Die Familie, in der niemand 80 wird

Heute wäre mein Vater 83 geworden, wenn er 2015 nicht an Krebs gestorben wäre. Ohne diese Dreckskrankheit wäre er vermutlich heute noch ziemlich fit und agil. So zumindest stelle ich mir das vor. Und während ich so darüber nachdenke, fällt mir ein, dass in unserer Familie die 80 eher nicht erreicht wird. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand älter als 80 wurde. Meine Oma, die tatsächlich 12 Kinder hatte, wurde, wenn ich mich richtig erinnere, 78 oder 79. Eine Tante müsste auch 79 geworden sein. Alle anderen sind nicht einmal bis Mitte 70 gekommen. Die Haltbarkeit unserer Familienmitglieder war und ist also nicht wirklich überzeugend. Was die Todesursachen und Krankheiten angeht, sind wir auch sehr angepasst. Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall. Manchmal auch in Kombination. Meine größte Angst war und ist, wenn ich mich nicht irre, Krebs. Stelle ich mir furchtbar vor. War es auch bei meinem Vater. Braucht kein Mensch. Kann eigentlich entsorgt werden diese Krankheit. Aber dann gäbe es vermutlich noch mehr Menschen und das ist auch nicht gesund. Nicht nur aus Platzgründen, auch für die Rentenkasse. Aber ich schweife ab. Weiß auch gar nicht genau, wieso ich jetzt so viel darüber nachdenke. Natürlich ist es der Geburtstag. Vielleicht auch wegen des trüben Wetters. Sicher auch, weil ich grundsätzlich nicht mit der eigenen begrenzten Haltbarkeit klarkomme. Oder weil ich manchmal irgendeinem Verwandten etwas erzählen möchte, aber keiner mehr da ist. Vielleicht auch, weil ich Dinge fragen will, die ich früher nie gefragt oder längst wieder vergessen habe. Aber das geht ja sicher nicht nur mir so und bringt jetzt auch nichts mehr. Noch ein letzter Blick in die beiden Familienbücher. Das meiner Oma ist voll, das meiner Eltern sieht nicht nur aus wie neu, es steht auch fast nichts drin. In ein paar Jahren endet das Kapitel, die Bücher werden entsorgt und die Erinnerungen an diesen Familienzweig werden verblassen. Und dann ist es irgendwann so, als hätte es uns nie gegeben. So ist das Leben. Leben entsteht, Leben vergeht. Zurück bleiben die anderen. Für eine Weile. Dann sind auch sie Geschichte.

6 Kommentare

  1. Same here.
    Ich wäre der erste männliche Nachfahre meiner Linie, der das 73. Lebensjahr überschritte.
    Heißt: Ich zünde statistisch bald „mein letztes Viertel“.

    Was irgendwie auch cool ist:
    Mögliche Konsequenzen eigenen Tuns (oder Unterlassens) birgen hinsichtlich ihrer Sanktionsschärfe immer weniger glaubhaften Schrecken. Für mich zumindest.

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