Nachbarschaftsgeschichten

Der Nachbar gegenüber hat sich vor einigen Wochen, ich glaube, es war im April, ausgesperrt. Einen Schlüsseldienst wollte er nicht rufen. Stattdessen fummelte er an der Tür herum und später hörte man so etwas wie Bohrgeräusche. Ich habe das nicht weiter beachtet, jedenfalls muss er es irgendwann geschafft haben, weil Ruhe herrschte. Vor seiner Tür konnte man die Spuren seines Arbeitens deutlich sehen.

Ein paar Tage später war er bereit, diese Spuren zu beseitigen und stellte einen Eimer mit Wasser in den Flur. Dort steht er immer noch. Das Wasser ist mittlerweile größtenteils verdunstet. Eine Weile dachte ich, dass es nicht weiter geht, weil er krank geworden oder verstorben ist. Ist er aber nicht, denn ich traf ihn im Flur, fragte aber nicht, ob er seine Arbeit irgendwann zu Ende führen will oder ob das alles so bleiben soll, damit er nie vergisst, dass er sich mal ausgesperrt hat. Mal schauen, wie es sich entwickelt.

Die frühere Hausmeisterin, die ich nach der Arbeit im Flur getroffen habe, teilte mir mit, dass sie vor zwei Tagen neunzig geworden ist. Für mich war sie immer 86, seit sie das vor ein paar Jahren mal sagte. Nachdem ich ihr nachträglich gratuliert hatte und Agnes davon erzählte, meinte sie, dass ich der Frau unbedingt etwas schenken muss. Und deshalb stehe ich heute an ihrer Tür, um ihr einen kleinen Geldbaum zu überreichen. Sie freut sich und will mir direkt Sekt oder Cola schenken, was ich dankend ablehne. Ein paar Minuten später steht sie mit einem Marmorkuchen vor meiner Tür. Es wäre unmöglich, diesen abzulehnen, obwohl sie ja Geburtstag hatte und nicht ich. Bei der Gelegenheit erzählt sie mir, dass meine türkische Nachbarin für ein paar Wochen in der Türkei ist. Geflohen, weil sie wieder in die Psychiatrie sollte. Ich hoffe, dass sie noch lange meine Nachbarin bleibt, denn obwohl sie manchmal nachts oder früh morgens fernsieht und mich auf diese Weise weckt, ist sie okay. Sie stört sich nicht an dem Lärm, den ich mache, wenn ich Filme schaue und ich muss den Hausflur nicht wischen, weil irgendwer das für sie macht. Ich weiß zwar nicht wann und wie häufig, aber praktisch finde ich es schon. Weniger schön finde ich, dass die Nachbarin im Hausflur raucht. Abgesehen davon ist sie aber nah dran an der perfekten Nachbarin für mich. Deshalb hoffe ich, dass sie noch viele Jahre meine Nachbarin bleibt und es ist völlig okay, wenn sie sich noch öfter und möglichst lange in der Türkei versteckt.

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