Der ausgesetzte Hund

Manchmal tauchen sie aus heiterem Himmel aus der Versenkung auf, die erlebten Geschichten aus der Vergangenheit. Manchmal ist es als wären es nur Geschichten, manchmal bewegen sie mich oder bringen mich zum Nachdenken. Alles möglicherweise Puzzleteile, warum ich bin wie ich bin und vielleicht Gründe oder Ausreden, weil ich nicht mehr als das bin, was ich eben bin.

Wenn ich wüsste mit welchem Ford wir damals unterwegs waren, könnte ich mein Alter näher eingrenzen. So ist es schwer zu sagen, ob ich noch jünger oder schon älter als zehn war. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob meine Oma damals noch lebte. So fehlen die wichtigsten Details in welchem Jahr sich dieses Erlebnis abspielte. Ich weiß nur, dass ich mit meinem Vater im Auto fuhr und wir Dudu, den Hund meiner Oma, dabei hatten. Da ich nicht mitbekommen habe, wie es passierte, muss ich wohl vorne gesessen haben, was bedeuten würde, dass ich vermutlich älter als zehn war. Eindeutig zu viele Vermutungen. Jedenfalls fuhren wir, wie so oft, in Waltrop die Straße neben dem Kanal lang. Ich weiß nicht, ob es ein Geräusch gab, ob ich oder mein Vater irgendwas bemerkten, ich weiß nur noch, dass Dudu, der braune Dackel, hinter dem Sitz auf der Fahrerseite saß und sich übergeben hatte. Nicht schön, aber für mich in meiner kleinen Welt auch keine Katastrophe. Ich glaube, er hatte sogar auf eine Gummimatte gebrochen, weiß es aber nicht genau. Für meinen Vater war es allerdings eine furchtbare Katastrophe. Ob es wirklich das Erbrochene war, oder ob es vielleicht vorher einen Ehestreit gab, was nicht auszuschließen ist, was meinen Vater so wütend machte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er den armen Hund aus dem Auto warf, ich wohl protestierte, mich aber bedroht durch meinen Vater fühlte, und er mit mir davonfuhr. Ich weiß noch, wie ich auf Dudu zurückblickte, wie er scheinbar fragend mitten auf der Straße stand und hinter uns hersah. Ich glaubte, mein Vater würde zurückfahren, doch stattdessen fuhren wir zu meiner Mutter, die in Omas Wohnung wartete. Was genau sich dann abspielte weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob mein Vater nochmal zurückfuhr, um nach Dudu zu suchen. Ich bekam jedenfalls die Anweisung zu schweigen und folgende Geschichte sollte präsentiert werden. Dudu ist sicher in ein Auto gestiegen, weil er Autofahren liebte. Da wird ihn wohl jemand mitgenommen haben. Ich fand das unfassbar verlogen, verstand es auch nicht wirklich und spielte, vermutlich aus Angst, mit. Wir belogen meine beiden Onkel, die in Omas Wohnung wohnten und sicher auch meine Oma, sofern sie noch lebte. Es ist mir tatsächlich völlig entfallen, ob es sie damals noch gab. Diese verlogene Scheinheiligkeit war für mich falsch und unerträglich und am nächsten Tag, an einigen darauf folgenden Tagen ebenso, fuhr ich mit dem Fahrrad immer zu der Stelle an der wir Dudu ausgesetzt haben. Er war aber nie da. Und so konnte ich mir ab und zu vorstellen, dass er auf einem Hof in der Nähe lebte und es gut hatte. Manchmal stellte ich mir vor er käme irgendwann zurück. Oft aber auch, dass er tot sei und wir Schuld daran haben. Ich habe es nie begriffen, dass Menschen so etwas tun können und das meine Mutter auch noch mitspielte, aber auch das kann an der Bedrohung, die von meinem Vater über viele Jahre ausging, gelegen haben. Es gibt sicher weitere Details, die ich entweder vergessen oder verdrängt habe, aber die Grunderlebnisse tauchen immer mal wieder auf. Vielleicht hat dieses Ereignis Anteil daran, dass ich irgendwann ziemlich perfekt lügen konnte und es oft getan habe. Vielleicht hat es mein Urvertrauen zerstört. Vielleicht hat es mir meine Machtlosigkeit vor Augen geführt und mich zu einem wehrlosen Opfer, vielleicht sogar Feigling, gemacht. Denn ich hätte das nie durchgehen lassen dürfen, ich hätte meinen Vater verraten müssen. Aber ich hatte Angst, so wie ich mein ganzes Leben vor allem möglichen Angst hatte und noch immer habe. So kann man nicht ausschließen, dass meine Vergangenheit mich geformt hat, es kann aber auch sein, dass all das eine rein genetische Sache ist. Auch hier kann man nur vermuten, wissen weiß man es wohl nie.

Es gibt Tage, da will ich genau wissen, was sich damals abgespielt hat, alles bis ins kleinste Detail rekonstruieren, an anderen Tagen aber will ich keine weiteren Details, will nicht einmal überhaupt noch etwas davon wissen. Ich verstehe auch nicht wirklich, warum zu bestimmten Zeiten diese alten Geschichten überhaupt wieder auftauchen. Was wollen mir diese Rückblenden sagen und was kann ich daraus lernen?

7 Kommentare

  1. Dudu ist bestimmt gefunden und adoptiert worden…So wie unsere kleine große weiße Lady..Die wir aus dem Müll gefischt haben…

  2. Schlimmer Vater. Da solltest du dich über alles weitere wirklich nicht wundern. Die Ängste des kleinen Jungen übernehmen wahrscheinlich heute nach allzu oft das Kommando.

  3. Du bist ein feinfühliger, guter Mensch geworden. Dein Mitgefühl für Tiere ist auch geblieben. Es hat sicher etwas mit Dir gemacht, diese Kindheit zu durchleben. Aber es hat Dich nicht ebenso werden lassen. Darauf kannst Du stolz sein.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert