Eine ganz normale Arbeitswoche im Oktober 2022

Meine Arbeitswoche beginnt wie in alten Zeiten, denn ich bin der einzige Mitarbeiter vor Ort, weil bei Jörg am Freitag ein Auge irgendwie kaputt gegangen ist. Darum musste er Freitag recht früh zum Augenarzt und heute wird das Auge gründlich untersucht, weshalb er nicht im Büro sein kann. Ich bin gespannt, wie es mit ihm weitergeht. Zu Besuch ist am Vormittag Teilnehmerin 17, die ich bisher noch nicht kannte und die ich erstmal ein wenig ausfrage. Theoretisch müsste sie einen Job finden können, aber Praxis und Theorie passen nicht immer zusammen. Teilnehmer 3 hat Termine und ich bringe es einfach nicht über das Herz, ihm mitzuteilen, dass er den Termin morgen oder Freitag nachholen muss. Ich weiß auch gar nicht, ob er es verkraften würde. Vielleicht spreche ich es am Donnerstag an. Vielleicht auch nicht. Teilnehmer 2 fehlt schon seit Wochen. Vielleicht leidet er an einem Gendefekt. Wahrscheinlicher ist aber, dass er einfach keine Lust auf den Scheiß hier hat. Am Nachmittag hat Teilnehmerin 6 ihren letzten Termin bei uns und uns zum Abschied Pralinen mitgebracht. Teilnehmer 5 bringt mir eine AU-Bescheinigung für den Rest der Woche und Teilnehmer 4, der sich gestern eine Abmahnung verdient hat, verzichtet auf einen Besuch und macht stattdessen vermutlich irgendwas, was ihm mehr Freude bereitet. Teilnehmer 10 ist der letzte Besucher des Tages. Das macht 3 von 7. Eine fantastische Besucherquote. Mal schauen, wer uns morgen alles nicht besucht.

Am Mittwoch ist es ziemlich frisch und Jörg zurück im Büro, was ich irgendwie unnötig finde, da kaum noch Teilnehmer zu uns kommen. Teilnehmerin 14 ist noch im Urlaub in dieser Woche, Teilnehmerin 12, mit der ich noch gar nicht wirklich sprechen konnte, weil Jörg sie immer sofort separiert, meldet sich krank und Teilnehmerin 13, ein ebenfalls hoffnungsloser Fall, verschiebt ihren Termin auf morgen. Teilnehmer 7, ein junger Mann Anfang 20, noch auf Bewährung, verzichtet auch auf seinen Besuch. Ich weiß nicht, ob seine Bewährungshelferin das gut finden wird.
Jörg ist, im Gegensatz zu mir, bei neuen Teilnehmern sehr eifrig. Er redet viel, plant, zeichnet und arbeitet mit der “5-Traumberufe-Methode”. Häufig führt das zu Frust bei ihm, weil das irgendwie nicht den gewünschten Erfolg bringt und die Teilnehmer auch immer wieder ihre Meinung ändern. Seine Erwartungshaltung ist vermutlich zu hoch für unsere Kundschaft. Mich fragt er oft, was ich denn mit den Leuten gemacht habe, ob ich schon einen Plan habe und wohin es gehen soll. Ich verweise dann meistens darauf, dass ich die neuen Leute in der Regel erst zwei bis drei Wochen beobachte, um mir ein Bild zu machen. Meist weiß ich dann, ob Hoffnung besteht, oder ob jemand einfach nur drei Monate zu uns kommen wird, wir aber nichts erreichen können. Ich gebe zu, dass ich da nicht immer mit richtig liege, aber dieser ganze anfängliche Eifer ist mir zu aufwändig. Auch relativieren sich die fantastischen Geschichten der Leute meist schnell und man erkennt, dass man eine Art Luftloch vor sich hat. Da Jörg heute leicht verzweifelt und frustriert ist, sage ich ihm, dass er sich einfach mal die Lebensläufe unserer Teilnehmenden anschauen soll, dann stellt sich schnell heraus, dass die Leute viel Versprechen, aber wenig halten (können). Er soll das hier als eine Art Lazarett betrachten. Bei allen hoffnungslosen Fällen malen wir einfach ein X auf die Stirn. Mit denen wird das in der Regel nichts mehr. Auch das ist nicht in Stein gemeißelt, macht es aber einfacher und minimiert die Gefahr, dass man enttäuscht wird. Im Moment tragen mindestens 13 von 19 Teilnehmenden ein solches X auf ihrer Stirn. Und das ist eine großzügige Auslegung, denn vermutlich sollte man eher 17 Leute direkt abschreiben, aber wir sind Coaches und resignieren nie. Manchmal können wir sogar bei dem einen oder anderen, der auch ein Lebewesen ohne Penis sein kann, das X von der Stirn putzen. Heute Morgen jedenfalls macht das Lazarett der hoffnungslosen Fälle seinem Namen alle Ehre.
Teilnehmer 16 ruft an. Er hat einen Brief von uns bekommen und fragt, ob er einen Termin hat. Der Brief war eine erste Abmahnung und ich erkläre ihm, dass er jede Woche zwei Termine hier hat. Er ist ein kräftiger Mann mit schlechten Deutschkenntnissen, der eine Art Komplettbetreuung braucht und nichts alleine machen kann, was den Bewerbungsvorgang betrifft. Er will auf jeden Fall am Nachmittag zu uns kommen. Ich hoffe, dass er weiß, wen er angerufen hat und wohin er kommen muss. Da er pünktlich zur vereinbarten Zeit erscheint, wissen wir, dass er alles im Griff hat. Mehr können wir fürs Erste wirklich nicht verlangen. Teilnehmer 15 hat heute einen guten Tag, hört auf mich und geht Morgen zu einem Vorstellungsgespräch. Teilnehmerin 18 ruft an und bestätigt, dass sie gleich zum Erstgespräch erscheint. Kurz vor Ende des Tages läuft es fast schon beängstigend gut. Zum Glück ruft Teilnehmerin 18 wenig später erneut an, um den Termin abzusagen, weil sie mit ihrer Tochter ins Krankenhaus muss. Jetzt ist alles wieder im Fluss und die Euphorie, die uns sanft zu umschmeicheln drohte, zieht sich dezent zurück.

Am Donnerstag besucht uns Teilnehmerin 17. Während ich sie reden höre, erinnere ich mich, dass sie vor zwei Jahren schon mal bei uns war. Es sind die gleichen ”Ausreden” und “Erklärungen”, die sie damals schon vorbrachte, die sie auch heute zum Besten gibt. Man kann ihr das auch gar nicht übel nehmen, weil sie das sicher alles glaubt, was sie da erzählt. So kann das vermutlich nichts werden, aber das ist okay, denn Menschen sind, wie sie sind. Teilnehmerin 11 kommt zu uns, berichtet, dass sie Kopfschmerzen und ihre Tochter Corona hat. Ich schicke sie weg und sage, sie soll sich testen lassen, weil ich das machen darf, sobald Corona im Spiel ist. Ist zwar lächerlich, aber mir ist heute danach, mich so zu verhalten, wie unser Gesundheitsminister es als vorbildlich bezeichnen würde. Teilnehmerin 13 verschickt, nachdem sie mittlerweile drei Monate bei uns ist und uns nächste Woche verlassen wird, endlich die ersten Bewerbungen. Ich bin so gerührt, dass mir die Worte fehlen. Kurz bevor sie uns für heute verlässt, sagt sie, dass Jörg und ich wie Tag und Nacht sind. Ich bin dabei der Tag. Ich bin außerdem leise und er ist laut. Er ein Löwe, ich ein Tiger. Das muss ich erstmal verdauen und überlegen, was ich davon halten soll. Der leise Tiger schleicht durch die Nacht, wer hätte das gedacht? Teilnehmerin 19 fehlt weiterhin unentschuldigt, obwohl sie sich diese Woche mit uns über ihre Situation unterhalten wollte. Teilnehmer 6, der Teilnehmerin 6 ersetzt, ist innerhalb dieses Jahres zum dritten Mal bei uns. Ob wir ihm dieses Mal helfen können oder ihn erneut rauswerfen müssen, werden wir sicher bald erfahren. Auch Teilnehmerin 18 erscheint heute und hat ihre kleine Tochter dabei. Die Tochter ist voll putzig und bringt etwas Farbe in die triste Welt der Arbeitslosen und der verwirrten Jobcoaches. Teilnehmer 3 bleibt auch heute zu Hause, weshalb ich ihm eine Mail schreibe und vorschlage, dass er morgen zu uns kommt. Wird er es tun oder sehen wir ihn nie wieder? Am Nachmittag besucht uns niemand. Vermutlich wäre es sinnvoll, wenn uns das bedingungslose Grundeinkommen endlich von unseren Qualen erlöst. Das hier hat einfach keine Zukunft mehr, auch wenn uns heute vier Leute besucht haben. Vier von Acht, fast hätten wir gelacht.

Der Freitag startet ergiebig. Teilnehmerin 11 teilt uns telefonisch mit, dass sie keinen Corona-Test gemacht hat, aber deutliche Symptome dieser Krankheit, die unser aller Leben verändert hat, spürt. Sie fragt, ob sie zu uns kommen soll, was ich natürlich ablehne. Stattdessen weise ich sie darauf hin, dass wir eine Bestätigung vom Arzt benötigen. Es klingt nicht so, als wäre ein Arztbesuch eine Option für sie. Egal, Corona entschuldigt alles und ist für alles eine prima Erklärung. Soll sie doch machen, was sie will, Hauptsache, sie bleibt uns fern. Die Teilnehmer 7, 3 und 2 bleiben auch fern, dennoch habe ich sie nicht gern. Der Mann von Teilnehmerin 19 besucht uns und schildert die Probleme seiner Frau. Ich verspreche ihm, dass ich mich kümmern und versuchen werde, dass sie aus der Maßnahme genommen wird. Es gibt Situationen, da muss man klug und weise handeln. Und derartiges Handeln zeichnet mich seit Jahren aus und ist Teil des Geheimnisses meines immensen Erfolgs, sowohl beruflich als auch privat. Am Nachmittag wird es dann fast hektisch, denn die Teilnehmer 6, 10 und 15 nehmen ihre Termine wahr und ich bin fast schon überwältigt von der Situation, die an bessere Zeiten erinnert. Teilnehmer 15 hatte gestern ein Vorstellungsgespräch in einem Restaurant und man hätte ihn auch eingestellt, wenn er sich gegen Corona impfen lässt, weil er sich dann nicht bei den Gästen anstecken kann und diese auch selbst nicht ansteckt. Es gibt immer noch Beschränkte, die das tatsächlich glauben und so argumentieren. Da der Teilnehmer, der sich einmal mit dem guten Stoff von Johnson & Johnson hat impfen lassen, weitere Impfungen ablehnt, hat er das Jobangebot natürlich nicht angenommen. Jörg hat dafür kein Verständnis und sagt, dass es halt so ist und findet es normal, dass man sich impfen lassen muss, um einen Job zu bekommen. Ich sage ihm, dass das kranker Schwachsinn ist und ich absolut nachvollziehen kann, dass der Teilnehmer abgesagt hat. Das nimmt Jörg schon fast persönlich, weshalb ich ihm sage, dass ich, wenn das überall gefordert würde, auch arbeitslos wäre. Da das keine Basis für eine Diskussion ist, verlässt Jörg daraufhin mein Büro, was vermutlich sehr vernünftig ist. In dem Punkt werden wir wohl nie einer Meinung sein und Jörg erkennt in mir sicher den bornierten Jobcoach, den man als Querdenker bezeichnen kann, vielleicht sogar muss, und mit dem man einfach kein vernünftiges Gespräch über dieses für das Überleben der Menschheit so wichtige Thema führen kann. Menschen wie mich sollte man besser Zwangsimpfen, Zwangskastrieren und abschließend mit Hilfe einer Lobotomie wieder auf Kurs bringen. So könnte man zur Tagesordnung übergehen und alles wäre endlich wieder im Fluss.

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4 Kommentare

  1. Da wird mir allein vom Lesen schwindlig! Das ist ja frustran, alles! Ich stimme für bedingungsloses Grundeinkommen mit täglichen Geschenken für Sie in riesige Schleifen gehüllt. Gern geschehen.😊

  2. Ich finde es erstaunlich, wieviele Leute sich so kurz vor dem Tod noch impfen lassen…

    Wenn mein Job weg ist, kann ich vielleicht einen neuen bekommen. Mit meiner Gesundheit funktioniert das nicht.

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