes muss ich mir Schilder im Büro und auch zu Hause aufhängen. Auf denen soll nicht mehr stehen als „Atme“. Einfach atmen. So einfach und manchmal doch so schwer.

6 Kommentare

  1. Atmen – eine vorzügliche Idee, hilft auch lebenswichtige Funktionen zu erhalten. Eine gute Wahl.

  2. Es ist einfach blöd, wenn man so intelligent, so selbstkritisch oder so realistisch ist, dass man die eigenen Unzulänglichkeiten erkennt. Vermutlich geht es Hochstaplern und Selbstverliebten irgendwie besser. Trotzdem immer schön weiteratmen, ja…

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