Wenn der Nachbar abends klingelt

Es ist Samstag, kurz nach 21.00 Uhr, als jemand bei mir anklingelt. Aus ungeklärten Gründen gehe ich davon aus, dass es mein Nachbar ist, was sich direkt nachdem ich die Tür geöffnet habe bestätigt. Kaum fragt er mich, wieder mir geht, erkenne ich, dass er dicht ist. Nicht vom Alkohol, sondern eher von irgendeinem Kraut zum Rauchen. Zumindest kommt es mir so vor. Nachdem er weiß, dass es mir gutgeht, fragt er, was das für ein Lärm im Haus ist. Ich erkläre ihm, dass unter mir ein neuer Mieter einzieht und dieser angekündigt hat, dass es etwas lau werden kann. Der Nachbar stellt fest, dass ich gut informiert bin und ich erkläre ihm, dass der neue Mieter einen Zettel in den Hausflur gehängt hat und auf möglichen Lärm hingewiesen hat. Ich biete meinen Nachbarn an sich zu beschweren, was aber wohl nicht sein Plan ist. Er sagt etwas, dass ich nicht verstehe. Dennoch tue ich so als hätte ich es verstanden, was aber offensichtlich zu nichts führt, weshalb ich den Nachbarn bitte es zu wiederholen. Auch dieses Mal verstehe ich nichts, was für einen kurzen Moment des verwirrten Schweigens sorgt. Dann erklärt mir mein Nachbar, dass ich ihn hinweisen soll, wenn er zu laut ist, weil er trinkt und raucht und dann nicht mehr wirklich weiß, wie spät es ist. Ich weise darauf hin, dass mir das einleuchtet, weil er offensichtlich keine gewöhnlichen Zigaretten raucht. Nun klatschen wir brüderlich, feierlich ab, was scheinbar unvermeidbar war. Ich wundere mich über mich selbst, dann höre ich aber auf mich zu wundern, weil ich davon ausgehe, dass man in der Situation nichts anderes tun konnte als abzuklatschen. Spontan denke ich, dass es nicht den Corona-Regeln entspricht, was wir getan haben und ich mir auf jeden Fall gleich die Hände waschen muss. Plötzlich verspüre ich das Bedürfnis dem Nachbarn, der mir irgendwie leid tut, weil seine einzige Freude der Rausch zu sein scheint, zu sagen, dass es mir egal ist, wenn er am Wochenende feiert, aber in der Woche so gegen 22.00 Uhr meine Ruhe brauche und bitte ihn daran zu denken. Er sagt, dass er leider oft zu dicht ist und die Zeit vergisst, daher soll ich ihm in so einem Fall bitte kurz Bescheid sagen, dass ich schlafen will. Wo wir das hier so besprechen, scheint es mir logisch, dass es darauf hinauslaufen wird, dass ich regelmäßig in meinem Pyjama zur Schlafenszeit durch den Hausflur irren werde, um für Ruhe zu sorgen. Irgendwie stelle ich mir das uncool vor. Cooler wäre es, wenn ich mich im Pyjama zu einer attraktiven Nachbarin schleichen würde, um mich mit ihr zu vergnügen. Andererseits kann es nicht wirklich cool sein, wenn ein erwachsener Mann im Pyjama durch Hausflure irrt. Was für eine groteske Vorstellung. Spontan bietet mir der Nachbar an, mir irgendwas von dem Zeug, das er zu sich nimmt zu geben, was ich ordnungsgemäß ablehne, weil ich dafür keine Verwendung habe. Nun möchte er noch wissen, wo ich schlafe. Wahrheitsgemäß erzähle ich ihm, dass mein Schlafzimmer neben seinem Wohnzimmer liegt und ich deshalb den Lärm sehr deutlich hören kann. Danach sind wir wohl durch mit unserem Gespräch. Ich denke, dass ich mich während des Gesprächs durchgehend verständnisvoll sympathisch präsentiert habe, weiß aber nicht was ich davon halten soll. Weil die ganze Situation durchaus ein wenig merkwürdig auf mich wirkt, passt es irgendwie, dass der Nachbar mir nun die Hand geben will. Zumindest glaube ich das, weil mit dieser Geste das Gespräch offiziell beendet werden kann. Da ich verwirrt bin, gebe ich ihm die linke Hand, die er wenig später in seinen Händen hält. Möglicherweise findet hier eine Veränderung statt, die unser Leben nachhaltig verändern wird. Im Gegensatz zu mir wird er sich morgen vermutlich nicht mehr an all das erinnern. Zum Abschied sagt er, dass er mein Herz küsst, was ich sehr merkwürdig finde, weshalb mir dazu keine passende Antwort einfällt. Stattdessen stelle ich mir vor, dass er meinen Brustkorb öffnet und mein Herz küsst bevor es zu schlagen aufhört. Das erscheint mir unrealistisch, weshalb ich mich frage, ob das etwas Landestypisches ist, was ich nicht verstehe, weil ich so vieles nicht verstehe. Wenige Augenblicke später bin ich zurück in meiner Wohnung, schaue weiter das Beste kommt noch und höre meine Nachbarn, wie sie im Rausch weiterleben. Irgendwann klingt es als wären sie umgefallen und es wird still. Den Gedanken, dass die tatsächlich umgefallen sind, finde ich seltsamerweise sympathisch und stelle mir vor, wie sie im Wohnzimmer liegen und ihren Rausch ausschlafen. Da ich die beiden wenig später wieder höre, schlafen sie offensichtlich nicht. Was ich von all dem halten soll, kann ich noch nicht sagen, stelle aber fest, dass es zu den aufregendsten Erlebnissen dieses Jahres gehört. Ich finde, das sagt einiges über mein Leben und mich aus und ich weiß nicht einmal, ob mein Leben ohne die Corona-Seuche tatsächlich aufregender wäre, was ich ziemlich enttäuschend finde. Möglicherweise bin ich der langweiligste Mensch auf diesem Planeten und irgendwie ist mir das nicht Recht.

Als ich gegen 05.30 Uhr wach werde und realisiere, dass die Nachbarn aufgeregt miteinander kommunizieren ist vermutlich alles so, wie es sein soll. Eine Weile denke ich noch über unsere Zukunft nach, stelle mir vor, dass ich nachts noch häufig von den beiden geweckt werde und frage mich, was für aufregende Erlebnisse ich mit meinen Nachbarn noch erlebe. Dann stecke ich die Ohrstöpsel in meine Ohren und schlafe friedlich ein.

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