7 am 7ten – 02

Hier ist der zweite Teil der 7 am 7ten Übung gegen Langeweile und Wortfindungsstörungen. Dieses Mal gibt es nicht nur die Geschichte von mir, sondern auch von anderen, die eine Schwäche für die Zahl 7 haben und gerne Geschichten schreiben. Ob das Zukunft hat, weiß ich zwar noch immer nicht, wünsche aber viel Spaß mit den Geschichten.

Die 7 Wörter lauten. Luftschiff – Brennbar – Checkpoint – Verwirrend – Belastend – Durcheinander – Eminent

Als Kind fand ich es ziemlich verwirrend, dass Luftschiffe brennbar sind. Belastend fand ich es immer, wenn ein Luftschiff in Flammen aufging. Oft stellte ich erst im Nachhinein fest, dass ich einen Film und keine Doku geschaut habe und niemandem etwas passiert ist. Das war eminent wichtig für meine weitere Entwicklung und hat das Durcheinander in meinem Kopf wieder etwas beruhigt. Als Erwachsener war ich mal am Checkpoint Charlie, was ich aber weniger verwirrend fand als brennende Luftschiffe.


Hier nun die lange Geschichte von Martin Schäfer:

Am späten Abend des 28. Februar 1967 lag Günther Niemeyer in seinem kalten Bett und dachte auf einer Idee herum, die ihn schon seit längerer Zeit beschäftigte. Er wollte auswandern- in die DDR. Aber er war sich noch nicht ganz sicher- das rasend schnell drehende Gedankenkarussell in seinem Kopf war äußerst verwirrend. Kampf oder Flucht? Selbstaufgabe oder Lebensbejahung? Optimismus oder Pessimismus? Ein völliges Gefühlschaos.
Niemeyer, Jahrgang 1927, war ein alleinstehender, seit zehn Monaten arbeitsloser Bergarbeiter, der in einer kleinen Mansardenwohnung in Duisburg lebte. Die Zeche, auf der er gearbeitet hatte, wurde geschlossen. “Nicht mehr rentabel”, wie die Geschäftsleitung damals durch ihren Sprecher verlautbaren ließ- der Vorstand selbst ließ sich nicht in der Zeche blicken, und die Aktionäre versteckten sich in der Anonymität.
Kurz vor dem 1. Mai, dem Tag der Arbeit. Ihm kam das vor wie blanker Hohn. Als hätten sie absichtlich diesen Termin gewählt.
Die Situation, in welcher er sich nun befand, war völlig neu. Und sie wirkte ungeheuerlich belastend auf ihn. Noch nie in seinem ganzen Leben war er ohne Arbeit gewesen, für ihn gab es, weiß Gott, immer genug zu tun. Sein Glück war, daß er nicht ein paar Jahre früher geboren wurde, sonst hätte man ihn sehr wahrscheinlich im Krieg als Kanonenfutter an der Front verheizt. Da er bis Ende des Krieges noch keine achtzehn Jahre alt war, wurde er “nur” als Flakhelfer eingezogen, mußte mitansehen, wie Duisburg von den alliierten Bombergeschwadern in Schutt und Asche gelegt wurde.
Nur durch Zufall überlebten seine Mutter und seine zwei kleinen Schwestern die Bombennächte, während sein Vater, Maschinist auf einem U-Boot, irgendwo im Nordatlantik als vermißt gemeldet wurde.
Nach dem Kriege wurde er sehr bald wieder zum Dienst eingezogen, diesmal von den englischen Besatzern: Entschärfen von Blindgängern.
Wieder erwies sich seine Jugend als Glück, denn weil er noch so jung war, durfte er Brandbomben entschärfen. Diese Tätigkeit war weitaus ungefährlicher das Entschärfen der Sprengbomben, wobei einige seiner etwas älteren Freunde ums Leben kamen.
Bei dieser Tätigkeit freundete er sich etwas mit einem englischen Soldaten an, der ihm hin und wieder etwas Schokolade und Weißbrot zusteckte, und ihm die wichtigsten englischen Redewendungen beibrachte. Das machte ihm England immer sympathischer, er nahm sich vor, irgendwann einmal dieses Land zu besuchen- konnte er doch jetzt die Sprache! Wenigstens ein bißchen.
Noch im Gründungsjahr der Bundesrepublik verdingte er sich als Bergmann- war es doch eine gute Gelegenheit, ein sicheres Auskommen zu haben für einen, der keinen Beruf gelernt hatte. Der Wiederaufbau Deutschlands verschlang Unmengen an Kohle, für welche das Ruhrgebiet der einzige Lieferant war, denn alle anderen deutschen Reviere lagen jetzt hinter dem eisernen Vorhang.
Wegen der langen Schichten unter Tage war an die Gründung einer Familie nicht zu denken. Dafür waren schlichtweg keine Zeit und keine Lebensenergie mehr übrig.
Die Jahre vergingen, der Wiederaufbau war so gut wie beendet, die Wirtschaftswunderzeit lange vorbei- und der Niedergang des Ruhrgebiets begann. Kohle war nicht mehr so eminent wichtig, wie die Jahre zuvor. Und es war preisgünstiger, sie zu importieren. Die Zeche, auf der unser Protagonist zufrieden und voller Elan malocht hatte, war eine der ersten, die geschlossen wurde. Die meisten Bergwerke wurden zwar noch weiter betrieben, doch jeder Kumpel konnte spüren, daß der unaufhaltsame Niedergang des deutschen Bergbaus begonnen hatte.
So also lag unser Protagonist schlaflos im Bett, die Kälte dieser spätwinterlichen Nacht kroch ihm ohne Gnade in alle Glieder. Den ganzen Winter über war es kalt in der Wohnung gewesen. Die in den Sechzigerjahren noch äußerst geringe Arbeitslosenunterstützung reichte seit zehn Monaten immer nur bis zum 15. oder 16., bei äußerster Sparsamkeit auch mal bis zum 20. des Monats.
Zu Essen gab es schon seit geraumer Zeit nur dünn mit Quark bestrichenes Brot. Im Sommer war die Armut noch ganz gut zu ertragen, aber im Winter kein Material zum heizen zu besitzen- das war fürchterlich. “Verdammte Schweinerei”, brummte er vor sich hin, “Die Kohle, die ich jahrzehntelang unter Tage aus der Erde gekloppt habe, kann ich mir selbst nicht mehr leisten”.
Über die Wintermonate hatte er Müll aus den Tonnen hinter dem Haus geholt, um den einzigen Ofen in seiner Wohnung zu befeuern. Aber der Müll, auch wenn er viel Papier enthielt, war weitaus weniger brennbar, als man vermutet.
In diesen kalten Nächten malte er sich aus, wie es wäre, solch ein Kapitalist zu sein, wie er oft in Satirezeitschriften der Zwanzigerjahre karikiert wurde: Fett, pausbäckig, Anzug mit Weste, goldene Taschenuhr, Melone auf dem Kopf, großes Auto- und eine Zigarre, so groß wie ein Luftschiff, im Mundwinkel.
Am morgen des 1. März 1967, nach dieser wegen der unerträglichen Kälte durchwachten Nacht, beschloß er, auszuwandern, denn Umschulung zu einem anderen Beruf lehnte er ab. Er war Bergmann und wollte Bergmann bleiben. Schon oft hatte er in den letzten zehn Monaten über die Möglichkeit der Auswanderung nachgedacht. Zunächst zog es ihn nach England, weil er immer schon einmal dorthin wollte, in die Heimat des ihm nach dem Kriege so freundlich gesonnenen Soldaten. Und er konnte ja schon ein paar Brocken englisch!
Aber es war allgemein bekannt, daß der englische Bergbau sich ebenso auf dem absteigenden Ast befand, wie der Westdeutsche. Das war also auch keine Perspektive mehr.
“Wohin? Wohin? Wohin?…”, ging es ihm mantraartig durch den Kopf. Kurz vor vier Uhr kam ihm schlagartig die zündende Idee: “In die DDR! Ich mache rüber!”
Was sich die Leute über die DDR erzählten, und was darüber in den Zeitungen geschrieben wurde, war zwar alles andere als schmeichelhaft.
Es herrsche dort Knappheit an allen möglichen Dingen, sagten sie, alle Leute wollten von dort weg. Und viele Westdeutsche schickten Pakete mit Kaffee nach drüben.
“Pfff…was habe ich davon, wenn es zwar Kaffee zu kaufen gibt, ich aber keine Arbeit und somit kein Geld habe”, murmelte er.
In einigen Zeitungen von drüben, die manche seiner Kumpels -von wo auch immer- bekamen, war zu lesen, daß es dort gewaltige Braunkohlereviere gab, von der Lausitz, dann über die Grenze bis weit in die Tschechoslowakei. Dort wurde die Kohle für sämtliche RGW-Staaten abgebaut.
Bergarbeiter wurden dort nicht entlassen, sie wurden gebraucht. Und: In der DDR gab es ein Recht auf Arbeit. Man mußte nicht darum betteln, eingestellt zu werden! Sein Lieblingsautor Bertolt Brecht, dessen Gedicht “Fragen eines lesenden Arbeiters” er auswendig konnte wie ein Christ das Vaterunser, lebte schließlich auch bis zu seinem Tode dort.
Und so stand Niemeyer auf, seine neue Hoffnung ließ ihn die Müdigkeit vergessen. Plötzlich strotzte er vor Tatendrang wie schon lange nicht mehr. Ruckzuck waren ein paar Kleidungsstücke, Personalausweis und Rasierapparat in den Lederkoffer gepackt, der seit seiner bisher einzigen Reise (zur Kur an die Nordsee), auf dem Kleiderschrank lag und verstaubte. “Abhauen. Wann, wenn nicht jetzt?” sagte er zu sich selbst.
Dieser Tag war in der Tat genau der richtige für seine Flucht, denn es war der 1. des Monats, Auszahlung der Arbeitslosenunterstützung.
Das Geld würde für die Zugfahrt nach Berlin reichen, für etwas Proviant- jedoch nicht für eine Rückfahrkahrte. Aber was machte das schon, er wollte ja auch nicht mehr zurück!
Plötzlich erschien ihm alles ganz einfach und logisch, das Ziel war zum Greifen nah! Er nahm seinen Koffer und machte sich auf die Reise. Eine Reise, von der er wußte, es würde keine Wiederkehr geben. Er verschloß die Wohnung, steckte die Wohnungsschlüssel in einen an seinen Vermieter adressierten Briefumschlag, welcher seinerseits mit einem leisen “flapp” in dem Briefkasten verschwand, an dem er auf dem Weg zum Arbeitsamt vorbeikam. Noch nie wartete er so früh am Auszahlungsschalter wie an diesem Tag. Schließlich stand er auf dem Bahnsteig am Duisburger Hauptbahnhof- es sah, von außen betrachtet, genau so aus wie 1958, als er zu Kur nach St. Peter-Ording fuhr. Er war der gleiche, sein Koffer war der gleiche, der Bahnsteig war der gleiche. Anders als damals würde es jedoch keine Wiederkehr geben. Das war sicher.
Am Abend in Berlin angekommen, beschloß er, im mondänen Café Kranzler noch ein Eis zu essen. Zum Abschied von der BRD. Man konnte von hier aus schon die Baustelle des berliner Fernsehturmes sehen. Ursprünglich war geplant, zunächst direkt bei den Beamten am Grenzübergang Friedrichstraße vorstellig zu werden, um ihnen sein Vorhaben, in der DDR leben und arbeiten zu wollen, vorzutragen- jedoch war ihm dort zuviel Durcheinander, er wollte warten, bis es etwas ruhiger wurde.
Von außen durch die Scheiben in das von glitzernden Lampen hell und warm beleuchtete Kranzler schauend, fiel ihm auf, daß er dort drinnen sehr deplatziert wirken würde. Er, der Bergarbeiter aus dem Ruhrpott, mit seiner verschlissenen Jacke und einem etwas altmodischen Koffer, zwischen krawattierten, schnöselig wirkenden Männern in Begleitung ihrer eingebildeten, affektierten Frauen? Das paßte einfach nicht zusammen.
“Das hier ist nichts für mich”, seufzte er, wohl eine Spur zu laut, denn ein gerade vorübergehendes Paar schaute ihn etwas verdutzt an.
Und so marschierte er, der letzten Zweifel entledigt, festen Schrittes in Richtung Checkpoint Charlie.

Und nachfolgend noch die kurze Geschichte von ihm:

Die Gruppe von Reisenden wartete am Checkpoint darauf, das Luftschiff zu besteigen. Da erzählte einer von ihnen, daß das Gas, mit dem das Luftschiff gefüllt ist, brennbar sei. Diese Information wirkte auf die einen verwirrend, auf die anderen belastend. Es ist schließlich für die Sicherheit eminent wichtig, daß ein Luftschiff mit nicht brennbarem Gas gefüllt wird, was spätenstens seit dem Unglück des LZ 129 “Hindenburg” im Jahre 1937 jedem bekannt sein sollte. Die panische Flucht der Reisenden sorgte für einiges Durcheinander am Flughafen.

Hier die Geschichte von Nova:

Wir kannten uns erst kurz und hatten nicht viel Zeit miteinander verbracht, als wir uns wegen der Unruhen am Checkpoint trennen mussten. Die Momente waren intensiv und die Gefühle verwirrend, die knisternde Energie eminent. Doch ich ließ Dich gehen. Aus dem Luftschiff grüßtest Du mich ein letztes Mal. Ich hatte Angst. Das Material war höchst brennbar und es herrschte ein heilloses Durcheinander. Am Horizont verschwandest Du für immer. Die Situation war belastend und noch heute wiegt jeder Wimpernschlag jenes Abschiedes so schwer.

Zum Abschluss folgt die Geschichte von Petra:

Sie wartete nun schon lange am Checkpoint, um das Land zu verlassen.
Es wäre eminent wichtig, noch heute auszureisen. Ein Zurück in die Wohnung wäre zu riskant.
Über die Frage, wen sie um Unterschlupf bitten könnte, wollte sie nicht nachdenken, noch nicht, denn der Gedanke, dass diese Unterstützung auffiele und für einen geliebten Menschen zu Repressalien führte, war zu belastend.
Nur wenige Luftschiffe würden an diesem Tag noch starten.
Das Durcheinander in der Abfertigungshalle wurde zunehmend verwirrend und beängstigend. Die Nerven der Wartenden lagen blank, es wurde gedrängelt und gestritten. Es könnte zu Tumulten kommen.
Um sich zu beruhigen, ging sie in Gedanken den Inhalt ihres Koffers durch. Hatte sie an alles gedacht? Da fiel ihr Blick auf eine Informationstafel mit Sicherheitshinweisen.
Ist Haarspray im Handgepäck erlaubt, schoss es ihr durch den Kopf. Haarspray ist doch brennbar.
Sie durfte keinesfalls die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie musste ihren Platz in der Warteschlange aufgeben und das Haarspray in den Koffer packen.
Verärgert über ihre Unbedachtheit, aber auch glücklich, dass sie ihren Fehler noch rechtzeitig bemerkt hatte, suchte sie eine Damentoilette auf.

35 Kommentare

    • Nein, diese Geschichte ist nicht autobiografisch. Habe zum Teil Dinge, die ich von anderen hörte,
      verarbeitet (Mein Meister in dem Handwerksbetrieb, in dem ich Anfang der Neunziger meine Ausbildung absolvierte, war Jahrgang 1927, von ihm habe ich das mit dem Bombenentschärfen).
      Wollte ein wenig Deutsche Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts (bißchen mein Steckenpferd) beschreiben, und an die (wenigen) Menschen erinnern, welche von der BRD in die DDR gingen. Sind zum Teil auch recht prominente Menschen gewesen, z. B. Marion Michael, und Ronald M. Schernikau (das war der letzte in der DDR eingebürgerte Wessi vor der Wiedervereinigung)

        • Danke für das Kompliment! Nein, ich bin kein Historiker- bin gelernter Elektroniker, und beitreibe Geschichte nur als Hobby. Mein Interesse daran ist vermutlich auch durch meinen familiären Hintergrund begründet. Als Sudetendeutscher beschäftige ich mich seit einigen Jahren mit dem tragischen Schicksal meiner Landsleute, welches -wie ich finde- nicht immer korrekt dargestellt wird von offizieller Seite. Hierzu mußte ich mich sehr viel mit der Zwischenkriegszeit auseinandersetzen, und so kam eins zum anderen. Ist allerdings ein schwieriges Gebiet: Wer an der Wahrheit orientiert ist, bekommt heutzutage sehr, sehr schnell den Stempel “Geschichtsrevisionist” (oder Schlimmeres) aufgedrückt.
          Mein Text zu “7 am 7ten” spielt deshalb im Ruhrgebiet, da es die Heimat unseres geschätzten DrSchwein ist.

          • Das ist sehr spannend, schreibst Du irgendwo über Deine Recherche?

          • Nein, ich schreibe nichts darüber, und würde auch niemandem empfehlen, das zu tun. Wer an der Siegergeschichtsschreibung auch nur den leisesten Zweifel äußert, bekommt die eiserne Faust zu spüren- völlig gleich, wie gut dieser Zweifel begründet ist. Ich sehe, wie es anderen ergeht, und fürchte, diesem Druck nicht gewachsen zu sein. Aus diesem Grunde lese ich sehr viel, denke nach, und ziehe meine Schlüsse nur für mich selbst.

          • Wahre Worte. Verrückt, dass selbst die Wahrheit heutzutage diffamiert wird. Ich freue mich, dass Sie bei 7 am 7-ten mitmachen.

    • Ich wurde nicht verfolgt und musste nie fliehen, kann aber auf einige Reiseerlebnisse zurückblicken, so dass allenfalls Fragmente (überfüllte Hallen, schlechtes Benehmen deutscher Touristen) autobiografisch sind.

    • Das war spontan aus den Fingern gesaugt. Die Wortauswahl lässt ja wenig anderes zu, weil man das direkt mit der Hindenburg assoziiert. Der Kopf ist gedanklich vorbelastet. 😉

  1. Finde bemerkenswert, daß die meisten Geschichten, die von den Leser(innen) eingereicht wurden, von Flucht und/oder Abschied handeln…

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